Beklemmendes Mittelmaß
Mieko Kanai registriert bei ihren Beobachtungen japanischer Lebensverhältnisse in den 1990ern einen „leichten Schwindel“
Von Lisette Gebhardt
Japanische Autorinnen sind seit jeher Meisterinnen der Beobachtung, wenn es darum geht, in die Abgründe der Alltäglichkeit zu blicken. Mieko Kanai hatte sich, wie sie im Nachwort schreibt, beim Verfassen ihrer acht jeweils mit einem Motto versehenen kürzeren Texte, die sie Ende der 1990er zu einem Band zusammenstellte, von der Devise leiten lassen, nicht den „schweren Wahnsinn“ zu schildern, in den Hausfrauen durch ihr monotones, fremdbestimmtes Leben für Mann und Kinder verfallen können, sondern sich ausschließlich den ersten Irritationen zu Beginn einer tiefergreifenden Dissoziationsphase zu widmen. In dieser Hinsicht bieten Kanais Suburbia-Notizen ein schönes Ensemble einschlägiger nervlicher Belastungen. Der wenig anheimelnde Außenbezirk der Metropole, einengende Routine und fehlende Zeit für persönliche Interessen, hausfrauliche Verpflichtungen wie Kochen, Waschen und Putzen, lästige soziale Interaktionen sowie nicht zuletzt die oft unangenehme Anwesenheit des Ehepartners bilden die Basis für ein nachhaltiges Boreout oder sogar für latent aggressive Tendenzen.
Badewasser, Haare auf dem Bettkissen, Schnarchen
Tatsächlich finden sich Einlassungen zu den unliebsamen Seiten des permanenten Zusammenlebens mit einem Mann zu Beginn und am Ende der Betrachtungen. Die Familie der Fokusfigur Natsumi ist gerade in eine komfortable Wohnung mit Kochinsel, zwei großen Balkonen und einem „Wirtschaftsraum“ gezogen. Eiji, der Ehemann, wird schon in den ersten beiden Abschnitten als vorerst wohl notwenige, jedoch nicht allzu beflügelnde Existenz dargestellt: Häufig liegt er auf dem Sofa und schaut in den Fernseher, offenbar auf dem besten Wege, bald immer bequemer und dicker zu werden. Gewisse Ekelgefühle machen sich bei Natsumi bemerkbar, wenn sie jeden Tag seine Haare auf dem Kopfkissen mit Klebeband entfernt. Noch stärkeren Widerwillen hatte sie früher bei dem Gedanken verspürt, nach ihrem Mann in die für den gemeinsamen Gebrauch bestimmte Wanne zu steigen:
[…] bei der Vorstellung, wie sich der Schmutz und der Schweiß im Badewasser vermischten, hatte sie das widerliche Gefühl, ihr Schutzmantel würde durchlässig und ein anderer Körper durch ihre Poren eindringen, bis sie mit ihm verschmolz und, schlimmer noch, sich mit dem schmutzigen, warmen Wasser vermischte und darin auflöste.
In der letzten Episode berichtet die Erzählerin, wie sie sich um Eiji kümmern muss, der betrunken nach Hause kam. Verärgert nimmt sie dann neben ihm im Bett noch längere Zeit das „unverschämte, rücksichtslose Schnarchen“ und das Stinken seiner „Fahne“ wahr, gerät also an eine Grenze, an der die stetigen Hygienebestrebungen der Hausfrau nebst ihren Ambitionen, sich selbst wieder stärker zu spüren, scheitern müssen.
Zwölf Rollen Toilettenpapier im Sonderangebot: Listen und Aufzählungszwänge
Natsumi stammt aus einer Mittelschichtsfamilie, besitzt einen regen Geist und beneidet ihre alleinstehende, berufstätige Freundin Setchan. Zur Kompensation beschäftigt sie sich engagiert mit den Dingen des Haushalts, hält sich gewissenhaft an ihre Routinen, denkt zudem an Geburtstage und Familienfeste. Konzentriert erledigt sie auch Einkäufe, wobei sie das Warenangebot des nahen Supermarkts vollständig vor Augen hat bzw. sogar meint, es „sämtlich aus dem Stegreif“ aufzählen zu können. Kanai Mieko macht sich ein schriftstellerisches Vergnügen daraus, die Bestände in langen Passagen aufzulisten:
[…] frischer Fisch wurde dienstags geliefert, das hieß an diesem Tag drängen sich Tablets mit Sashimi von Thunfisch, Dorade, Gelbschwanz und Oktopus im Angebot hinter der Glasscheibe, während in der nächsten Vitrine Shijimi-Muscheln, Miesmuscheln, Venusmuscheln und frischer Seetang lockten, außerdem Thunfisch, gekochter Oktopus, Omletterollen, gebratener Aal, Lachsrogen, Tintenfisch, Trogmuscheln, roher Tintenfisch, gesalzener Kabeljau, Alaska-Seelachs, rohe Lachsfilets, Rotbrassen Filets, Sardinen, Makrelen, kleine Makrelen zum Frittieren, Süßwasserstinte zum Frittieren, besonders schonend gegarte Kammmuscheln, gedämpfte Kammmuscheln, Degenfischfilet, in der nächsten Tiefkühlvitrine lagerten dann verschiedene Arten von schwarzen Tigergarnelen, nach Größe sortiert, Hauptmannsgarnelen, geschälte Garnelen, Teppichmuscheln, Weißfisch Surimi, gemischte Meeresfrüchte, Kammmuschelfleisch, daneben gab es auch eine Fleischtheke mit Schnitzeln, Yakitori, Steakwürfeln auf Bambusspießen, gefüllten Kohlrouladen, Frikadellen, Hähnchen, gemischtem Hackfleisch […]
Zusätzlich erstellt sie Einkaufslisten, auf dem „MUJI-Memo-Block im A 6-Format“. Als sie eines Tages in einer Jackentasche einen älteren, fast gleichlautenden Zettel u.a. mit den Punkten Rinderhackfleisch, Dosentomaten, Tomaten, Eier, Küchenrolle, Zahnbürste (für Eiji), Mülltüten (brennbar) entdeckt, hat sie ein Déjà-vu nebst dem „erdrückenden Gefühl von Überdruss“, was „Übelkeit und leichten Schwindel“ auslöst. Beim abendlichen Einkauf, den sie möglichst schnell tätigen möchte, vergisst sie in der Eile „die zwölf Rollen Toilettenpapier im Sonderangebot“ an der Kasse und muss zurückgehen. Der Autorin gelingt es ausgezeichnet, bei der Schilderung von Natsumis Persönlichkeit in ihrer Unterforderung sowie in ihrem von Selbsthass begleiteten Komplex nur Hausfrau zu sein, psychopathologische Zwischentöne anklingen zu lassen. Die Neigung der Hauptfigur, die Bestände des Markts zu memorieren, trägt leicht zwanghafte Züge, verdeutlicht dem Leser zugleich aber – ebenso wirkungsvoll wie ironisch – die Ausmaße der Konsumgesellschaft der 1990er.
Exkurse in die Phantasie
Während es der Protagonistin in Ermangelung eines zielgerichteten Interesses nicht gelingt, sich über ein Hobby zu verwirklichen oder das Zertifikat einer Kochschule zu erwerben, spielt sie mit der Überlegung, einen Teilzeitjob anzunehmen. Von Seiten ihrer Freundin bekommt sie keinen sonderlichen Zuspruch. Kanai deutet mehrmals an, dass Natsumi dringend irgendeine Perspektive jenseits des Hausfrauendaseins sucht. Zufällig stößt sie auf eine Bücherkiste, in der „dramatische, realitätsferne Romanzen“ günstig feilgeboten werden. Sie erkennt den Wert dieser Lektüre, die zur Flucht aus der unbefriedigenden Gegenwart verhilft, und erwirbt den entdeckten Band, nur um in ein Gespräch mit einem attraktiven jungen Mann zu geraten, als sie das Buch im Café vergisst: Kurzfristig hat die Literatur dergestalt der Heldin tatsächlich romantische Gefühle beschert. Dabei bedauert sie den Umstand, bloß noch als „geschlechtsloses Wesen mittleren Alters“ zu existieren.
Kunst und Akademie
Exkurse zu Texten und Ausstellungen sowie Überlegungen zu Künstlern (erwähnt wird etwa auch die damals in der Öffentlichkeit viel beachtete musikalische Aktivität von Kenzaburô Ôes Sohn, Hikari Ôe; hier: Hikaru) weisen zum einem auf die Kulturszene der 1990er mit ihrem bildungsbürgerlichen Inventar hin, zum anderen darauf, dass die Auseinandersetzung mit künstlerischen Repräsentationen der Realität vermutlich die einzige Möglichkeit birgt, die grauen Kulissen des Alltags zu überwinden.
Natsumi trifft im Kaufhaus Laforet Harajuku auf Kunst in Form einer Ausstellung der Photographen Nobuyoshi Araki und Kineo Kuwabara. Dem schließt sich völlig unvermutet ein distinguierter mehrseitiger Kunstdiskurs an, in dessen Verlauf man bei Araki einen aufgeblähten Phalluskomplex erkennt – erörtert im Gespräch von Redakteurin Matsumoto mit einem Doktoranden. Die Redakteurin aus dem Freundeskreis Natsumis ist erst seit kurzem von einem weniger interessanten Arbeitsplatz zu einem kleinen Verlag gewechselt; sie hat den Mut aufgebracht, ihr Leben zu ändern und kann nun ihr geistiges Potential und ihr Wissen voll ausschöpfen. Die von der Autorin Kanai der im Mediengeschäft beschäftigten Frau in den Mund gelegte Diagnose kollidiert an dieser Stelle aufs schärfste mit Natsumis Beschwerdeführung im Hinblick auf ihren schnarchenden Gatten. Einen starken Kontrast bildet die geschliffene analytische Prosa auch zu den an Glossolalien gemahnenden Auflistungen der Hausfrau. Trotz des subtilen Hinweises zu einem scheinbar erfolgreichen Weg, sein Leben zu ändern, hat Kanai nach wie vor Sympathie mit ihrer in den sprichwörtlich fleischlichen Banden der Familie gefangenen Heldin, deren Gedanken um Hack kreisen, das durch den Fleischwolf muss, und die am Ende des Texts mitten in der Bahn wieder ihr Schwindelgefühl befällt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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