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„Jung Wien ’14“ tritt mit einer weiteren Anthologie an die Öffentlichkeit

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur Verlusten oder Enttäuschungen, auch Irrtümern kann ein Gewinn innewohnen. So auch im Falle der Anthologie Entfesselte Dämonen, herausgegeben von „Jung-Wien ‚14“

Ohne näheres Nachdenken hielt ich es aufgrund der Jahreszahl „’14“ und des Titels für ausgemacht, dass es sich um eine neu zusammengestellte Anthologie von Texten jener jungen Autoren handeln müsste, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Dach des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik in Wien für Furore sorgten – so wie es dieser ungemein rührige Verband mit Lesungen, Theateraufführungen, Konzerten (Skandalkonzert / „Watschenkonzert“ 1913), Kunstausstellungen (Futurismus-Ausstellung 1912/13, Internationale Schwarz-Weiß-Ausstellung 1913), Almanachen und mit seiner Zeitschrift Der Ruf tat. Also Texte beispielsweise von Erhard Buschbeck, Emil Alphons Rheinhardt, Ludwig Ullmann oder dem noch in seiner Problematik großartigen, mit dem Jahrhundertroman Tropen. Der Mythos der Reise … (1915) bleibenden Robert Müller – dessen Todestag jährt sich in diesem Jahr zum einhundertsten Mal.

Doch weit gefehlt. „Jung Wien ’14“ ist ein 2014 von dem Literaturwissenschaftler und Autor Max Habereich gegründeter „Verein für junge, berufstätige Autoren in Wien“, der bzw. dessen Autoren und Autorinnen in Kaffeehäusern und auf Bühnen auftreten und der bislang mit drei Anthologien hervorgetreten ist: Dionysische Nächte, Unter fremden Himmeln und Die zerrissenen Zwanziger (vgl. https://jungwien14.com). Entfesselte Dämonen ist die vierte, aktuelle Publikation.

Der bis auf Kleinigkeiten – bspw. die unterbliebene Kursivierung von „Hummer“ im Beitrag von Max Haberich – sorgfältig lektorierte Band enthält dreizehn Texte von zwischen 1975 und 1994 geborenen sechs Autorinnen und fünf Autoren. Dabei handelt es sich überwiegend um Erzähltexte unterschiedlicher Art, doch gibt es auch Lyrik (Isabel Folie) und ein Erzählgedicht (Katharina J. Ferner) sowie einen Dramentext (Stefan Reiser). Gereiht sind die Texte alphabetisch nach den Namen ihrer Verfasser. Beschlossen wird der Band, dem von Seiten des Verlags Brot und Spiele Juvenals „nam qui dabat olim imperium […], nunc se continet atque duas tantum res anxius optat: panem et circenses“ aus den Satiren vorangestellt ist, mit ausführlichen „Autorenvitae“.

Der stimmig-souveräne, parabelhafte Erzähltext Die da träumen fort und fort des als Schriftsteller vielseitigen Literatur-, Film- und Kulturwissenschaftlers Thomas Ballhausen eröffnet die Anthologie. In diesem dem Ich-Erzähler nach ob der „Dringlichkeit“ als „Tonspule“ übermittelten, um Erkenntnis willen stellenweise grotesk überzeichnenden „Kurzbericht in loser Form“ über dramatische politische „Geschehnisse, die keinen Anschluss mehr an unsere gemeinhin gehegte Vorstellung von Geschichte aufweisen oder erlauben“, scheint es um nichts weniger als unsere Gegenwart zu gehen.

Der Schweizer Autor, Journalist und Übersetzer Alexander Estis ist mit zwei kurzen und einem kürzeren Erzähltext vertreten. In Gregors Freiheit (aus Estis’ Band Fluchten) geht es um einen Mann, den es erregt, höhnisch angesehen zu werden. Der selbstreflexive Text Das Virus erzählt von einem Schriftsteller, der in jeder Hinsicht, auch schreibend, vom Thema „Corona“ verschont bleiben möchte. Von daher beschließt er eine „totale[] und dauerhafte[] Quarantäne“. Mit dem Kauf ironischerweise von „Hygieneartikel[n]“ in allerletzter Minute verändert sich aber alles. Hilft ein Bart, die Aufmerksamkeit und den Respekt der Mitmenschen zu erwerben? Birgt er Gefahren? Danach fragt die Groteske Der Bart.

Anna Fercher, mit Kurzgeschichten hervorgetreten und als „archäologische Grabungstechnikerin“ tätig, macht mit ihrer geschickt erzählten, ebenso bedrückenden wie berührenden Enthüllungsgeschichte Fallen ihrem Beruf alle Ehre. Zum einen: Ein verschwundener Dorfbriefträger mit Migrationshintergrund – „Niemand hatte nach ihm gesucht“, „Wir waren alle betroffen, so betroffen man eben sein kann von einer Todesanzeige, von der man nicht betroffen ist.“  –  hat sich umgebracht. Zum anderen: Mit dem Briefträger ist auch die Volksschullehrerin des Dorfes, die Schwester der Ich-Erzählerin, verschwunden. Was sind in dem einen wie in dem anderen Fall die Hintergründe?

Es fällt nicht leicht, das mit (the earth is changing) überschriebene, nur eine Seite lange Erzählgedicht der „Poetin und Performerin“ Katharina J. Ferner ‚auf den Begriff‘ zu bringen. Ein „Knochenläufer“ zieht – der mythologische „Weltenbrand“ kommt in den Sinn – einen riesigen, erdumspannenden, viele Opfer kostenden Feuerschweif hinter sich her. Wer sich daran eine Zigarette entzündet, wird von „immer riesiger werdenden Feuerwehrschläuche[n]“ ins All gespült, „wenige schafften es“, den „Knochenläufer“ verfluchend, bis zum Mond. Eine Dystopie, so viel ist klar, doch wie die Geschichte im Einzelnen verstehen?

Nach Interpretationsanstrengungen der besonderen Art – „und mein brustkorb / zittert grün“, „auf meinem rücken / bitterer zucker und / gewitter“, „ich schäle / blecherne schritte“ – verlangt auch das von Formbewusstsein zeugende Gedicht Dämonen der 2020 mit dem Hauptpreis International des Hildesheimer Literaturwettbewerbs ausgezeichneten Lyrikern Isabel Folie. „quellen“, „flüsse“, „treibsand“ und „beton“ einerseits, „sorgen“, „rufe schallen“, „finger im kopf“ andererseits: Läge man falsch, wenn man von einem dystopischen Naturgedicht spräche?

Den beiden genannten Titel zuvor gegenüber wirkt Max Haberichs immerhin 23 Seiten lange, erzählerisch nicht ganz ausgereifte, doch mit einem inszenatorischen Leckerbissen endende zeitkritische Erzählung Im blauen Hummer eher leicht verständlich. Ort des Geschehens ist meist ein Lokal gleichen Namens „mit dem In-Schick der hippen Szene“, in dem rechtslastige Politik, ein künftiger Außenminister beispielsweise, und Finanzwelt, ein weltweit operierender, DAX-notierter doch windig-krimineller „Zahlungsabwickler“ namens Paymaster, ungute Allianzen eingehen. Selbstverständlich spielen aber auch nicht minder ‚delikate‘ Liebesverhältnisse eine Rolle. Und, nebenher, exquisite Gerichte wie ein „Saumon unilatéral an Safranschaum mit glasierten Poreescheibchen“.

Von einer ganz anderen Welt, der der immer schon ausgegrenzten, nun mit „offenkundige[r] Feindseligkeit“ konfrontierten Ute – „Ein beschissener Tag mit beschissenen Menschen an einem beschissenen Ort“ –, erzählt in teils drastischer, doch stets angebrachter Sprache Der eine Strohhalm der Marketingexpertin, promovierten Bildungswissenschaftlerin und Künstlerin Astrid Holzmann-Koppeter. Die alles andere als „ansehnlich[e]“ und ‚diplomatische‘ Ute – sie nimmt zusehends für sich ein – „ist nicht sie selbst. Schon lange nicht mehr.“ Das Hauptinteresse der Frau, die eine „Affäre“ mit einem John geheißenen „Bio-Kochlöffel“ hat, gilt den „Abartigkeiten anderer“. Ute landet schließlich zuerst in der Psychiatrie, dann …

Der kurze, als existenz- und moralphilosophisch zu klassifizierende, explizit intertextuelle Erzähltext Herbst der Prosalyrikerin, Essayistin und Erzählerin Lorena Pircher wartet mit etlichen steilen, zum Teil gesucht wirkenden Bildern wie „Die Stumpfheit dieser Welt erschlägt mich mit einem Stein aus hallendem Nichts“ auf. Inspiriert durch Charles Baudelaires Gedicht Der Albatros aus Les Fleurs du Mal und André Gides Roman Les caves du Vatican („die Geburt des ‚Acte graduit‘“), kommt ein Ich zu sich selbst und zu diversen Einsichten und Handlungen: einer „Ästhetik des Hässlichen“, der „Schönheit“ von „moralisch Minderwertige[m]“, dem „Böse[n]“ im „Natürliche[n]“, Mord. Mit Gide: „Es ist alles eine Sotie des Glaubens.“

Stefan Reisers „Inbrünstige Reizwortoper“ (Untertitel) Presswurst, ein 2012 uraufgeführter und 2015 online gestellter, formal eigenwilliger, doch strenger dramatischer Text, versteht sich anderen Quellen zu Folge als „Sex-and Crime-Sprechkonzert“ und „Pamphlet gegen Effekthascherei im zeitgenössischen Kunst- und Kulturschaffen“: Das unterstreicht Reisers ‚Vorwort‘ Die Halbschwester aus Amerika. Gegen Ende des Stückes heißt es: „Es war der Versuch besonders zu wirken um gut anzukommen / Es war der Versuch besonders großen Blödsinn herzustellen / Es war der Versuch größten anzunehmenden Unsinn herzustellen / Es war der Versuch größten anzunehmenden Dreck hinzuscheißen“.

In Zungen des Gewaltigen, einem Höhepunkt der Anthologie, erzählt der Literatur- und Musikwissenschaftler Gregor Schima von einem Nachkommen Wilhelm von Tegethoffs. Die zentrale, mit Nebenhandlungen einhergehende und zahlreiche Authentizitätssignale (Schauspielernamen) aussendende Geschichte spielt bei winterlicher Eiseskälte im Wien der Nachkriegszeit, genauer, im Theater Ronacher, in dem Jedermann gegeben wird. Die Stimme eines Schauspielers – seinen Nachnamen Bschließmayer spricht der wie einen „Klagegesang“ aus –, „in der sich kühle Flüssigkeit von Metall, weich die Mitlaute klöppelnder Zungenschlag und orphische Singkunst im Gesprochenen fanden“, wird zu einem im Wortsinn hinreißenden, alles vergessen machenden Erlebnis.

Die mehrfach ausgezeichnete und vielfach geförderte Erzählerin Zarah Weiss beschließt die Anthologie mit der Liebesgeschichte Lilith und die Lichter der Großstadt. Die führt, wie es so geht, aus heiterem Himmel ins „Paradies“, doch schleichend und dann katastrophisch auch wieder hinaus. Sie handelt, nicht wenige wissen darum, von Lust, Kontrolle, Macht, „toxischem Verhalten“, Täuschung und Verlust, einem Rosenkrieg schließlich. Obendrein wird, etwas aufgesetzt wirkend, davon erzählt, „dass wir unseren Planeten zerstör[]en“. Schönen Sätzen wie „Aber der Himmel sah aus, als hätte ich vergessen, im Flur das Licht auszumachen“ steht der eine oder andere ‚lädierte‘ Satz wie „Ich vergaß, ob ich vorher glücklich gewesen war“ entgegen.

Titelbild

Jung Wien ’14: Entfesselte Dämonen. Anthologie.
Brot und Spiele Verlag, Wien 2023.
172 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783903406179

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