Das Schicksal einer Sprachalchemistin
Mieko Kawakamis Roman „All die Liebenden der Nacht“ kreist um die Metapher des Lichts
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMieko Kawakamis All die Liebenden der Nacht enthält mehrere Anspielungsebenen. Zum einen handelt der Text von einer Frau Mitte dreißig, die als freiberufliche Lektorin von Manuskripten in der Kulturbranche tätig ist. Zum anderen erörtert er die Frage, inwieweit es der sensiblen Protagonistin möglich sein wird, ein Trauma aus der Adoleszenzzeit zu überwinden und zu einer idealen schöpferischen Lebensweise zu finden – ohne Hilfe von Alkohol im Alltag.
Die Einsamkeit der Korrekturleserin
Fuyuko Irie war nach ihrem Universitätsabschluss zunächst bei einem kleinen Verlag beschäftigt, gab die Stelle jedoch auf, da sie sich dort im Hinblick auf die gewünschte soziale Interaktion überfordert fühlte. Die gehemmte Protagonistin hat also, wie es häufig in japanischen Texten der Fall ist, gewisse Schwierigkeiten, sich in die kollektivistische Gesellschaft des Landes einzufügen. Arbeitsaufträge erhält sie von Hijiri Ishikawa aus der Korrektoratsabteilung eines bekannten Verlagshauses. Es entwickelt sich über das rein Berufliche hinaus ein freundschaftlicher Kontakt mit der Gleichaltrigen, zumal sie die extrovertierte „Frau mit Talenten“ für ihre elegante Erscheinung und ihre Durchsetzungskraft bewundert. Während Hijiri lockere Beziehungen zu verschiedenen Männern unterhält, bleibt Fuyuko allein. Ihre unbedingte Leidenschaft für die seriöse Buchproduktion bedingt ein fast klösterlich diszipliniertes Dasein in strenger Konzentration auf die Manuskripte – ein Umstand, der ihrem Charakter entspricht, mit dem sie sich aber auch erst für die kommenden Dekaden, d.h. in lebenslanger Perspektive, innerlich einverstanden erklären muss.
Eine Thermoskanne mit Sake
Während sie sich mit ihrer Betreuerin vom Verlag über Probleme mit Geschlechtsgenossinnen und Ausgrenzungserfahrungen in den von Männern dominierten Sozialstrukturen austauscht, spürt Fuyuko eine wachsende Unzufriedenheit mit sich. Ihr Spiegelbild in einem Fenster stößt sie beinahe ab:
Die Frau, die mir entgegensah, war ich. In Strickjacke und verwaschenen Jeans. Vierunddreißig Jahre alt. Allein. Eine erbärmliche Frau, die selbst hier in der Stadt und bei schönstem Wetter nicht wusste, wie man lebt.
Bis sie mit Hijiris Maxime harmoniert, die da lautet „Ich will mein Handeln selbst bestimmen“, hat die Protagonistin noch einige Stadien – sozusagen vom Lehrling über den Gesellen zum Meister – zu durchlaufen. Eine erste Veränderung ihrer stagnierenden Existenz beginnt durch die Begegnung mit einem Rauschmittel: Auf die Freuden alkoholischer Getränke macht Hijiri die bislang abstinente Fuyuko aufmerksam. Diese genießt die temporäre Befreiung vom eigenen Ich, gerät jedoch bald in die bedenkliche Lage, nicht ohne eine Thermoskanne mit Reiswein außer Haus gehen zu können.
Verwandlung und Entfaltung
Bier und Reiswein, kontinuierlich zugeführt, versetzen die junge Frau in einen Zustand, in dem sie sich unter Menschen wagt, der es aber auch mit sich bringt, dass die Grenzen zwischen „Zeit und Ort“, Realität und Traumwelt, verschwimmen:
Dank der vier Dosen Bier und dem Sake, den ich auf der Bahnhofsbank getrunken hatte, als ich auf den Zug wartete, war ich recht gelöster Stimmung, genauer gesagt: ziemlich angetrunken.
Ihr steht nun der Sinn nach mehr Geselligkeit und Unterhaltung. Sie sucht ein Gemeindezentrum in der Nähe der Bahnstation Shinjuku auf, das mannigfache Kurse anbietet. Es gilt, eine Nummer zu ziehen und zu warten, bis man an der Reihe ist. Fuyukos Anmeldeversuch misslingt aufgrund einer heftigen Übelkeitsattacke. Dafür macht sie die Bekanntschaft eines älteren Herrn. Er stellt sich ihr mit dem Familiennamen Mitsutsuka vor. Von Beruf sei er Physiklehrer. Fuyuko fühlt sich in seiner Gegenwart wohl:
Im allgegenwärtigen Sommer um uns herum leuchteten unzählige Lichter, von Schildern, von Straßenlaternen, von Autos, aber das Licht, das von Herrn Mitsutsukas Poloshirt ausging, war kein sommernächtliches Licht. Ich ließ mich ein wenig zurückfallen und betrachtete Herrn Mitsutsukas Rücken. Herr Mitsutsuka ging leicht vornübergebeugt, die Schulter mit der Umhängtasche aus Nylon, von der ich nicht wusste, was sie enthielt, die aber schwer zu sein schien, ein wenig nach vorne gezogen; ein Lehrer dachte ich. Und der Rücken schimmerte tatsächlich weiß. Er kam mir vor wie eine große Postkarte, ein winterlicher Gruß.
Allmählich entwickelt sich die platonische Beziehung hin zu mehr. Die Einsame offenbart ihre Zuneigung und Verletzlichkeit, wobei der Mann ihr eröffnet, sie ebenfalls zu begehren. Durch Mitsutsukas Akzeptanz gelangt Fuyuko endlich zu einer positiveren Selbstsicht. Was sich als Liebesgeschichte lesen lässt, verwandelt sich kurz nach den gegenseitigen Bekenntnissen in ein phantastisches und allegorisches Szenario – ohne dass die Liebe der beiden Erfüllung finden soll.
Post-Fukushima-Literatur und literarische Phantastik
Im japanischen Original erschien Subete mayonaka no koibitotachi in der Septemberausgabe des Literaturmagazins Gunzô, d.h. etwa ein halbes Jahr nach der Dreifachkatastrophe von Fukushima. In diesem Zusammenhang erklären sich manch versteckte Hinweise auf die Figur des Mitsutsuka. Sein eher seltener Name stammt dem japanischen Namenshäufigkeitsindex zufolge aus der Gegend von Kesennuma in der Provinz Miyagi – ein Ort, der besonders schwer von den Ereignissen von „3/11“ getroffen wurde.
Das mit dem „Lehrer“ assoziierte Licht sowie die Bemerkung, sein Rücken schimmere weiß, legt im Kontext „Fukushima“ interpretiert nahe, dass er einen Geist darstellt. Als Geistererscheinung mag er nur eine Manifestation ihrer Psyche sein, begünstigt eventuell von alkoholinduzierten Tagträumen. Die wandernde Seele könnte innerhalb des literarischen Konstrukts auch die eines im März 2011 in Kesennuma umgekommenen Lebensmitteltechnikers (Mitsutsuka korrigiert sich später dahingehend) sein, dessen letztes irdisches Wirken der „Heilung“ der jungen Frau gilt. Mit Fuyukos Reifung und ihrer Bereitschaft, das Moratorium einer traumatischen Vergangenheit zu verlassen, entschwindet der neu gewonnene Freund spurlos, was sie – als Beleg der Geisterthese – dann nicht so sehr quält, wie man es bei einem solchen herben Verlust hätte erwarten können. Freilich spräche ihre rasche Loslösung von der (imaginierten) Zweisamkeit für eine geglückte Anpassung an die neue Normalität. Insofern hätte „Fukushima“ ein textinternes Echo bewirkt, obwohl das Ereignis nie erwähnt wird.
Sprache und Alchemie
Nach der Ganzwerdung traut sich die Heldin zu, selbstbestimmt auf dem von ihr eingeschlagenen Weg der konzentrierten Kulturarbeit weiter voranzugehen – jenseits gesellschaftlicher Normen und Verhaltensvorschriften für Frauen. Die mittlerweile schwangere Hijiri erreicht ihr persönliches Stadium vollkommener weiblicher Emanzipation durch den Entschluss, als unverheiratete Mutter ein Kind großzuziehen. Fuyukos gewachsener Mut befähigt sie offenbar dahingehend, dass sie nicht nur Spracharbeiterin auf sekundärer Ebene bleibt, sondern eine Position in der Meisterklasse anstrebt – als Schöpferin eigener Texte.
So gesehen zeichnet die Schriftstellerin mit der Metapher „Licht aus dem Schatten“ die erfolgreiche Transformation einer Autorinnenpersönlichkeit nach – aus der Dunkelheit passiv gepolter solipsistisch-manischer Melancholie hin zur lichtdurchfluteten Zone aktiver Kreativität. Am Ende verweist sie selbstreferentiell auf das Entstehen des eigenen Textdestillats: Fuyuko und Herr Mitsutsuka sind Wesen aus dem Sprachlabor der Mieko Kawakami, die gerade den Roman All die Liebenden der Nacht vollendet hat.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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