Kritische Theorie als Stille Post

Wolfgang Johann beleuchtet „Das Diktum Adornos“: Über die wechselhafte Rezeptionsgeschichte der vielleicht bedeutendsten Streitformel der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manch geflügeltes Wort ist nicht totzuzitieren. „Komm! ins Offene, Freund!“, hallte es wohlbekannt durch die Lyrik der 70er Jahre, prangt es heute noch keineswegs selten als Titelzeile oder Motto über Aufsätzen, Artikeln und Nachrufen verschiedenster Couleur. Hölderlin geht immer. Gleiches gilt unumwunden für Arthur Rimbauds Sentenz „Ich ist ein anderer“, das als tiefdunkle Chiffre, mit einhelligem Kopfnicken quittiert, jedwedes Podiumsgespräch oder Salongequassel intellektuell nobilitiert. Bonmots sind ihrem Wesen nach Kontextchamäleons, sie fügen sich nahtlos in akute Diskursformationen ein und behaupten dort wie allerorten ihr Recht.

Philosophie sei wesentlich nicht referierbar, lautet eine ebenfalls sich gewisser Popularität erfreuende Überzeugung Adornos, die im Oberseminar wahlweise als Totschlagargument oder esoterische Schlüsselstelle geführt wird. Bei aller autorintentionalen Mühe gerade dies nicht geschehen zu lassen, wurden aus dem verflochtenen Werk Adornos seit jeher eine Vielzahl von Textbausteinen herausgelöst, die isoliert rasch zu bloßen Parolen verkamen. Eine solche Sünde wider die Dialektik ist auch Adornos Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft, geschrieben 1949, erstveröffentlicht 1951, nicht erspart geblieben. Dessen Quintessenz „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ wird nicht nur aus ihrem argumentativen Kontext, sondern gar ihrem Satzgefüge extrahiert und kursiert seither – zumeist paraphrasiert – als geflügeltes Wort wie eine stille Post in den literaturtheoretischen Debatten der Bundesrepublik: Mit jeder Erwähnung widerfährt der Formulierung eine weitere Bedeutungsverschiebung. Ein in der bisherigen Diskussion vermeintlich unterbelichteter Aspekt wird entdeckt, ein neuer Schwerpunkt gesetzt. Der Halbsatz entfernt sich so weit von seiner ursprünglichen Zielrichtung, dass es kein Leichtes ist herauszufinden, wo und wann genau die Überlieferung eine Wendung genommen hat, die mit der einstigen Aussage gar nicht mehr viel gemein hat.

Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Johann hat dem Diktum Adornos – jenem „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ – nun seine Dissertationsschrift gewidmet. Bereits der Untertitel der Arbeit Adaptionen und Poetiken. Rekonstruktion einer Debatte vermag die vielschichtige Gemengelage aufzuzeigen, in der sich Adornos Äußerung historisch und kulturtheoretisch verorten lässt. Die bewegte, keinesfalls eindeutige Rezeptionsgeschichte des Diktums rechtfertigt das Unternehmen allemal.

Um die bestimmenden Schlagworte dieser Debatte zu benennen, sei die im Fokus stehende Formulierung an dieser Stelle in jenem Kontext angeführt, in dem Johann sie zum Abschluss eines close readings des Aufsatzes Kulturkritik und Gesellschaft anführt:

Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber; nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.

Die schiere Anzahl der über die Jahre entstandenen Kommentare zu diesem Passus – häufig auch in Unkenntnis des exakten Wortlauts der Passage – ist immens. Wolfgang Johanns Untersuchung konstatiert diesen Tatbestand und liefert im Gegenzug eine eindrückliche Chronologie der Debatte, die gleichermaßen akribisch wie übersichtlich gerät. Markante Positionen wie diejenige Karol Sauerlands werden eingehender betrachtet, Wendepunkte des Diskussionsverlaufs wie ein Aufsatz Detlev Claussens aus den 90er Jahren werden gebührend als solche markiert. Zudem versäumt Johann es nicht, Bezüge zu weiteren Texten Adornos aufzuzeigen; prominent geraten die Parallelen zur Dialektik der Aufklärung sowie zur Metaphysik-Vorlesung. Hierbei stellt Johann dann auch richtig, dass Adorno seine These zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Opus magnum Negative Dialektik keineswegs widerruft, sondern im Gegenteil zu dieser verbreiteten Annahme weiter kontextualisiert.

Dass die Zielrichtung des Diktums auch heute noch der Klärung bedarf, schreibt Johann der seit den späten 1950er Jahren zu beobachtenden Selbstperpetuierung der Äußerung Adornos zu, die grundsätzlich vor allem zwei Artikel Hans Magnus Enzensbergers losgetreten zu haben scheinen. Enzensberger kommt es zu, die Rede vom Diktum in Umlauf gebracht zu haben, indem er es als Problemstellung von Gedichten über, anstatt solcher nach Auschwitz auffasst – wodurch sich das von Adorno als dialektisch aufgefasste Verhältnis von Kultur und Barbarei auflöst. Enzensberger greift die Aporie, die das Gedicht nach 1945 dermaßen in Zweifel zieht und die er seiner Überzeugung vom Gedicht als Widerrede gemäß nicht stehen lassen kann, an, indem er ein vom Gedicht vor 1945 in seiner Sprechweise gänzlich verschiedenes, maximal reflektiertes Gedicht fordert. In der Beurteilung von 1945 als Zäsur berühren sich die Positionen Adornos und Enzensbergers immerhin, hatte doch letzterer in der von ihm herausgegebenen Anthologie Das Museum der modernen Poesie mit dem Jahr 1945 die Epoche eben jener modernen Poesie enden lassen.

Nicht von ungefähr besagt nun eine der Arbeitshypothesen Johanns, dass es sich bei Adornos Äußerung aus dem Kulturkritik und Gesellschaft-Aufsatz um einen „(vorläufig) letzte[n] Kommentar einer Entwicklung“ handelt, „die sich in der Moderne mit dem Rückfall in die Barbarei beschäftigte“, wobei „die Debatte um diese Äußerung im Kulturkritik und Gesellschaft-Aufsatz eine der ersten Debatten“ sei, „die sich mit der Moderne als eine Krisenzeit nach Auschwitz befasst.“ Für seinen Moderne-Begriff greift Johann bis in die Aufklärung, vor allem aber auf Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen zurück. Ein enges Verhältnis von Kultur und Barbarei findet sich tatsächlich bei Schiller schon ausgedrückt, die Parallele ist durchaus zulässig und lohnend – die Linie, die damit gezogen wird, gerät allerdings etwas zu lang, vor allem, da andere wichtige Aspekte zu kurz kommen. So wird die Frage, warum Adornos Diktum eben auf das Gedicht, also die Lyrik, wie man annehmen darf und auch Adornos spätere Reaktionen belegen mögen, im Speziellen und nicht auf die Literatur als großes Ganzes abzielt, in Das Diktum Adornos nicht, oder zumindest nur unbefriedigend beantwortet. Neben den zwar kurzen, aber doch treffenden Analysen der Nachkriegsgesellschaft und ihres Kulturbetriebs hätte gerade das Verhältnis dieses Betriebs sowie auch der Gesellschaft zur Lyrik nähergehender betrachtet werden können. Die von Johann genannten Exempel wie Werner Bergengruens Lyrikband Die heile Welt oder die Poetik des Naturlyrikers Wilhelm Lehmann, die abschreckenden Beispiele, die jede Geschichte der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 zu nennen weiß, wirken wie Einzelfälle. Eine komplexere Analyse des epigonalen Rilke-Sounds der unmittelbaren Nachkriegsjahre dürfte einiges über die grundlegende Geschichtsvergessenheit des Gedichts jener Jahre verraten. Der im schlimmsten Sinn aufschlussreichen, weil fassungslos machenden Betrachtung des Karnevalslieds „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ hätte als Komplement ein Einblick in die Kahlschlaglyrik, die vielen Diskussionen der Zeit, die um ein angemessenes lyrisches Sprechen nach der Katastrophe ringen (womit freilich nicht immer Auschwitz, der Holocaust, die Shoah gemeint ist), zur Seite gestellt werden können.

Es darf denn auch bezweifelt werden, ob Paul Celan, dem in vielen Debattenbeiträgen und auch in Johanns Darlegungen zurecht eine gewichtige Rolle beikommt, tatsächlich durch den Voraussetzungsreichtum seines Dichtens als Gegenspieler der Kulturindustrie prädestiniert ist, wie Johann behaupten möchte. Das Verhältnis ist komplexer, diente Celan (wider Willen) doch nicht wenigen Impresarios und Kulturwürdenträgern mit finsterer Vergangenheit als Zierde – man schmückte sich mit dem jüdischen Dichter und Preisträger Celan und wähnte die jüngere Geschichte damit als vergeben und vergessen. Dass sie das weder war noch ist, mag sich an einem besonders perfiden Kommentar des einflussreichen Literaturkritikers und ehemaligen SS-Mannes Hans Egon Holthusen illustrieren (der in Johanns Abhandlung fehlt). Holthusen verkehrte 1965 im Rahmen einer Rezension zu Neuen deutschen Erzählgedichten in der Süddeutschen Zeitung – nachdem er Jahre zuvor bereits Paul Celan in einer Besprechung übel und maximal unsensibel mitgespielt hatte – das Diktum zum Verdikt: Vor einigen Jahren habe ein intelligenter Mann eine These in die Welt gesetzt, die „seither von tausend weniger intelligenten Leuten nachgeplappert wird“. Die These, so Holthusen, besage, „daß es ‚seit Auschwitz‘ nicht mehr möglich sei, Gedichte zu schreiben.“ Worauf Holthusen erwidert:

Mit einem solchen Diktum und an ihm kann man sich nur die Finger verbrennen. In einer von hochexplosiven Empfindlichkeiten geladenen Öffentlichkeit schafft es ein neues, falsches Tabu, indem es das Wesen der Welt in pure Geschichte, den Hingang der Zeit in hundertprozentige Dialektik monistisch umdeuten will. Nur wer an Auschwitz täglich wieder und im Ernst (im Ernst!) verzweifeln kann, der kann auch wissen, daß es Welt gibt, die nicht Auschwitz ist.

In diesen Zeilen zeigt sich der gesellschaftspolitische Gegner – und mit solchen Argumenten sitzt er heutzutage wieder fest im Sattel. Wolfgang Johanns Dissertation über Das Diktum Adornos tritt ein für eine differenzierte Betrachtung des Debattenverlaufs einer unbedingt aktuellen literaturtheoretischen Thematik. Er liefert mit dem auf Genauigkeit gepolten philologischen Blick die Methode, sich der Verunglimpfung und des Geschichtsrevisionismus zu erwehren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Wolfgang Johann: Das Diktum Adornos. Adaptionen und Poetiken, Rekonstruktion einer Debatte.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2018.
308 Seiten, 44,80 EUR.
ISBN-13: 9783826063985

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