Kampf um den Kopf
Warum Frauenhaare zu Revolutionen führen
Von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim
Rätsel des Lebens. Wie, um Himmels willen, konnte es nur passieren, dass die Haare von Frauen zu Revolutionen, gar Kriegen führen? Und dabei so magisch und gefährlich zu sein scheinen – vor allem für Männer –, dass manche Gesellschaften wie aktuell im Iran Frauen mit langen Haftstrafen drohen, falls sie sie nicht hermetisch bedecken und so vor fremden Blicken schützen? Warum ist das bewusste Abnehmen des Kopftuchs Symbol der global ausstrahlenden feministischen Freiheitsbewegung „Woman, Life, Freedom“ geworden – und sind offene Frauenhaare das Bild von Freiheit und Selbstbestimmung überhaupt?
Männernasen oder Männerwimpern etwa lösen keine Bürgerkriege aus, und wir haben auch noch nicht von maskulinen Knien gehört, deren öffentlicher Anblick Polizisten mit Gewehren auf die Straße bringt oder mit hohen Bußgeldern geahndet wird.
Wie so oft im menschlichen Leben geht es auch bei den Frauenhaaren um Macht und Liebe, Sex und Kontrolle. Denn die weiblichen Haare können – so die Idee mancher Ideologen, die die Macht von Frauen fürchten – eine betörende, kuschelige Falle sein, die die Männchen aus sexueller Lust um ihre Selbstkontrolle bringen kann. Volles, glänzendes Haar galt und gilt als Symbol für Schönheit, Gesundheit und Lebenskraft. Und das zieht Männer an, deren Samenweitergabe für die Evolution des Menschengeschlechts von höchster Wichtigkeit ist. Ohne Sex keine Fruchtbarkeit. Ohne Fruchtbarkeit stirbt die Menschheit aus. Auf Basis dieses irdischen Grundmechanismus haben jedoch Männer ein gedankliches Herrschaftsinstrument erdacht, um ihrem eigenen Geschlecht die Kontrolle über Frauen zu sichern: die teilweise körperliche Unsichtbarmachung, kulturell verbrämte Erniedrigung und geistlich-spirituell verpackte Entmündigung, die mit Scham einhergeht.
Mullahs und Rabbiner: Bedeckt den Kopf!
Um die Kopfhaare von Frauen toben erbitterte Religionskämpfe, die von Männern dominiert wurden und werden. Wie ungleich Frauen in Religionen behandelt werden, kann man kaum besser erkennen als beim Thema Kopfhaare. Im Islam gilt, dass dessen religiöse Vorschriften über das Verhüllen der Kopfhaare von Frauen damit zu tun hat, dass das sexuelle Begehren der Männer nicht gereizt werden darf. Männer, so die Begründung, würden vom Anblick weiblicher Haut und Haare, ja schon allein von ihren Körperumrissen derart erregt, dass sie sich nicht mehr kontrollieren können. Die Vergewaltigung wäre demnach die „natürliche“ Reaktion des Mannes. Die Frau, die ihre Haare nicht verbirgt, dürfe sich nicht beklagen, wenn der durch sie erst wildgewordene Mann über sie herfällt. Frauen, die seit 1979 im Iran ihre Haare auf der Straße nicht ganz verhüllen, werden von männlichen und weiblichen Mitgliedern der sogenannten Sittenpolizei als Schlampen beschimpft, in Busse gezerrt und auf Polizeistationen schikaniert, eingesperrt und im schlimmsten Fall gefoltert. Das ist aktuell nicht nur im Iran so. In Indonesien kommt es derzeit immer öfter vor, dass Frauen, die ihre Kopfhaare nicht verbergen, auf offener Straße die Haare abgeschnitten werden, wie seriöse Medien berichten. Dass die Kopftuchdebatte auch in Europa ebenfalls virulent ist, zeigen die ständigen Diskussionen über das Für und Wider von Kopftuchverboten für staatliche Beamtinnen, Erzieherinnen und andere Frauen im öffentlichen Berufssektor. Individuelle Freiheit, die eben auch die Entscheidung für ein Kopftuch einschließen kann, steht dabei gegen die Vermutung einer anti-emanzipatorischen Unterwerfungsgeste, die als religiös motiviertes Symbol im öffentlichen Raum keinen Platz haben soll.
Doch nicht nur in islamisch geprägten Gesellschaften begegnet einem die Kopftuchfrage. Als religiöser Brauch setzte sich das Bedecken der Haare im 15. Jahrhundert auch im Judentum durch und wird seither von orthodoxen Vertreterinnen befolgt. In einer Ausstellung des Jüdischen Museums in Berlin 2014 beantwortete die Kuratorin Miriam Goldmann die Frage, warum Jüdinnen ihre Haare nach der Hochzeit theoretisch entweder mit einer Perücke oder einem Kopftuch bedecken müssen, mit einer biblischen Geschichte:
Rebekka blickte auf und sah Isaak. Sie ließ sich vom Kamel herunter und fragte den Knecht: Wer ist der Mann dort, der uns auf dem Feld entgegenkommt? Der Knecht erwiderte: Das ist mein Herr. Da nahm sie den Schleier und verhüllte sich. (1. Buch Mose 24, 64f.)
In den strenggläubigen chassidischen Gemeinden, die im 18. Jahrhundert in Osteuropa entstanden, war es üblich, dass Frauen sich zur Hochzeit alle Kopfhaare abschnitten und danach das Tichel, ein Kopftuch, trugen. Dennoch gab es zwischen den verschiedenen orthodoxen Strömungen immer graduelle Unterschiede in der Auslegung, ob nach der Hochzeit alles Haar verhüllt bleibt oder wie viel von ihrem Haar eine Frau zeigt. Heute bedecken orthodoxe Frauen ihre Haare mit Tuch, Barett (einer Baskenmütze) oder Haarnetz. Auf Instagram kann man zahlreichen, vor allem US-amerikanischen, Influencerinnen dabei zusehen, wie sie in New York ihre Perücken kaufen, wie die echten Haare darunter aussehen, wie sie Turbane oder Tücher auf dem Kopf drapieren. Manche, wie Niki Weinstock, tragen ihre Perücken, Haarteile oder Tücher nur in der Synagoge. Viele jüdische Frauen lehnen es heutzutage hingegen grundsätzlich ab, ihre Haare aus Gründen der Schicklichkeit zu bedecken.
Unter der Haube: Auch die christlichen Religionen verbannen Frauenhaare
Sich als aufgeklärte Westler verstehende Menschen müssen gar nicht so tun, als ob in ihrer Kultur wallende, offene Frauenmähnen stets freizügig bejubelt worden wären. Der Apostel Paulus, von dem gesagt wird, erst er sei der Erfinder des Christentums, formulierte über das Verhalten von Frauen und Männern im Gottesdienst (1. Korinther, 11):
Ich lobe euch, weil ihr in allen Stücken an mich denkt und an den Überlieferungen festhaltet, wie ich sie euch gegeben habe. Ich will aber, dass ihr wisst, dass Christus das Haupt eines jeden Mannes ist; der Mann aber ist das Haupt der Frau; Gott aber ist das Haupt Christi. Ein jeder Mann, der betet oder prophetisch redet und hat etwas auf dem Haupt, der schändet sein Haupt. Jede Frau aber, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt; denn es ist gerade so, als wäre sie geschoren. Will sie sich nicht bedecken, so soll sie sich doch das Haar abschneiden lassen! Wenn es aber für die Frau eine Schande ist, dass sie das Haar abgeschnitten hat oder geschoren ist, soll sie sich bedecken. Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, denn er ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz. Denn der Mann ist nicht von der Frau, sondern die Frau von dem Mann. Und der Mann wurde nicht geschaffen um der Frau willen, sondern die Frau um des Mannes willen.
Heißt, in a nutshell: Auch die Christinnen wurden dazu aufgerufen, ihr Haar zu verhüllen – und wenn sie sich nicht bedecken wollten, sollten sie ihr Haar abschneiden. Der Mann hingegen – Gottes Bild und Abglanz! – konnte demnach seine Haare zeigen. Für heutige Vorstellungen empörend ist der Grundgedanke, dass die Frau nur Abglanz des Mannes und um seinetwillen geschaffen sei. Bis heute beißen sich engagierte Katholikinnen, die eine gleichberechtigte Stellung der Frauen in ihrer Kirche fordern, an diesem Grundgedanken die Zähne aus.
Das Bild der bedeckten Frauenhaare findet sich demnach auch über Jahrhunderte in der christlichen Ikonographie und auch in den Darstellungen weltlicher Szenen. Betrachten wir etwas das berühmte Gemälde von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1512, „Maria mit der Birnenschnitte“: Der Kopf der göttlichen Frau ist mit einem Tuch bedeckt, aber darunter kräuseln sich wendige, spiralige, rötliche Haare hervor. Was für ein Kontrast zum Selbstbildnis dieses begnadeten Malers, auf dem er stolz seine wallende Haarpracht präsentiert! Nicht nur die Kopfhaare der Gottesmutter Maria oder christlicher Nonnen mussten lange Zeit versteckt werden. Auf dem Porträtbild der 24jährigen Katharina von Bora, das Lucas Cranach der Ältere 1528 von der Ehefrau des Reformators Martin Luther malte, lugen ihre rötlichen Haare nur ganz knapp unter der ebenfalls rötlichen Haube hervor.
Renaissance und Romantik: Und plötzlich wallen die offenen Haare
Aber plötzlich, auch auf den Marienbildern der Renaissance tauchen die weiblichen Kopfhaare auf, die man vorher niemals gezeigt bekam. Das leuchtende Licht fällt auf sie, sie scheinen zu glühen. In der „Geburt der Venus“ und dem „Bildnis der Simonetta Vespucci als Nymphe“ von Sandro Botticelli fließen gelockte, gewundene Flechten um das weiße Antlitz. Die Haare sind auf den Bildern des Renaissancemeisters der Hingucker – allerdings auch auf seinen Porträts der Medici-Männer, die lange Pagenkopffrisuren tragen. In der Epoche der Romantik schließlich explodieren schier die Haarwolken der Gemälde. Auf einmal durchfluten offene Frauenhaare immer mehr und öfter die Bilderwelt. Rapunzel mit ihrem langen, prächtigen Haar – „fein wie gesponnen Gold“ – lässt erst die Hexe die zwanzig Ellen des Turms hinaufklettern. Dann schneidet diese sie ihr ab, bringt Rapunzel in die Wüstenei und schon klettert der Königssohn an den Haaren zur Hexe nach oben.
Vielleicht am eindrücklichsten sticht „The Bridesmaid“ von John Everett Millais aus dem Jahr 1851 hervor: Das flammend rote, leicht wellige Haar bedeckt fast den gesamten Oberkörper der jungen Frau, die träumerisch an einem Ring dreht. Überhaupt scheinen die Präraffaeliten nur noch Bilder zu malen, auf denen langhaarige Frauen melancholisch in die Ferne blicken. Man denke an die zahlreichen Gemälde von Dante Gabriel Rossetti und Edward Burne-Jones, die nicht müde wurden, die 29jährige Jane Morris, die schöne Frau ihres Malerkollegen William Morris, als Modell für ihre großformatigen Gemälde zu nutzen. Mögen die Maler sie einen „stunner“ genannt haben, der heutige Blick sieht doch sehr viel mehr eine schwermütige Frau, deren dramatisch dunkle und lange Haare die Blicke der Männer magisch anzogen.
Betrachtet man Fotografien dieser englischen Malergattin, so ist es nicht zu vermeiden, an die Porträts von Elisabeth, der Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, zu denken. Der deutsche Maler Franz Xaver Winterhalter verewigte die Langhaarige auf zahlreichen Leinwänden, wobei die diamantbesetzten „Sisi-Sterne“ auch heute noch das Augenmerk auf sich ziehen. Ob ihre Haarpracht für ihren Cousin, den Kaiser Franz Joseph I., ebenso anziehend gewesen war wie für den ungarischen Grafen Gyula Andrássy, gehört zu jenen Rätseln, die die historische Wissenschaft bis heute nicht endgültig auflösen konnte.
Haare, lange Frauenhaare scheinen jedenfalls ein Motiv zu sein, das sich durch die Geschichte der Menschheit zieht.
Die diabolischen Frauenvarianten: Hexe mit langen roten Haaren und das blonde Gift
Seit Kindesbeinen wissen wir, woran man Hexen erkennt. Sie sind bucklig, haben eine Warze auf der Nase und auf ihrem Kinn sprießt das Hexenhaar. Am leichtesten erkennt man sie aber an ihren Kopfhaaren. Die sind rot, flammendrot. Die leuchtenden roten Haare signalisieren Hexerei, Zauberei, Eifer, Fieber, Blut. Hexen sind gefährlich für gute Ernten und kleine Kinder.
Ende August 2023 fand es wieder statt, das „International Redhead Festival“ im niederländischen Tilburg (https://redheaddays.nl/). Bei aller Freude über die lachenden Menschen, sollten die bunten Bilder nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie für die Rechte von Rotschöpfen und gegen ihre Diskriminierung kämpfen. „Redheads International“ soll rothaariges Selbstbewusstsein stärken. Die rothaarigen Hexen wehren sich gegen die Herrschaft der Märchenprinzessinnen, die immer blaue Augen und lange blonde Haare haben. Doch auch blonde Haare scheinen in der Literatur für Männer gefährlich zu sein.
Zu Bacharach am Rheine
Wohnt‘ eine Zauberin,
Sie war so schön und feine
Und riß viel Herzen hin.
Und brachte viel zuschanden
Der Männer rings umher,
Aus ihren Liebesbanden
War keine Rettung mehr.
Da sitzt sie also, die Loreley, auf dem Felsen und kämmt sich ihre goldenen Haare. Und die Männer auf den Booten schauen hinauf, die Schiffe geraten in einen Strudel, kentern und sinken auf den Grund des Rheins.
Filmisch am überzeugendsten hat diese gefährliche Anziehungskraft, die lange blonde Haare auf manche Männer ausüben, der Münchner Filmemacher Helmut Dietl in seinem Meisterwerk „Rossini – oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief“ (1997) gezeigt. Als der Filmemacher Uhu Zigeuner – das Filmego Dietls – eine Hauptdarstellerin für sein Projekt der Verfilmung des Bestseller-Romans „Die Loreley“ – gemeint ist der Roman „Das Parfum“ – des menschenscheuen Schriftstellers Jakob Windisch – gemeint ist Patrick Süskind – sucht, erscheint plötzlich eine Frau, die sich „Schneewittchen“ nennt. Und dann steht sie da, Veronica Ferres, vor dem Fenster, hinter dem die Filmleute sitzen. Und sie geht in das Restaurant hinein. Ihr langes, blondes Haar bedeckt ihren halben Rücken und damit verkörpert sie den Inbegriff männlicher Sehnsucht nach Erlösung durch Sex mit ihr. „Sie ist jung, sie ist groß, sie ist blond, sie ist schön. Fünf Arme möchtest Du haben“, stammelt der liebestolle Wirt Paolo Rossini, alias Mario Adorf. „Und drei Schwänze“, erwidert Uhu Zigeuner. Und sie alle verfallen der blonden Schönheit, die ihnen den Kopf verdreht, mit tragischem Ende.
Ob blond, rot, schwarz, braun oder weiß, Fakt ist: Die offenen Haare waren und sind in allen drei monotheistischen Religionen – zumindest nach der strengen Lehre – ein sündig konnotiertes Attribut der Frauen, das Männer nutzten, um diese zu kontrollieren und zu unterwerfen. Die mutigen iranischen Frauen, die in diesen Tagen auf die Straße gehen, um sich – auch unter Lebensgefahr – vom Kopftuch zu befreien und ihre Haare zu zeigen, stehen für Stolz und Gleichberechtigung aller Menschen, die so leben möchten, wie sie es wünschen.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.