Wenn uns die Zukunft unserer Kinder den Schlaf raubt
In Verena Keßlers Roman „Eva“ sind die Frauen mit der Frage konfrontiert, wie der Klimawandel das Muttersein verändert
Von Miriam Seidler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJosi möchte Urwaldforscherin werden. Die Grundschülerin ist nicht nur von Tieren – von der Assel bis zum Faultier – fasziniert, sondern ihr großes Ziel ist es, ein Lebewesen zu entdecken, das dann nach ihr benannt werden kann. Für dieses Ziel ist das Mädchen bereit, viel zu tun, zum Beispiel Mathe zu lernen, obwohl sie das Fach nicht mag. Wie wichtig Ziele sind, zeigt dieses kleine Beispiel aus Verena Keßlers neuem Roman Eva. Dabei ist die kleine Josi nur eine Nebenfigur anhand derer die Frage verhandelt wird, wie wir unseren Kindern erklären, dass ihre Zukunftspläne durch den Klimawandel durchkreuzt werden, da sich die Welt, so wie wir sie heute kennen, in den kommenden Jahren und Jahrzehnten radikal verändern wird. Und so stehen im Zentrum dieses so klugen wie nachdenklich machenden Romans nicht die Kinder, sondern die Frage, was es in der Gegenwart bedeutet, Mutter zu sein.
Im Roman werden vier Frauenfiguren in einem Zeitraum von rund sechs Jahren in jeweils sehr unterschiedlichen Lebenssituationen gezeigt:
Die Journalistin Sina ist seit einiger Zeit mit Milo zusammen. Milo ist ein Familienmensch und möchte gerne selbst Kinder haben. Sina ist sich nicht so sicher, ob sie tatsächlich in der Lage ist, ein Kind großzuziehen. Sie fürchtet sich davor, Mutter zu werden, und ist letzten Endes froh, dass sie nicht schwanger wird. Dennoch ist die Ursachensuche für sie eine Tortur, wird ihr doch immer wieder signalisiert, dass mit ihrem Körper etwas nicht in Ordnung ist, schließlich bringen die verschiedenen Untersuchungen keinen negativen Befund. Biologisch kann sie schwanger werden und doch ist ihre mehr oder weniger regelmäßige Periode mit einem Moment des Scheiterns verbunden, da sie Milo wieder enttäuschen muss. In diesem ersten Romanteil beschreibt Verena Keßler sehr ausführlich die Ängste und Sorgen von Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch. Sinas Selbstzweifel werden indes durch ein Interview weiter genährt, das sie mit Eva Lohaus führt. Die Lehrerin hat in ihrem Essay Verhüten rettet Leben dafür plädiert, aufgrund des Klimawandels keine Kinder zu bekommen. Im Interview formuliert sie ihre These sehr pointiert:
Ich sage, keine Kinder zu bekommen erspart Leid. Es muss allen klar sein, dass jedes Kind, das heute geboren wird, die Folgen der Klimakrise mit voller Härte zu spüren bekommen wird. Sehr wahrscheinlich wird es Ressourcen-Kriege geben, die den gesamten Planeten betreffen. Das Beste, was Eltern für ihre Kinder tun können, ist, sie gar nicht in die Welt zu setzen.
Obwohl Sina durchaus mit den Thesen von Eva Lohaus sympathisiert, lässt sie sich von Milo beeinflussen und schreibt einen kritischen Aufmacher zum Interview, der Lohaus vorwirft, dass sie selbst einen Hund hält und anderen nicht zugesteht, Kinder zu haben. Dieser Aufmacher führt nicht nur zu sehr kontroversen Diskussionen in den sozialen Medien, sondern auch zu persönlichen Angriffen auf Eva Lohaus. Als ihr Hund getötet wird, fühlt sie sich zunehmend bedroht.
Im zweiten Teil wird aus der Perspektive von Eva Lohaus erzählt. Sie hat sich in der Schule beurlauben lassen. Da in den sozialen Medien ihre Privatadresse kursierte, hat sie sich ein Haus auf dem Land gekauft. Sie hat Schwierigkeiten, sich an das Landleben zu gewöhnen, bekommt allerdings Unterstützung von der Nachbarstocher Josi. Diese scheint mit ihrem Vater alleine auf einem Hof zu leben. Da der alleinerziehende Vater nachts im Schlachthof arbeitet, ist Josi viel alleine und verbringt ihre Nachmittage zunehmend bei Eva Lohaus, die schnell eine Mutterrolle für die Schülerin einnimmt – bis sie ihr sagt, dass sie ihre Zukunftspläne sehr wahrscheinlich nicht verwirklichen kann, da der Klimawandel schon bald die Urwälder zerstören wird.
Der folgende Teil widmet sich Sinas Schwester Mona. Die dreifache Mutter wurde bereits im ersten Teil aus Sinas Perspektive beschrieben. Nun wird dieser die Innensicht der Figur gegenübergestellt. Auch dieser Teil enthält immer wieder Rückblenden auf Monas Erfahrungen mit der Mutterschaft. Nachdem sie mit ihrem Sohn Ben ungewollt schwanger war, beschließen ihr Lebensgefährte Roman und sie, noch ein zweites Kind zu bekommen. Aus dem Geschwisterchen für Ben werden die Zwillinge Ella und Tilda. Hat Mona sich vorab nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob sie Kinder haben möchte, so ist sie zunehmend von ihrem Mutterdasein überfordert. Nicht nur fällt es ihr schwer, sich auf die Kinder einzulassen – die Idee, ein zweites Kind zu bekommen, war vor allem von dem Wunsch motiviert, nicht mehr selbst mit ihrem Sohn spielen zu müssen, da die Geschwister gemeinsam spielen können – sie leidet zunehmend unter Schlafproblemen, da sie diffuse Zukunftsängste entwickelt. In ihrer Not ergreift sie die Gelegenheit, mit Sina nach Ibiza zu fliegen, als deren Beziehung mit Milo in die Brüche geht. Hier kommt sie nur langsam zur Ruhe – zumal Roman die Erwartung hat, dass sie auch aus der Ferne rund um die Uhr am Familienleben teilnimmt.
Die vierte Frau bleibt namenlos. Sie war früher Sekretärin an der Schule, an der Eva Lohaus unterrichtet hat, ist aber nach dem Tod ihres Sohnes, der an einer nicht näher beschriebenen unheilbaren Krankheit gestorben ist, nicht mehr in der Lage, an der Schule zu arbeiten. Nun ist sie in einem Modehaus beschäftigt und zieht sich immer mehr aus dem Leben zurück. In dem Haus, in das sie zieht, lebt Mona mit ihren Kindern. Besonders problematisch ist inzwischen deren Beziehung zu Ben. Es wird angedeutet, dass sich der Junge Klimaaktivsten angeschlossen hat und in dem gemeinsamen Protest seine Ängste und die Wut auf die Gesellschaft kanalisiert.
In einem Roman, in dem es um Kinder geht, spielen natürlich auch Männer eine Rolle. So ist jeder Frauenfigur ein Mann zugeordnet. In ihrer Diversität geben sie einen guten Überblick über gesellschaftliche Männerrollen, allerdings sind sie sehr schemenhaft gezeichnet und kommen bei Verena Keßler durchweg nicht gut weg: So lebenslustig Sinas Lebensgefährte Milo gezeichnet ist, so oberflächlich ist er. Klar ist allerdings, dass er nur eine Beziehung mit einer Frau führen wird, die ihm seinen Kinderwunsch erfüllt. Eva Lohaus ist bereits seit ihrem Studium mit Georg in einer offenen Beziehung, die dieser mit einer SMS aufkündigt, nachdem er eine andere Frau geschwängert hat. Die namenlose Frau hat ein gegenteiliges Verhalten erlebt: Als sie ihrem damaligen Freund berichtete, dass sie schwanger ist, hat er sie verlassen. Als die aufgrund ihrer Schlafprobleme völlig erschöpfte Mona mit ihrer Schwester in den Urlaub fährt und sich damit eine Auszeit von der Familie gönnt, kommt es zu einem bezeichnenden Dialog mit ihrem Mann Roman:
„Wieso kann sie nicht allein fliegen?“, hatte Roman ein paar Tage vor unserer Abreise gefragt und mich dabei über den fleckigen Badezimmerspiegel angesehen. […]
„Sei nicht so.“ Ich räusperte mich. Meine Stimme klang seltsam fremd. „Ich wäre auch nicht gern allein, würden wir uns trennen.“
„Wärst du ja nicht.“ Er kam auf mich zu, gab mir einen Kuss. Sein Mund war noch nass vom Zähneputzen. „Ich würde dir die Kinder dalassen.“
Dieser locker dahingesagte Satz beschreibt für viele Frauen eine gnadenlose Realität. Nach wie vor sind sie es, die für die Kinder alltäglich da sind. Eine Trennung bedeutet für den Mann, dass er seine Freiheit wiedergewinnt, wohingegen die Verantwortung, die auf einer Frau lastet, sich durch die Trennung vergrößert. Nicht nur scheint Roman die psychische Notlage seiner Frau nicht zu bemerken, zudem erhöht er den emotionalen Druck auf seine Frau, indem er wiederholt signalisiert, dass sie immer für die Kinder da zu sein hat.
Die vier Teile des Romans sind jeweils aus der Innenperspektive einer der Frauen geschrieben, geben Einblicke in ihre Biographien und ihre aktuelle Einstellung zu Familie und Muttersein. In den sensibel entworfenen Porträts verbindet Verena Keßler die vier Figuren auf unterschiedliche Art und Weise miteinander. Eine zentrale Rolle spielt dabei Eva Lohaus’ Essay und das Buch, das sie im Anschluss schreibt. Ohne viele Fakten zur Veränderung des Klimas zu bemühen, webt Verena Keßler in diesem so einfühlsamen wie nachdenklichen Roman ein enges Netz an Beziehungen, Motiven und Fragestellungen, die alle um den Zusammenhang von Mutterschaft und Klimawandel kreisen. Dabei ist der Titel nicht zufällig gewählt. Mit Eva ist weniger Eva Lohaus mit ihren hellsichtigen Überlegungen zum Klimawandel gemeint, sondern die Frau als Gattungswesen. Wurde der Urmutter Eva in der Bibel bei der Vertreibung aus dem Paradies prophezeit, dass sie unter Schmerzen Kinder gebären wird, so entwickelt Verena Keßler in ihrem sorgfältig komponierten Roman Eva die These, dass der Geburtsschmerz sich fortsetzt und die Beziehung einer Mutter zu ihren Kindern kennzeichnet. Darüber hinaus können die Mütter im Roman ihren Kindern keine unbeschwerte Zukunft bieten, da der Klimawandel wie ein Damoklesschwert über der Zukunft der Kinder liegt und den Müttern den Schlaf raubt. Sie sind nicht nur aus dem Paradies vertrieben, sondern bereiten sich innerlich auf die Vertreibung vom Planeten Erde vor. Diese Zustandsbeschreibung entwickelt der Roman nicht mit einem erhobenen Zeigefinger. Fern jeder moralischen Wertung stellt die Autorin nicht die Frage, wie der Klimawandel unsere Zukunft verändern wird, sondern vielmehr wie wir mit diesem Wissen leben (können). Insofern erscheint die Position von Eva Lohaus, die sich ja durchaus für die Gesellschaft und die Kinder in ihrem Umfeld engagiert, weniger radikal, sondern vielmehr die überzeugende Konsequenz aus dem Verhalten unserer Vorfahren:
Der Gedanke, sich nicht fortzupflanzen, niemanden zu hinterlassen, in dem man zumindest genetisch fortleben konnte, schien für viele unfassbar schmerzhaft zu sein. Eva kannte diesen Schmerz nicht. Im Gegenteil. Wenn sie ehrlich war, gefiel ihr die Vorstellung sogar: eine Ahnenkette, die sich über Millionen von Jahren fortgesetzt hatte und nun endete – mit ihr.
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