Karl Jaspers

Erinnerung an einen Philosophen

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1.

Es ist an der Zeit, Karl Jaspers neu zu lesen. Als er vor 50 Jahren, am 26. Februar 1969, starb, war er auf dem Gipfel seiner Bekanntheit, allerdings weniger durch seine Philosophie als durch seine politischen Einlassungen. Drei Jahre zuvor war seine Streitschrift Wohin treibt die Bundesrepublik? erschienen, mit der er in die Debatte um die Notstandgesetze und die Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen eingriff. Das Buch, bei weitem nicht sein bedeutendstes, aber sein bestverkauftes, sicherte ihm große öffentliche Beachtung – und trug ihm ansonsten ebensoviel Respekt wie Widerspruch ein. Als Philosoph war Jaspers damals schon weniger prominent. Seine Existenzphilosophie stand bereits im Schatten der Analytischen Philosophie und der Kritischen Theorie, von deren Seite er zum Teil scharfer Kritik ausgesetzt war.

Als hätte sein Ruhm an der Präsenz der Person gehangen, verblasste er nach dem Tod nach und nach. Die Notizen zu Heidegger und der Briefwechsel mit Hannah Arendt fanden noch Aufmerksamkeit. Doch inzwischen fällt der Name Jaspers nur selten in aktuellen Diskussionen. Er scheint in Philosophie-Geschichten abgewandert zu sein und dort ein etwas schattenhaftes Dasein zu fristen. Das Werk, ohnehin in seinem großen Umfang schwer zu fassen, ist ein Fall für die Philosophie-Wissenschaftler geworden, unter denen sich Jaspers zeitlebens fremd gefühlt hat, auch weil er selbst nie Philosophie studiert hat. In Erinnerung geblieben ist er vor allem älteren Semestern als der meistgelesene Philosoph der Nachkriegszeit, der ein großes Publikum nicht nur mit seinen politischen Einreden fand, sondern auch mit seiner Einführung in die Philosophie. Auch das ist allerdings Geschichte. Nicht nur viele seiner „Schriften zur deutschen Politik“, wie der späte Sammelband Hoffnung und Sorge im Untertitel heißt, können kaum mehr als auf ein historisches Interesse rechnen. Auch manche seiner philosophischen Arbeiten sind mittlerweile weitgehend vergessen.

2.

Das philosophische Werk von Karl Jaspers ist außerordentlich umfangreich: Seine drei Hauptwerke, Philosophie, Von der Wahrheit und Die großen Philosophen sind alle um die 1000 Seiten stark. Für viele Leser sind sie schon deshalb abschreckende Monumente des Denkens. Das umfangreichste von ihnen, Philosophie, besteht sogar aus drei Bänden. Bekannt geworden ist Jaspers, 1932, mit seiner Schrift Die geistige Situation der Zeit. Daneben hat er später noch zahlreiche Aufsätze für ein größeres Publikum geschrieben, die er in Bänden wie Rechenschaft und Ausblick oder Philosophie und Welt sammelte. Diese kleinen philosophischen Schriften enthalten den Jaspers für jedermann. Sie zunächst bieten sich für eine neue Lektüre an.

Wer ihn liest, dem fällt es nicht schwer zu sagen, was er an ihm hat oder hatte. In seinen Erinnerungen und Gedanken hat Golo Mann das getan:

Was ich von Jaspers lernte: daß der Mensch immer mehr ist, als er von sich wissen kann, daher sich selber durch sein Tun immer wieder überraschen wird. Daß es Fragen gibt, die als Fragen sinnvoll, sogar unausweichlich sind, ohne daß sie eine zwingende Antwort vertrügen; daß es unlösbare Denkkonflikte gibt; daß jedes behauptete Totalwissen falsch ist und obendrein schaden stiftet (Golo Mann, 329).

Hannah Arendt, die wie Golo Mann bei Jaspers promovierte, ihm im Ganzen allerdings näherstand, nicht nur menschlich, sondern auch philosophisch, hat in der „Zueignung“ ihres Buchs Die verborgene Tradition gleichfalls aufgeführt, was sie von Jaspers gelernt hat: „gewollte Unbefangenheit des Urteils und bewusste Distanz von allen Fanatismen“; die „Haltung des Zuhörens“ und eine „dauernd zur Kritik bereite Toleranz, die von Skepsis gleich weit entfernt ist wie vom Fanatismus und schließlich nur die Realisierung dessen ist, daß alle Menschen Vernunft haben und daß keines Menschen Vernunft unfehlbar ist“ (Arendt, 8). Schließlich verdankte sie ihm auch die Einsicht: „Daß es nur auf die Wahrheit ankommt und nicht auf Weltanschauungen, daß man im Freien leben und denken muß und nicht in einem noch so schön eingerichteten ‚Gehäuse‘“ (ebd.).

Man kann die Reihe der bedenkenswerten Gedanken, die Jaspers formuliert hat, leicht erweitern, von eigenen Lektüren her. Es sind Gedanken wie die: Dass es auf den Einzelnen ankommt. Dass auch das Große schon im Kleinen vorbereitet wird. Dass wir unsere Freiheit nicht selbst erschaffen, sondern dass sie uns gegeben – Jaspers sagte: geschenkt – ist und wir sie nutzen können, ja müssen. Dass wir nur frei sind, wenn es auch die anderen sind, und dass wir es nicht sein können, wenn die Zustände es nicht sind. Dass es immer darum geht, miteinander zu reden – Jaspers sagte: Kommunikation nicht abzubrechen – und das im Umgang nicht nur der einzelnen Menschen miteinander, sondern auch der Gruppen, der Schulen, der Staaten. Dass wir nicht als Sünder geboren werden und doch unvermeidlich Schuld auf uns laden. Und vieles andere mehr.

Das Werk von Karl Jaspers ist ein großer Schatz an Einsichten und Erkenntnissen, die er mitunter in weitausholenden Gedankengängen entwickelte, mitunter aber auch nur aphoristisch knapp formulierte: als Anregungen zum Weiterdenken. Nicht alle waren dazu bereit. Manche haben sie zu erledigen versucht, indem sie sie der Metaphysik zurechneten – wie einen seiner berühmtesten Sätze: „Dass die Gottheit ist, ist genug“ (RuA, 406). Die meisten aber lassen sich nicht so leicht abweisen – dieser auch nicht. Jaspers selbst sprach, ohne sich irritieren zu lassen, von der „Unzuverlässigkeit allen Weltseins“, dem „Sinn der Mystik“, dem „Wissen von Gott“, von „Gut und Böse“ und der „Unumgänglichkeit des Glaubens“ – und das alles in seiner Einführung in die Philosophie.

Aber kann man Karl Jaspers so lesen: unsystematisch, einzelne Gedanken, nicht das Gedankengebäude hervorhebend? Allen, denen es um seine Philosophie geht, wird es ungenügend erscheinen, als zu selektiv. In den vielen aufregenden und anregenden Gedanken mag man die ganze Jaspers’sche Philosophie nicht haben, eher den Philosophen oder den Philosophierenden. Doch Jaspers selbst hat betont, dass es ihm nicht um ein System ging: „Mein Philosophieren stand von Anfang an gegen das System als ein Ganzes, in dem Sein und Wahrheit vor Augen liegt und durch ein Buch zur Darstellung kommt“ (RuA, 430). Dieser „Wille gegen das System schließt den systematischen Ansatz“ aus, der „Ordnung, Zusammenhang, Bezug der Gedanken aufeinander“ (ebd.) sucht. Gegen die „Ordnung“ sollte die „Bewegung“ durchgesetzt werden: die Bewegung des Denkens, die nicht zum Abschluss kommt, nicht einmal durch große Werke. Auch der Philosoph Karl Jaspers ist deshalb darauf angewiesen, verständige Leser zu haben.

3.

Wollte man seine philosophische Leistung knapp und zugespitzt charakterisieren, wäre vor allem Dreierlei hervorzuheben. Jaspers ist zunächst neben Martin Heidegger der bedeutendste deutsche Existenzphilosoph. Kierkegaard und Nietzsche wurden für ihn in den 20er Jahren wegweisend. Die menschliche Existenz dachte er wesentlich von den „Grenzsituationen“ her: den Erfahrungen des Scheiterns wie dem Kampf, der Krankheit, dem Tod, in denen wir an unsere Grenzen gelangen – und im Leiden zu uns selber kommen können: „wir werden wir selbst“ (EidP, 18) in ihnen. Deshalb gilt für Jaspers die Formel von der „Erfahrung des Scheiterns und des Selbstwerdens“ (ebd., 20).

Menschliche Existenz ist für ihn wesentlich Kommunikation. „Die These meines Philosophierens“, hat er 1941 in dem Essay „Über meine Philosophie“ geschrieben, „ist: Der einzelne Mensch für sich allein kann nicht Mensch werden. Selbstsein ist nur in Kommunikation mit anderem Selbstsein wirklich“ (RuA, 413). Auch wenn Jaspers immer wieder die „Kommunikation mit dem Menschen“ (ebd., 214), also die des einen Einzelnen mit einem anderen betont, hat er sie doch weiter gefasst. „Kommunikation“, heißt es etwa, „ist der Weg zur Wahrheit in allen ihren Gestalten. Schon der Verstand wird sich klar nur in der Diskussion. Wie der Mensch als Dasein, Geist, Existenz in Kommunikation steht oder stehen kann, das läßt alle andere Wahrheit erst zur Erscheinung kommen“ (ebd., 416).

Anders als für Heidegger waren dabei für den Existenzphilosophen Jaspers zwei Begriffe zentral, die er zum Titel einer seiner Schriften gewählt hat: Vernunft und Freiheit. Jaspers verschrieb sich dem „Willen aus Vernunft zur Vernunft“ (PA, 127). Er unterschied Wissenschaft von Philosophie, aber er lehnte die Wissenschaft nicht ab. Für ihn, den promovierten und habilitierten Mediziner, musste die Philosophie durch die Wissenschaft hindurchgegangen sein, um zu ihren eigenen Wahrheiten gelangen zu können. Sie waren für ihn nicht einfach irrational, sondern mehr als rational: ‚ursprünglich‘, nicht weiter ableitbar, auf andere Weise nicht zu gewinnen. Wenn die Philosophie zu solchen Einsichten zu gelangen vermag, rechtfertigt sie ihre Existenz.

Es ist eine zweite Eigenart des Denkers Jaspers, dass er die Existenzphilosophie mit der politischen Philosophie verband. Man hat sie oft auf seine jeweils aktuellen Einlassungen zur deutschen Politik reduziert. Tatsächlich ging es ihm um mehr – vor allem darum, die philosophischen Grundlagen der Politik bewusst zu machen, keineswegs nur der deutschen. Auch wenn er selbst in der Schweizer Emigration vom Deutschen und den Deutschen nicht loskam, dachte er europäisch, ja kosmopolitisch. Im „Drang nach Freiheit“ erkannte Jaspers den ‚europäischen Geist‘: existenzphilosophisch als „Tiefe menschlicher Kommunikation selbstseiender Einzelner“ und politisch als „bewußte Arbeit an der Freiheit der öffentlichen Zustände durch die Formen gemeinschaftlicher Willensbildung“. Den „Willen zur politischen Freiheit“ wollte er als politischer Schriftsteller ausdrücklich „heller und entschiedener werden lassen“ (Wtdb, 179).

Den Wert der politischen Freiheit machte Jaspers sich spätestens während der 30er Jahre bewusst, als er seine Professur in Heidelberg verlor, weil er sich weigerte, sich von seiner jüdischen Frau Gertrud zu trennen. Mit ihr war er bereit, in den Tod zu gehen; nur der frühzeitige Einmarsch der amerikanischen Truppen in Heidelberg bewahrte das Ehepaar vor der Deportation.

Die Erfahrung der Ohnmacht des Einzelnen gegenüber einem „Verbrecherstaat“ (SuW, 174) hat Jaspers nicht nur von einem bestimmten deutschen „Nationalbewußtsein“ (HuS, 221) distanziert. Als Konsequenz aus ihr hat er ein grundsätzliches Misstrauen gegen den Nationalstaat entwickelt: „Wie sehnsüchtig“, schreibt er in seiner Philosophischen Autobiographie,

suchte ich eine Instanz über den Völkern, ein Recht, das über den Staaten dem Einzelnen, der von seinem Staat rechtlos vergewaltigt wird, rechtlich helfen kann! Wo unmenschliches Unrecht geschieht, da sollte es, so dachte ich, einen Schutz gegen den Staat geben, der das Verbrechen begeht. Die Solidarität aller Staaten allein könnte diese übergeordnete Instanz sein. (PA, 79)

Die Krise des Nationalstaates verlangte für Jaspers nach einer neuen internationalen Ordnung. Er hat sie gelegentlich, wie in seinem Vortrag Vom europäischen Geist, als „Weltordnung“ mit „bedingungsloser Geltung der Rechtsidee“ (VeG, 24) oder in Freiheit und Wiedervereinigung als „Verwirklichung der Freiheit im Gesamtleben konföderierter Staaten“ (HuS, 240) umschrieben. In seiner Philosophischen Autobiographie hat sich Jaspers schon 1957 zum „Weltbürgertum“ bekannt (PA, 79). Bezeichnenderweise ist Hannah Arendt die erste gewesen, die ihn im Nachwort zu The Philosophy of Karl Jaspers als „Citizen of the World“ charakterisiert hat. Jaspers selbst hat immer wieder die „Einheit der Menschheit“ (EidP,  82) betont, die in der Kommunikation hergestellt wird: im Reden miteinander auch dann noch, wenn keine Einigung sich abzeichnet.

Die Wendung zum kosmopolitischen Denken hat Jaspers auch dazu gebracht, sich mit außer-europäischem Denken zu beschäftigen. Neben der Philosophischen Logik gehört die Weltgeschichte der Philosophie zu seinen großen Alters-Projekten. Beide hat er nicht abschließen können, auch weil er sich immer wieder von der Politik ablenken ließ. Die Vorarbeiten zur Logik waren allerdings weiter gediehen als die zur Philosophiegeschichte, als er starb.

Das kosmopolitische Denken hat schließlich Jaspers auch als philosophischen Schriftsteller geleitet. In seiner Philosophischen Autobiographie hat er zwei Sätze über sich geschrieben, die sein Selbstverständnis als Philosoph und Autor verraten:

Ich wünschte das Philosophieren, das dem Menschen als Menschen zugänglich und überzeugend sein kann, aber nicht als esoterische Angelegenheit vereinzelter Aristokraten. Vielmehr möchte ich gleichsam als Mann auf der Straße mit dem Mann von der Straße sprechen. (PA, 126)

Das Bild vom Denker, der mit allen und zu allen reden kann, passt nicht auf jeden Philosophen. Karl Jaspers, der Philosophie-Professor, war weder ein Mann von der Straße noch ein Mann auf der Straße. Von früh auf leidend, hat er sein Leben zwischen Hörsaal und häuslichem Arbeitszimmer verbracht. Wenn er, wie es aus seiner Heidelberger Zeit berichtet wird, abends auf die Straße ging, dann nicht, um mit anderen zu sprechen, sondern um etwas für seine Gesundheit zu tun. Den Mantelkragen hochgeschlagen, eilte er mit großen Schritten an den Menschen vorbei. Als Mann auf der Straße mit dem Mann von der Straße zu sprechen, mag sein Wunsch gewesen sein. Aber es war nicht die Idee, nach der er leben konnte.

Gleichwohl gilt das Wort auch für ihn, allerdings in einem übertragenen Sinn. Mit der Zeit, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde Jaspers zu einem Autor, der auch für Leser schreiben wollte, die keine studierten Philosophen sind, damit sie Zugang finden konnten zu dem, was er im Denken erkannt hatte. Für den Mann von der Straße zu schreiben, „dem Menschen als Menschen zugänglich und überzeugend“, ist bei Karl Jaspers ein weltbürgerliches Unterfangen. Es ist in seiner Überzeugung begründet, dass Philosophie alle angeht und dass jeder sie verstehen kann oder verstehen können sollte. Höher kann man weder von der Philosophie noch vom Menschen denken.

4.

Vor allem als Philosoph der menschlichen Kommunikation, der existenziellen und der politischen Freiheit und des Kosmopolitismus, der Einheit der Menschheit jenseits ihrer bloßen „Verkehrseinheit“ (DAudZdM, 112) ist Jaspers neu zu lesen. Dabei ist dieser gründliche Denker auch als eine geistige Persönlichkeit eigenen Rechtes zu entdecken. Was ihr fehlt, liegt auf der Hand: der Charme des Leichten, Humor, Witz, aber auch jede Zweideutigkeit, wie sie der Ironiker pflegt, unverbindliches Spiel mit Worten, wie es der Artist, auch der philosophische Artist, betreibt, damit verbunden schließlich bei aller Bildung der Sinn für den eigenen Wert und die Tiefe des Schönen. Karl Jaspers hatte seinen eigene Stil, aber er war kein Stilist. Das Schöne stand ihm im Verdacht, unverbindlich zu sein. So schuf er sich eine eigene Begrifflichkeit, auch eine eigene Sprache, hielt aber Abstand zur Dichtung, zog eine klare Grenze zwischen Philosophie und Poesie und beobachtete die ‚Literaten‘ mit Misstrauen.

Was ihn als philosophische Persönlichkeit auszeichnet, ist ebenso deutlich. Da ist zunächst ein eigener Ernst: der Ernst, mit dem man sich den wichtigen Dingen nähert, die zumeist auch die schweren sind, weil sie mit Scheitern und Leiden verbunden sind. Sie wollte Jaspers ergründen, nicht zuletzt, um über sie hinauszugelangen. Von ihm könnte man sagen, was er von dem Menschen Jesus behauptet hat, der ihm kein Christus war: dass seine „Wirklichkeit“ das „Wagen“ gewesen sei: „die Wahrheit zu sagen und wahr zu sein“ (DgP, 207).

Jaspers hätte das allerdings von sich selber nicht gesagt. Zu seinem Ernst gesellte sich nicht nur Sachlichkeit, sondern auch Nüchternheit und Zurückhaltung, wie man sie seinen Oldenburger Landsleuten gelegentlich nachsagt. All das verbindet sich mit einer gewissen norddeutsch-protestantischen Strenge, die kein Ausweichen zulässt, sondern ein Wissen-Wollen ist: Bemühung um Wahrheit, auch schmerzliche.

Sie schließt, selbstredend, ein Absehen von sich, von bloßer Subjektivität ein. Jaspers ließ sich noch in seiner Philosophischen Autobiographie nicht zu privaten, gar intimen Bekenntnissen hinreißen, er vermied jede Leichtfertigkeit und übte eine „Disziplin des Behauptens“ (PA, 409). Er phantasierte nicht, und er spekulierte nicht. Er polemisierte auch kaum. Er ließ gelten, was der Prüfung standhielt, und verwarf, was sich nicht halten ließ. Widerspruch war ihm ein Mittel der Wahrheitsfindung. Das gehörte für ihn zu dem Versuch, den Worten und den Dingen auf den Grund zu gehen. Dass dieser erhoffte Boden meist schwankend, oft gar nicht zu finden ist, zählt zu den wichtigsten Einsichten, die Jaspers vermitteln wollte.

Seine Bücher, die auch stilistisch unterschiedlich sind, entfalten einen Reichtum des Denkens, der daher rührt, dass er nicht einfach alles beiseite räumen wollte, was von ihm gedacht worden war, sondern es aufnehmen und nach Möglichkeit sich anzueignen versuchte. Das ist sein Respekt vor der Tradition, der einen Geist der Prüfung nicht ausschließt, sondern sich ihm verdankt.

Am Ende drängt sich für die philosophische Persönlichkeit des Karl Jaspers ein Begriff auf, mit dem er sparsam umgegangen ist: Noblesse. Was sie ausmacht, hat er in einer seiner Notizen über Heidegger versucht allgemein zu definieren: als die „Unterscheidung von wahr und falsch, von gut und böse“, als „Distanz zu sich selber und zu anderen“, als „Sachlichkeit“ und „Redlichkeit“ – ein etwas aus der Mode gekommenes Wort, das auf wenige so passt wie auf Jaspers. Das alles kennzeichnet auch sein philosophisches Schreiben. Dessen oberste Maxime hat er denkbar knapp formuliert: „Das Wort gilt“ (NzMH, 244).

Literaturhinweise

Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit. München, Zürich Neuausgabe 1982 (DAudZdM).

Karl Jaspers: Die großen Philosophen. Erster Band. Neuausgabe München, Zürich 1988 (DgP).

Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie. Neuausgabe München, Zürich 1971 (EidP).

Karl Jaspers: Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945-1965. München 1965 (HuS).

Karl Jaspers: Notizen zu Heidegger. Hg. von Hans Saner. München 1978 (NzH).

Karl Jaspers: Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe. München 1977 (PA).

Karl Jaspers: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze. München 2. Aufl. 1958 (RuA).

Karl Jaspers: Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften. Hg. von Hans Saner. München 1967 (SuW).

Karl Jaspers: Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen. Bremen 2. Aufl. 1947 (VuE).

Karl Jaspers: Vom europäischen Geist. Vortrag gehalten bei den Rencontres Internationales de Genéve September 1946. München 1947 (VeG).

Karl Jaspers: Weltgeschichte der Philosophie. Einleitung. Aus dem Nachlaß hg. von Hans Saner. München, Zürich 1982 (WdP).

Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren. Chancen. München 1966 (WtdB).

 

Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a.M. 1976.

Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt a.M. 1986.

 

Anmerkung der Redaktion: Dieter Lamping ist Autor des 2018 erschienenen Buches „Karl Jaspers als philosophischer Schriftsteller“, auf das wir in der Oktober-Ausgabe 2018 hingewiesen haben.
Nachtrag: Dieter Lamping in der Sendung WDR ZeitZeichen zum Todestag des Philosophen  Karl Jaspers (Autor: Christoph Vormweg) am 26.2.2019, 14:46 Min.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz