Vom Top Girl zum gemeinsamen feministischen Kampf

Manuela Kalbermattens Studie „The match that lights the fire“ empfiehlt sich als Standardwerk über Future-Fiction für Jugendliche

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heldinnen, nicht Helden sind die fiktionalen role models für Jugendliche. Die meisten Heranwachsenden kennen es schon gar nicht mehr anders. Denn das ist nicht erst seit heute so. Und zwar quer durch alle Genres und Medien. Der zur Science-Fiction gehörenden Gattung der Future-Fiction für Jugendliche hat sich die schweizerische Literaturwissenschaftlerin Manuela Kalbermatten in einer ausführlichen Untersuchung mit dem Titel The match that lights the fire gewidmet, in der sie insbesondere den literarischen Konstruktionen von Gesellschaft und Geschlecht nachgeht. Denn „[g]eschlechterpolitische Themen und Diskurse nehmen“ in den stets dystopischen Werken des Genres „einen zentralen Stellenwert ein“. Daher stelle sich die Frage, wie die Bücher „an den geschlechterpolitischen Diskursen ihrer Zeit partizipier[en]“.

Kalbermatten sieht in den Themen „Liebe, Sexualität und Geschlechterverhältnisse“ sicher nicht zu Unrecht die „zentrale[n] […] Themen“ des Genres. Die „Verknüpfung der dystopischen Vision mit aktuellen Geschlechterdebatten“ bietet ihr zufolge daher insbesondere „für das diskursive Feld des Feminismus“ einen „fruchtbaren Boden“. Zwar verortet die Autorin den Forschungsansatz ihrer „kulturwissenschaftliche[n] Textanalyse“ in der „queer/feministischen Debatte und Theoriebildung“, doch tritt auch immer wieder ihre Nähe zu radikalfeministischen Ansätzen und Positionen zutage.

Theoretisch fußt Kalbermattens Untersuchung ganz wesentlich auf den frühen Werken von Judith Butler, der Cyborg-Theorie Donna Haraways und vor allem auf der Gesellschaftskritik von Angela McRobbie und deren These, „dass die postfeministischen Ermächtigungsdiskurse und -fantasien insbesondere junge Frauen zwar mit Zuschreibungen individueller Kompetenz, Freiheit und Gleichberechtigung ausstatten, die Bedingungen ihres Erfolgs aber zugleich […] radikalfeministische Praktiken der Kritik verdrängen“.

„[V]or dem Hintergrund gegenwärtiger (post-)feministischer Geschlechterdiskurse“ gilt Kalbermattens Erkenntnisinteresse dem „zeitdiagnostisch-kulturkritischen Potential“ des Subgenres. Um „zu erkunden, welche weiblichen Vorbildsubjekte unter welchen Bedingungen gegen die als besorgniserregend wahrgenommenen Entwicklungen einer literarisch antizipierten Zukunft als machtvolle Akteurinnen ins Feld geführt […] werden, und welche Subjekte nicht in Erscheinung treten“, untersucht sie „dystopische[.] Visionen und utopische[.] Impulse“ sowie „die von ihnen hervorgebrachten weiblichen Vorbildsubjekte“ anhand eines fast zwanzig Werke umfassenden Quellenkorpus aus den Jahren 2005 bis 2014.

Wie nicht anders zu erwarten, ist die Hunger Games-Trilogie von Suzanne Collins eines der Untersuchungsobjekte. Außerdem Bernhard Becketts Genesis, John M. Cusicks Girl Parts, Glory O’Briens History of the Future von A. S. King sowie Mary E. Pearsons The Adoration of Jeanna Fox. Verfasst wurden die untersuchten Werke zwar zumeist von „AutorInnen des englischsprachigen Raums“, doch werden die anglophonen Romane durch Werke eines französischen Autors und einer deutschen Autorin ergänzt. Es handelt sich um Timothée de Fombelle, dessen Erzählung Céleste, ma planète sich an jüngere Jugendliche richtet, und um Jennifer Benkau, die mit Dark Canopy und Dark Destiny vertreten ist. Die „starke Konzentration“ ihrer Studie auf Bücher „aus dem anglophonen Bereich“ begründet Kalbermatten mit dem „hohen Einfluss“, den die Kinder- und Jugendliteratur dieses Sprachraums überall auf der Welt habe.

Zwar seien die von ihr „begutachteten“ Romane und Erzählungen „in mehrfacher Hinsicht heterogen“, doch steche ins Auge, dass sich „keine einzige homo- oder bisexuelle Figur, keine Transfrau und keine nonbinäre oder genderqueere Figur“ unter den „weiblichen Hauptfiguren“ finden. Hier wäre kritisch einzuwerfen, dass Menschen nicht zugleich weiblich und nonbinär sein können und daher auch keine nonbinäre Person unter den weiblichen Hauptfiguren sein kann. Wenn Kalbermatten des Weiteren darauf hinweist, dass „die Position der Hauptfigur stets einer heterosexuellen ‚weisen’ jungen Cisfrau“ vorbehalten bleibt, so hätte zumindest eine dieser Homogenitäten durch eine andere Auswahl der zu analysierenden Werke aufgebrochen werden können. Etwa indem Kalbermatten zu einem der Bücher von Nnedi Okorafor gegriffen hätte. Die nigerianische Autorin hat eine ganze Reihe schwarzer Protagonistinnen erdacht. So etwa die jeweilige Haupt- und Identifikationsfigur in Wer fürchtet den Tod, Das Buch des Phönix und ihrer Binti-Trilogie.

Davon abgesehen führt Kalbermattens Studie deutlich vor Augen, dass „junge Frauen“ in der Future-Fiction für Jugendliche „[w]eit stärker als männliche Figuren – oder gar Erwachsene […] als Chronistinnen und Akteurinnen fiktiver künftiger Risiko- und Wettbewerbsgesellschaften imaginiert“ werden. Dabei werden die Protagonistinnen in aller Regel „als Top Girls oder can-do girls aufgerufen“, die dazu „angehalten“ sind, „die Welt zum Besseren zu verändern“. Zugleich werden ihnen in den „Katastrophenfantasien“ andere junge Frauen als die „am meisten gefährdeten Subjekte“ zur Seite gestellt. Nicht selten aber sind es auch die Heldinnen selbst, die besonders gefährdet sind.

Sie, die Heldinnen, stehen im Fokus von Kalbermattens Interesse. Ihnen gelten die erkenntnisleitenden Fragen der Autorin. „[Reduziert] die Ikonisierung junger Frauen als revolutionäre Symbole sie einmal mehr auf ihre Zeichenfunktion“ oder „[bleiben] ihre widerständigen Energien erhalten“? Ist Letzteres der Fall, schließen sich weitere, noch wichtigere Fragen an, die miteinander verschränkt sind. Zum einen, ob der „Widerstand“ der Protagonistinnen „eher in einem traditionellen Wertesystem verortet“ wird oder ob sich „aus feministischer Perspektive radikal-transformatorische Impulse erkennen [lassen]“. Zum zweiten, ob die wie auch immer geartete innerfiktionale Problemlösung in die Hände von nur einem „can-do girl oder Top Girl“ gelegt wird, das sich selbst in der dystopischen Welt behauptet, oder ob „sich Elemente einer (feministischen) Bündnispolitik erkennen [lassen], welche die Notwendigkeit kollektiven Widerstands betonen“, dem ein „utopischer Impuls“ innewohnt. Verbirgt sich „unter einem vermeintlich progressiven Auftritt“ der Heldin also nur ein „zugrunde liegende[r] Konservatismus“, oder „ermutigen“ die Romane zu einem „radikalen Wandel“?

Wie Kalbermatten ausführlich zeigt, reduziert de Fombelle seine titelstiftende Figur Céleste tatsächlich auf eine reine Zeichenfunktion, während eine männliche Figur der eigentliche Handlungsträger ist. Nicht nur damit reproduziert und propagiert er traditionelle Geschlechtervorstellungen. Susan Beth Pfeffers vierbändige Last Survivors-Serie erweist sich mit ihrer als utopisch verbrämten Bekräftigung „traditioneller Geschlechterrollen“ und der „Idealisierung der Kernfamilie“ ebenfalls als ausgesprochen konservativ. Das hohe Lied auf die Familie anzustimmen, ist zwar in fiktionalen US-amerikanischen Narrativen quer durch alle Medien und Genres üblich. Pfeffer aber operiert mit „essenzialisierte[n] Geschlechterrollen“ bis hin zur „Pflicht“ von Frauen, Mütter zu werden. Wie Kalbermatten zeigen kann, wird all dies auch noch „von einer postfeministischen Rhetorik weiblicher Ermächtigung [abgefedert]“.

Ganz anderes in Jennifer Benkaus Bänden Dark Canopy und Dark Destiny. Ihre Protagonistin Joy erklärt nicht nur gleich zu Beginn, sie sei unfruchtbar, womit sie als Ikone einer Mutterschaftsidealisierung schon einmal nicht taugt, sondern „bricht“ zudem „wiederholt aus den ihr gezogenen (Geschlechter-)Grenzen aus“ und „trägt“ – das ist das Wichtigste – „dazu bei, die desaströsen Geschlechterverhältnisse ihrer Gesellschaft zu repolitisieren“. Zwar „beherrscht“ auch sie die von „postfeministische[n] Ermächtigungsdiskurse[n] und Weiblichkeitstechnologien“ propagierten „Regeln und Techniken“, doch machen Benkaus Romane ein ums andere Mal deutlich, dass deren „Verinnerlichung“ der „sexuellen Freiheit“ von Frauen eben gerade nicht „zugutekommt“.

Suzanne Collins Protagonistin Katniss Everdeen (Hunger Games-Trilogie), Veronica Roths Heldin Tris Prior (Divergent-Trilogie)  und Scott Westerfields Heroine Tally Youngblood (Uglies-Series) wiederum „erscheinen“ zwar „als ‚disruptive force’“, doch werden auch sie „nie darauf reduziert, den Emanzipationsprozess eines männlichen Helden anzuregen“, wie dies bei weiblichen Figuren in älteren Dystopien gang und gäbe war und auch noch in Céleste der Fall ist. Vielmehr agieren und kämpfen Katniss, Tris und Tally „in eigener Sache und, nach entsprechender Politisierung, für gerechtere soziale Strukturen“. So wohnt jeder der drei Identifikationsfiguren ein „machtkritisches und emanzipatorisches, sogar radikal(-feministisch)es Potential“ inne.

Neben diesen grundlegenden Gemeinsamkeiten arbeitet Kalbermatten auch markante Unterschiede zwischen den drei Figuren heraus. Während Tris Aufstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie ihrer „individuellen Leistung“ zu verdanken ist und der Roman zumindest zunächst einem „neoliberal-postfeministischen Verständnis von Subjektivität, Freiheit und sozialem Wandel verpflichtet bleibt“, „verweiger[n]“ sich Collins Romane von Beginn an „diesem Narrativ individueller weiblicher Handlungsmacht“. Zudem durchläuft Katniss einen „starken Prozess der Politisierung, der bei Tris und Tally so nicht stattfindet“.

Am Ende ihrer Untersuchung wendet sich Kalbermatten anhand von John M. Cusicks Girl Parts und seiner Protagonistin Rose, der von Robin Wasserman erdachten Skinned-Trilogie um Lia sowie Mary E. Pearsons The Adoration of Jenna Fox (2008) der Figur der Cyborg und „den in den Romanen verhandelten utopischen Möglichkeiten posthumanistischer Subjektivität, Verkörperung und Gemeinschaftsbildung“ zu. In diesem Abschnitt hätte es sich angeboten, Okorafors Roman Phönix und ihre Binti-Trilogie in den Untersuchungskorpus aufzunehmen, mag es sich bei der Titelheldin des einen auch um das Forschungsprojekt eines gentechnischen Experiments handeln und bei der anderen, um ein junges Mädchen, das im Laufe der Handlung die DNA verschiedener Aliens in sich aufnimmt. Wie die Figur der Cyborg machen auch sie „transhumanistische und postfeministische Transformationsprozesse sichtbar und kritisch posthumanistische und feministische Emanzipationsbestrebungen denkbar“.

Ungeachtet dessen sind Kalbermattens Überlegungen zur Cyborg und ihre Analysen der herangezogenen Cyborg-Romane für Jugendliche ebenso überzeugend wie die vorherigen. So kann die Autorin etwa zeigen, dass „die Cyborg als ‚Erkenntnishilfe’ [fungiert], die durch ihre explizit performativen Akte eine Diagnose postfeministischer Lebensbedingungen und ihrer gouvernemantalisierten Regulierungen der Subjekte, Geschlechterverhältnisse und sexuellen Beziehungen stellt“. Die Protagonistinnen Rose, Lia und Jeanna „stehen […] letztlich für gelebte soziale Beziehungen: für machtvolles, intimes Vernetzt- und Verbundensein“.

Eben darin, „vermeintlich widersprüchliche Anteile des Selbst wie Freiheitsdrang und Solidarität, Autonomie und Empathie, sexuelle Selbstbestimmung und Intimität, Kampfgeist und Fürsorglichkeit anzuerkennen, ohne diese Eigenschaften und Fähigkeiten zwingend im Rahmen einer neoliberalen Verwertungslogik als Ressourcen dienstbar zu machen“, liege „vielleicht, einer der wichtigsten utopischen Impulse, welche die Gattung, all ihren düsteren Visionen zum Trotz, aufweist“, erklärt die Autorin in ihrem abschließenden „Ausblick“.

Abgesehen davon, dass ein Personen- und Werkregister wünschenswert gewesen wäre, bleibt nicht viel an Kalbermattens mustergültiger Untersuchung zu monieren. Vielleicht, dass die Autorin den Begriff Patriarchat verabschiedet oder sie unter Bezugnahme auf Mitho M. Sanyal meint, eine Vergewaltigung sei nicht etwa ein „individuelles Verbrechen“ sondern „Ausdruck einer sexistischen Struktur“. Tatsächlich sind Vergewaltigungen beides, individuelle Verbrechen (andernfalls könnte man gleich den einschlägigen Paragraph aus dem Gesetzbuch streichen), die zugleich – ebenso wie die von Kalbermatten zur „Sexarbeit“ schöngeredete Prostitution – sexistische Strukturen nicht nur ausdrücken, sondern, schlimmer noch, perpetuieren.

Diese für die zentralen Untersuchungs- und Erkenntnisziele randständigen Punkte berühren den Wert der Studie jedoch in keiner Weise. Entscheidend ist vielmehr, dass sich Kalbermattens Arbeit durch ihre theoretische Tiefe und ihre argumentative Gründlichkeit auszeichnet. Auch kennt sich die Autorin nicht nur bestens in der Sekundärliteratur zu Future-Fiction sowie zu U- und Dystopien aus, sondern bietet sehr detaillierte und instruktive Analysen der Werke ihres Quellenkorpus, deren Blick auf die Jugendliteratur auch für diejenigen, die sich in der Geschichte feministischer SF im Allgemeinen recht gut auszukennen glauben, etliche neue Erkenntnisse zu bieten hat.

Obwohl Kalbermatten sich auf die Untersuchung einiger bestimmter Werke konzentriert, machen ihre ebenso verallgemeinerungsfähigen wie wegweisenden Schlussfolgerungen das Buch zu einem Standardwerk für die künftige Forschung zum Thema „Gesellschaft und Geschlecht in Future-Fiction für Jugendliche“ und vielleicht sogar darüber hinaus.

 

Titelbild

Manuela Kalbermatten: «The match that lights the fire». Gesellschaft und Geschlecht in Future-Fiction für Jugendliche.
Chronos Verlag, Zürich 2020.
648 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783034015738

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