Die zwei Seiten der menschlichen Seele

Tanizaki Junichiro erzählt in „Die geheime Geschichte des Fürsten von Musashi“ von den Verlockungen abgeschlagener Köpfe

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwölf Jahre ist er alt, als die Burg von Ojikayama belagert wird, wo er als Geisel lebt und erzogen wird. So bedrohlich ist die Situation, dass Hoshimarus ständiger Begleiter zum Kampf gerufen wird, der Junge sich selbst überlassen ist und sich den Frauen anschließt, die Geschichten erzählen. Was ihn lebenslang prägen wird, ist eine ganz bestimmte Tätigkeit, zu der ihn eine ältere Frau in einer Nacht mitnimmt: Sie säubern und frisieren die abgeschlagenen Köpfe von feindlichen Soldaten, damit sie nicht allzu abstoßend wirken. Für Hoshimaru ist es ein Tun von äußerster „Geschmeidigkeit und Grazie“. In der zweiten Nacht schleicht er sich allein wieder dorthin und beobachtet die Frauen bei ihrem Tun, vor allem ein junges Mädchen, das sich mit einem grausamen Lächeln auf den Lippen um die Schädel kümmert. Nicht nur das Mädchen selbst zieht ihn an: „Sie war es, die er letzte Nacht am betörendsten gefunden hatte. Nicht zuletzt vermutlich deswegen, weil sie altermäßig gerade den Punkt erreicht hatte, an dem sie körperlich voll erblüht war.“ Auch der Gegensatz zwischen ihrem Hantieren mit Totenköpfen und ihrer Lebendigkeit reizt ihn, ihr Teint im Gegensatz zur Totenblässe des Schädels. Neidisch wird er auf die Totenköpfe und wünscht sich, einer von ihnen zu sein und von ihr genauso grausam angelächelt zu werden.

In der dritten Nacht beobachtet er sie mit einem Kopf, dem die Nase fehlt, mit Stumpf und Stiel abgeschlagen:

Sorgfältig hatte das Mädchen die Zähne des Kammes in das quasi lebhafte, tiefschwarze Haar des nasenlosen Kopfes eingeführt und das motodori geordnet, den nach hinten abstehenden Teil des Haarknotens, als sie gerade dorthin blickte, wo sich die Nase hätte befinden sollen – in die Mitte des Gesichts –, und ihr übliches Lächeln sehen ließ. Selbstverständlich geriet der Knabe wieder, wie immer, in Verzückung, diesmal aber in ganz außerordentlichem, bisher nicht dagewesenem Maße.

Bis zur Ekstase steigert sich seine Verzückung.

Um das noch einmal zu erleben, braucht er einen weiteren nasenlosen Schädel. Aber bei der Schlacht um die Burg taucht keiner mehr auf. Und so schleicht sich Hoshimaru in das Lager seiner Feinde und erschlägt ausgerechnet den Anführer der Belagerer, Fürst Danjo, der auch noch eine besonders elegante Nase hat, und rettet damit die Burg. Die Nasenlosigkeit aber und das grausame Lächeln werden für ihn zum sexuellen Fetisch. Sehr viel später, als Hoshimaru, der jetzt als Mann Kawachinosuke heißt, mit Danjos Tochter Kikyo verheiratet wird, passieren einige abstruse Dinge, die dann wieder mit verlorenen Nasen und seinem Kopffetisch zu tun haben.

Sexuelle Obsessionen sind ein typisches Thema für Tanizaki Junichiro (der Familienname steht traditionell vor dem Vornamen), in vielen seiner Romane hat er sie zelebriert. In Die geheime Geschichte des Fürsten von Musashi wird der Fetisch durch einen herrlich ironischen Ton und eine oft eher umständliche, aber doch genaue Beschreibung durchbrochen. Auch seine pseudowissenschaftlichen Zitate aus erfundenen historischen Werken, die diesen Samurai von einer anderen Seite betrachten, und die fiktiven Quellenangaben aus ebenso erfundenen Dokumenten, die der Erzähler abwägt und diskutiert, machen aus dem absonderlichen pathologischen Fall ein Spiel um Wahrheit und Dichtung und nehmen den brutalen Szenen vollends den Ernst. Zudem führt dieser kurze Roman zurück in die große Samuraizeit Japans und ist voller spannender und blutiger Ereignisse, anders als die meisten von Tanizaki.

Und so lebt der Roman auch von den heftigen und wohlkomponierten Kontrasten, wenn bei einem idyllischen Gedichtwettstreit der Burgherr Norishige verstümmelt wird, wenn eine junge Ehefrau mit ihrem Mann Glühwürmchen fängt (und damit auf das „Genji Monogatari“ angespielt wird) und sie von ihm plötzlich in ein sadistisches Spiel verwickelt wird. Das ist die andere Seite des Romans: der tiefe Blick in die menschliche Seele, die viele Spielarten kennt, Zärtlichkeit neben Sadismus beherrscht und in Sekundenschnelle in Extreme verfallen kann. Und auch im Westen ist die Nase des Mannes ja ein bekanntes sexuelles Symbol.

Es ist eine listige Erzählweise, derer sich Tanizaki bedient, indem er einen berühmten Heerführer ankündigt, sich dann aber fast nur für seine Sexualität interessiert. Die Zusammenhänge und Dokumente sind so fingiert, dass es geradezu unglaubwürdig erscheint – dennoch ist der Roman so spannend erzählt, dass er einen eigenen Sog entfaltet. Schon am Anfang räumt der Autor ein, dass alles erfunden ist, indem er es leugnet. Und gibt einen deutlichen satirischen Hinweis, als er von einem heroisierenden Porträt des Samurai erzählt, das „die ganze Kümmernis seiner Seele, seines Wesens in dieser trotzigen Wehr“ der Rüstung miterzählt: „Zum Beispiel diese weit aufgerissenen Augen, die zornbebende Nase, und wie er die Schultern hält – geradezu furchterregend, wie die Abbildung eines wütenden Tigers.“ Um dann fortzufahren: „Nicht unähnlich aber auch, je nachdem, wie man es sieht, dem Gesicht eines Rheumakranken, der gerade mühsam, aber stoisch die nagenden Schmerzen in seinen Knochen und Gelenken verbeißt.“

Tanizaki wurde 1886 in eine alte Kaufmannsfamilie in Tokyo geboren, studierte englische und japanische Literatur und gilt, beeinflusst von Oscar Wilde, Edgar Alan Poe, Charles Baudelaire und seinem Lehrer Nagai Kafu, als Antinaturalist und Hauptvertreter eines gesteigerten Ästhetizismus. Die meisten seiner Werke drehen sich um sexuelle Obsessionen und die Spannung zwischen dem traditionellen und dem modernen Japan. 1965 starb er.

Die Ausgabe im Iudicium Verlag ist eine Neuauflage der schönen Ausgabe aus dem Insel-Verlag von 1994, die in der „Japanischen Bibliothek“ erschienen ist. Leider und seltsamerweise ohne Vor- oder Nachwort, mit dem man den Roman doch zumindest für den unkundigen Leser hätte in die Literaturgeschichten einordnen können. Die alte Auflage hatte ein schönes, kenntnisreiches Nachwort von Irmela Hijiya-Kirschnereit, der Grande Dame der Japanologie.

Titelbild

Junichiro Tanizaki: Die geheime Geschichte des Fürsten von Musashi.
Aus dem Japanischen von Josef Bohaczek.
Iudicium Verlag, München 2020.
256 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783862056651

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