Zwei Omegas? Destruktive Gruppendynamik in einer japanischen Schulklasse

Mieko Kawakami operiert in „Heaven“ mit der Psychologie des Mobbings

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das japanische Original von Heaven publizierte die in Japan derzeit sehr präsente Schriftstellerin Mieko Kawakami schon im Jahr 2009. Insofern stammt der Text aus der zero nendai (2000er)-Phase der zeitgenössischen japanischen Literatur, also der Dekade, in der die Regierung Koizumi die neoliberalen Reformen lancierte und die Medien vom Prekariats-Boom geprägt waren.

Gesellschaftliche Spannung und Spaltung

Der Strukturwandel brachte, wie man es damals formulierte, Gewinner (kachigumi) und Verlierer (makegumi) hervor. Die Stimmung war dementsprechend düster. Man registrierte einen Niedergang des Landes, eine sich vergrößernde soziale Spaltung und allgemeine Hoffnungslosigkeit unter den jüngeren Japanern. Diese standen als „Lost Generation“ einer ungewissen Zukunft gegenüber. Heaven spiegelt die psychosozialen Spannungen dieser Phase wider und kann deshalb auch als Zeitdiagnose adoleszenter mentaler Zerrüttung gelesen werden.

Angriffe auf die Schwachen

Kawakamis Text schildert die Gruppendynamik einer Schulklasse, in der der 14-jährige Erzähler sowie seine Kameradin Kojima ausgegrenzt werden. Das Mädchen scheint mit ihrer abgetragenen Kleidung und ihrem ungepflegten Äußeren dem Prekariat anzugehören, der Protagonist, der die Geschehnisse erzählt, hat ein „schielendes Auge“ – beide erfahren eine heftige Diskriminierung: Was als verbaler Angriff beginnt, steigert sich allmählich bis hin zu böswilligen Streichen und zu körperlichen Attacken, in Japan seit den 1980er Jahren als ijime bekannt. 

Der Ich-Erzähler überlegt, wie es zu der Situation gekommen sein mag und welche Lösungsmöglichkeiten es für ihn gäbe, jenseits des Selbstmords und des fatalistischen Sich-Fügens: „Warum wehrte ich mich nicht? Warum ergab ich mich einfach? Was hieß das: sich ergeben? Wovor hatte ich Angst? Was ist Angst?“. Die gemobbte Mitschülerin entdeckt in ihm die verwandte Seele und teilt sich ihm zunächst in anonymen Briefchen mit. Schließlich entwickelt sich zwischen den beiden eine vorsichtige Freundschaft. Man berichtet sich von Ferienerlebnissen, Lektüren und von den familiären Belastungen. Kojima leidet unter der Trennung von ihrem leiblichen Vater, von dem sich ihre Mutter scheiden ließ. Sie identifiziert sich stark mit dem erfolglosen Kleinunternehmer, der die Schuld für den Bankrott klaglos auf sich nahm. Mit ihrer erneuten Heirat hat die Mutter nun keine finanziellen Sorgen mehr, die Tochter könnte zu den privilegierten Schülerinnen zählen, wenn sie sich nicht aus eigenem Antrieb für die Armut entschieden hätte. Die Familie des Protagonisten ist von Anfang an eine wohlhabendere, wobei das Problem aber ebenfalls die Abwesenheit des Vaters ist – in diesem Fall scheint das Familienoberhaupt vorrangig mit dem Geschäft befasst. Mit der Mutter versteht sich der Schüler gut, seine Probleme behält er allerdings für sich.

Die Wächterin der Würde

Allmählich steigert sich das aggressive Verhalten der Mitschüler gegen den Protagonisten. An diesem Punkt gelingt der Autorin eine sehr dichte Beschreibung der gewalttätigen Gruppendynamik und der Haltung der zwei Ausgestoßenen. Deren passiven Widerstand stellt sie als Position der Stärke dar. Wer die Grenzen von Mitmenschen verletzt, greift damit auf ein bewährtes Herrschaftsmittel zurück. Doch der, der quält und durch Beschämung Macht gewinnen will, lädt die Schuld der Integritätsverletzung des Gegenübers auf sich und wird mit der Scham der Täter konfrontiert. Scham ist die Wächterin der Würde des Menschen, wie eine Denkfigur des Psychiaters und Psychoanalytikers Léon Wurmser (1931-2020) besagt. Kojima deutet die wachsende Wut ihrer Klassenkameraden und -kameradinnen insofern zurecht als Spiegel eigener Versagensängste und Minderwertigkeitsgefühle.

Am Ende der Geschichte hat das Mädchen die Sehnsucht des Menschen nach Zugehörigkeit völlig überwunden und auch die Beziehung zum Erzähler aufgegeben, als der sich – auf den Rat eines verständnisvollen Arztes hin – mit dem Gedanken trägt, eine Augenoperation vornehmen zu lassen. Die OP würde seinen Status verändern, denkt die enttäuschte Kojima. In der letzten starken Szene der Erzählung stellt sie sich der Gruppe Gleichaltriger, die sie und ihren früheren Leidensgenossen ultimativ demütigen wollen, um wiederum die Täter nachhaltig zu beschämen. Nach dem Rangdynamik-Modell des Psychotherapeuten Raoul Schindler (1923-2014), das destruktive Tendenzen in Gruppen, wie z.B. Mobbing, kategorisiert, entsprechen die Rollen Kojimas und des Erzählers dem Omega-Typus. Dieser stellt den Gegenspieler des Alpha dar. Ein Omega repräsentiert die Antithese der Gemeinschaft: Es wird aus dem Team gedrängt, wenn dieses die Wichtigkeit von Antithesen nicht anzuerkennen vermag.

Alles wird gut?

Während Kawakamis Schulerzählung in weiten Teilen äußerst gelungen ist, lässt der Schluss mit seiner schnellen – durch die Augenoperation herbeigeführten – Wende zum Positiven ein wenig Zweifel aufkommen. Gelang es dem Protagonisten tatsächlich, die Freundin Kojima ohne Weiteres aus seinen Gedanken zu verbannen? Konnte die angegriffene Psyche des Jungen nach dem letzten Schockerlebnis so rasch genesen oder war es Verlagskalkül, dass man den Text doch lieber mit den Motiven „Heilung“ und „Hoffnung“ hatte ausklingen lassen wollen? In eine Reihe von literarischen Repräsentationen jugendlicher Grausamkeit, die in der gegenwärtigen und zeitgenössischen Literatur – von Yukio Mishima über Ryû Murakami und Miri Yû bis hin zu Natsuo Kirino – einige eindrucksvolle Beispiele vorweisen kann, gliedert sich Heaven allerdings nahtlos ein.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Mieko Kawakami: Heaven.
Aus dem Japanischen von Katja Busson.
DuMont Buchverlag, Köln 2021.
192 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783832183745

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