Ein Hoch auf eine historische Disziplin mit epochenübergreifender Perspektive, Interdisziplinarität und thematischer Vielfalt!
Das Handbuch für die Landesgeschichte – ein Meilenstein
Von Lina Schröder
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVorliegende Publikation bezeichnen die vier, in der Regional- und Landesgeschichte verankerten Herausgeber zu Recht als Desiderat. In ihrer Einleitung betonen sie das Dilemma, dass zwar bezüglich der deutschen Landesgeschichte zu einzelnen Bundesländern Überblicksdarstellungen vorliegen, diese jedoch keinen länderübergreifenden Ansatz fokussieren. Im Sinne einer auf den Vergleich ausgerichteten Landesgeschichte erkennen Werner Freitag (Münster), Michael Kißener (Mainz), Christine Reinle (Gießen) und Sabine Ullmann (Eichstätt) aber gerade diesbezüglich großen Handlungsbedarf, zumal laut Matthias Werner das Fach seit seiner Gründung als universitäre historische Disziplin in Leipzig (1906) nach wie vor mit Bedeutungsverlusten und der Frage nach der fachlichen Ausrichtung zu kämpfen hat. Zunächst eng verknüpft mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Heimatforschung, galt es sich von dieser fachlich und methodisch zu distanzieren. Insbesondere in den 1950/60er Jahren erfolgten laut Werner dann etliche Neugründungen landeshistorischer Lehrstühle. Im Zuge der Distanzierung vom nationalsozialistischen Heimatdiskurs und der bewussten Verdrängung der Rolle der Landesgeschichte während der NS-Zeit konzentrierten sich die Landeshistoriker zu dieser Zeit vor allem auf das Mittelalter. Erst mit dem Generationswechsel wurde diese enge Verbindung in der BRD in den 1970/80er Jahren aufgebrochen, der Schwerpunkt verlagerte sich jetzt zu den jüngeren Epochen, während sich in der DDR unter der Federführung des Mittelalter- und Frühneuzeithistorikers Karl Czok (*1926: † 2013) in Leipzig die marxistische Regionalgeschichte durchgesetzt hatte. Eine erneute Zäsur brachte laut Werner die Wiedervereinigung: In den 1990er Jahren standen nun Debatten über Umgang und Aufarbeitung der NS-Zeit explizit im Vordergrund – sie endeten in Selbstkritik und erneutem Legitimationsdruck.
Werners im ersten Buchteil verankerter Beitrag über die Entwicklung des Faches ist einer von insgesamt sechs, die die Disziplin Landesgeschichte in ihrer Vielfalt vorstellen. In diesen geht es um den Bezug der Historischen Bildforschung zur Landesgeschichte (Freitag), um sogenannte „Meistererzählungen“ und Erinnerungsorte zwischen Landes- und Nationalgeschichte (Reinle), um Begriffe, Theorien und Methoden in der Praxis (Freitag), die Bedeutung der Archäologie für das Fach (Lukas Clemens) und um die Verortung der deutschen Landesgeschichte in der diesbezüglichen europäischen Forschungslandschaft (Andreas Rutz). Insgesamt verweisen alle Darstellungen auf die ständige Wechselwirkung zwischen den einzelnen Regionen und der Herausbildung von Staatlichkeit – ohne die Regionen lassen sich die heutigen Nationalstaaten nicht verstehen. Für letztere waren zur Überwindung von Regionalität Meistererzählungen von umso größerer Bedeutung, ein diesbezüglich vortreffliches Beispiel geistert in der Forschung nach Meinung der Rezensentin nach wie vor mit dem „Achtzigjährigen Krieg“ bzw. „niederländischen Unabhängigkeitskrieg“ – so von Ralf-Peter Fuchs in seinem Beitrag über den Rhein-Maas-Raum verwendet – herum. Als sich die regional völlig verschiedenen, heute niederländischen Provinzen Ende des 16. Jahrhunderts aus der spanischen Habsburgermonarchie herauslösten, galt es diesen Schritt nachträglich zu legitimieren und zu erklären. Dies war für die junge Nation Niederlande, die Rutz in seinem Überblick zu Europa irrtümlicherweise zu den Ländern mit „zentralistischen […] Traditionen“ rechnet, von zentraler Bedeutung.
Einer deduktiven Herangehensweise folgend, überführen die Herausgeber mittels eines zweiten Teils die fachlichen Erkenntnisse in konkrete Untersuchungen zu verschiedenen Regionen. Dabei ist der zweite Teil – der thematischen Vielfalt des Faches geschuldet – in fünf Themenfelder gegliedert: 1. Epochenzuschnitte und Transferprozesse, 2. Herrschaftsräume in Mittelalter und Neuzeit, 3. Sozial- und Wirtschaftsräume, 4. Kirche und Religion sowie 5. Diktatur und Identitätskonstruktion. Zu jedem Thema ermöglichen zwei bis fünf Aufsätze einen exemplarischen Zugriff auf die eingangs vorgestellten landeshistorischen Praktiken: Sowohl die Auswahl der regionalen Beispiele als auch ihre Zuordnung zu den thematischen Blöcken erfolgen dabei per exemplum – ein und dieselbe Region kann somit in verschiedenen Kontexten auftauchen, das Beispiel Sachsen ist hier prominent. Alle Beiträge dieses Teils stellen jeweils zwei Regionen durch zwei Autoren vor – dem Ziel der vergleichenden Herangehensweise wird somit Rechnung getragen. Jeder Aufsatz leitet zunächst kurz in den thematischen Schwerpunkt ein, anschließend folgen die zwei Betrachtungen zu den jeweiligen Regionen. Die Darstellungen enden mit einem gemeinsamen Literaturverzeichnis. Obwohl das insgesamt 706 Seiten schwere Handbuch sicherlich sein Ende finden muss, wäre hier jeweils ein kurzes Resümee – eine halbe Seite hätte genügt – unter der Bezugnahme auf die Einleitung im Sinne des Vergleichs erhellend gewesen. So verbleibt der Leser am Ende mit seinen eigenen Eindrücken. Der dritte Teil des Handbuches enthält, das Gesamtwerk abrundend, ein Abbildungs- und Autorenverzeichnis sowie ein ausführliches Ortsregister.
Landesgeschichtstypisch stellt die Konzeption insgesamt nicht nur einen epochenübergreifenden Zugang, sondern auch den Vergleich diverser Wechselbezüge zwischen Makro- und Mikroraum sicher. Dabei wird deutlich, dass die Feststellung von Rutz, es sei für die Landesgeschichte essentiell, „ihre Fragen und Projekte aus den jeweiligen Untersuchungsräumen selbst zu entwickeln und nicht […] die Regionen heranzuziehen, die sich für die Beantwortung einer übergeordneten Fragestellung am besten eignen“, zentral ist, wenngleich – dies zeigen die z.T. bewusst gewählten Gegenüberstellungen komplett unterschiedlicher Regionen – im Sinne einer vergleichenden Landesgeschichte die explizite Auswahl von Betrachtungsräumen zur Klärung eines Sachverhaltes ebenso legitim ist. Die einzelnen Themenfelder verdeutlichen darüber hinaus, dass Landesgeschichte aus verschiedenen Perspektiven zu denken ist. So werden Regionen als Wirtschaftsräume (Rolf Kießling/Wilfried Reininghaus), Städtelandschaften (Enno Bünz/Gabriel Zeilinger), Kirchen-/Konfessionsräume (Ralf-Peter Fuchs/Arnd Reitmeier) oder die „Pfarrei als Kulturraum“ (Helmut Flachenecker) analysiert. Diese Sichtweise unterstreicht die Wahrnehmung Edith Ennens (1977), die Kulturräume als „Verdichtungsgebiete zahlreicher Einzelmerkmale“ begreift. In diesem Zusammenhang weisen die Autoren nicht nur einmal darauf hin, dass Regionen nicht selten als „offene Räume“ verstanden werden müssen, entsprechend variieren regionale Grenzziehungen: Während eine Region beispielsweise in politischer Hinsicht eine klare Begrenzung aufzuweisen scheint, ist der Grenzverlauf aus der Perspektive der Wirtschaftslandschaft ein ganz anderer. Hinzukommend veranschaulichen die Fallstudien, dass es sich bei diesen Lesarten häufig nur um Momentaufnahmen handelt, da sich die Strukturen in den Epochen veränderten: Während Oberschwaben bereits im Mittelalter eine zentrale ökonomische Bedeutung zukam, machte das Ruhrgebiet erst im 19. Jahrhundert wirtschaftlich Karriere – einmal mehr wird hier der Wert des epochenübergreifenden Ansatzes deutlich.
Das Handbuch ist insgesamt als eine Anleitung zu verstehen, unter welchen Gesichtspunkten Regionen betrachtet und analysiert werden können, die grundsätzlich mögliche Mehrfachzuordnung verweist zugleich auf die Komplexität landeshistorischer Fragestellungen. Insgesamt vermisst die Rezensentin einen stärkeren Einbezug der regionalen Topographie – nur vereinzelt wurde auf die Bedeutung dieser eingegangen: Das Vorhandensein von Flüssen und Ressourcen oder die Lage an einer Küste bzw. am Rand eines Gebirges hatten zweifellos Einfluss auf die Ausbildung politischer Grenzen (z.B. Grenzflüsse), den Kulturtransfer, die Entwicklungsmöglichkeiten der Wirtschaft, die Umsetzung von Infrastruktur oder auf die Ausbildung von Zentren. Die wenigen kritischen Anmerkungen unterstreichen allerdings, dass den insgesamt 36 Autoren tatsächlich ein Desiderat gelungen ist, welches das Wesen der Landesgeschichte nicht besser hätte auf den Punkt bringen können. Dieser Eindruck wird durch den letzten Beitrag zum Thema Heimat und Identitätskonstruktion, der den Bogen zum ersten Aufsatz über das Entstehen des Faches Landesgeschichte spannt, einmal mehr bestätigt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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