Was Ilsebill nicht will

Ruth Klügers von Gesa Dane unter dem Titel „Wer rechnet schon mit Lesern“ herausgegebene Aufsätze zur Literatur enthalten manchen Augenöffner

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bestünden noch irgendwelche Zweifel daran, dass Ruth Klüger eine der luzidesten, originellsten und belesensten LiteraturwissenschaftlerInnen war, würden sie durch ihre nun unter dem Titel Wer rechnet schon mit Lesern?“ von Gesa Dane herausgegebenen Aufsätze[n] zur Literatur aufs Gründlichste ausgeräumt. Wie die Herausgeberin im Nachwort erklärt, wurden die zwölf von den ausgehenden 1960er Jahren bis zur Mitte der 1990er erschienenen „Abhandlungen in jeweils der Sprache abgedruckt, in der sie zum ersten Mal publiziert wurden“, um so die „Zweisprachigkeit“ der Autorin „zu dokumentieren“.

Der dreizehnte Text wird mit dem vorliegenden Band zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bedauerlicherweise informiert die Herausgeberin nicht darüber, wann er entstanden ist. Seinem Titel Renaissance, Reformation hat Dane den Untertitel Ein Epochenüberblick beigefügt. Wie sie mitteilt, war der Text ursprünglich als Beitrag „zu einer mehrbändigen Geschichte der deutschen Literatur gedacht“ und wurde ihr von Klüger „mit der Bitte, darüber nachzudenken, was man damit machen kann“, anvertraut. Mit seinen rund fünfzig Seiten handelt es sich um den umfangreichsten Text des Bandes. Klüger unternimmt es in ihm, die „literarischen Ausdrucksformen dieser Epoche zu sichten und dem Leser sowohl die Höhepunkte als auch die breitere Entwicklung vor Augen zu führen“. Ein Unterfangen, das sie souverän bewältigt. Ebenso mühelos bewerkstelligt sie den „angestrebt[en] […] Ausgleich zwischen der Beschäftigung mit der Literaturgeschichte und einem Verständnis der Einzelwerke“ und stellt dabei zudem manche originelle Verbindungen her. So etwa, wenn sie in der Fabelfigur Reineke Fuchs (nicht dem um seine „Sozialkritik“ gebrachten Goethe’schen, sondern dem „vorreformatorischen“) einen „Vorläufer des Soldaten Schwejk“ ausmacht oder wenn sie in Arno Schmidt „die analoge moderne Gestalt“ von Johann Fischart erkennt.

„Deutsche Renaissance und Reformation sind voll von Ansätzen, die auf eine Erfüllung warten, die nicht oder erst viel später kommt. Arm an großen Talenten, ist die Zeit umso reicher an kleineren, die im Aggregat eine neue Literatur fast vorbereitet hätten“, lautet das Fazit ihres konzisen „Epochenüberblick[s]“, der nicht nur für Menschen lesenswert ist, die sich in der Literatur dieser Zeit nicht so gut auskennen. Nur „geringes historisches Einfühlungsvermögen“ vorausgesetzt, versichert sie, sei den damaligen sogenannten Volksbüchern „noch heute Vergnügen abzugewinnen“. Doch auch jene, die sich dieses Vergnügen nicht gönnen, werden den wohl beeindruckendsten Text der vorliegenden Sammlung mit großem Gewinn lesen und dies nicht nur, weil er die schier unglaubliche Belesenheit seiner Autorin erahnen lässt.

Nicht einer bestimmten Epoche, sondern einem bestimmten Geschlecht wendet sich ihr Aufsatz Zum Außenseitertum deutscher Dichterinnen zu, in dem Klüger der Frage nachgeht, „in welchem Milieu sich weibliches Talent überhaupt entwickeln konnte“. Zu ihrer Beantwortung nimmt sie den Zeitraum vom 13. bis zum 19. Jahrhundert in den Blick. Dabei kommt sie dem paradoxen Phänomen auf die Spur, „dass progressiv und reaktionär, im politischen und intellektuellen Sinne, sich nicht unbedingt decken mit der geistigen Entwicklungsgeschichte der Frauen“. Denn mit der „Klosterkultur“ bot das Mittelalter Frauen eine „Alternative, wie sie ihr Leben gestalten wollten, die ihnen in späterer Zeit und im Protestantismus abhandenkam“. Denn Frauen, die „literarischen Ehrgeiz oder Talent“ besaßen, eröffnete ein Leben als Nonne oder Äbtissin „bessere Chancen“ als die Zeit „nach der Reformation“.

Auch der erste Beitrag des Bandes, German Studies: The Women’s Perspective, gilt Autorinnen. Eingangs betont Klüger allerdings, dass „women authors do not automatically form an entity“. Zwar könne eine „special group“ tatsächlich „bring its special experiences to bear on literature and thereby contribute substantially to the understanding of some works and their background“, doch „neither Jews nor women nor, for that matter, blacks can be said to have a special view automatically theirs because of their Jewishness, their womenhood, their négritude“. Dass Lesende ihren persönlichen Hintergrund transzendieren und „the author’s point of view“ einnehmen, sei gerade eine der „joys of reading books“. Nebenbei prophezeit Klüger in dem 1976 publizierten Text, die nahe Zukunft werde zweifellos „a body of feminist criticism“ bringen. Inzwischen hat sich längst gezeigt, wie Recht sie hatte.

Nicht den Frauen, sondern dem anderen Geschlecht, genauer gesagt Väter[n] als Feinde und Vorbilder in der Dichtung gilt ein weiterer Text, wobei die Autorin eingangs betont, „für beide Geschlechter“ sei „das Vaterproblem das Autoritätsproblem schlechthin und oft auch das Identitätsproblem“. Denn „der Vater ist ja der Mensch, an dem sich das Kind orientieren soll“. Ob das für Töchter gilt, mag allerdings angezweifelt werden. Sahen Väter und Gesellschaft für sie über die Jahrhunderte hinweg doch eine ganz andere Zukunft vor als für die Söhne. Und in weiten Teilen der Welt ist dies auch heute noch nicht anders. Interessant aber ist Klügers Gegenüberstellung zweier Lesarten der biblischen „Geschichte vom Isaakopfer“. Bei der einen handelt es sich um diejenige Immanuel Kants, der Abrahams Bereitschaft, seinen Sohn auf Befehl Gottes zu töten, scharf kritisierte; bei der anderen um die Sören Kierkegaards, der sie guthieß. Klüger selbst zufolge wollte Gott „eben ein Exempel statuieren, und wie die Menschen mit einem solchen zurechtkommen, ist die falsche Frage“. 

Neben solchen Aufsätzen, die allgemeinere Fragen und Themen behandeln oder Epochenüberblicke bieten, enthält der Band auch Abhandlungen, die sich ganz auf einzelne Werke konzentrieren. So geht Klüger etwa der Darstellung der Generationen in Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti nach oder sie beleuchtet in je einem Aufsatz Franz Grillparzers Stücke Wehe dem, der lügt! und Die Ahnfrau.

Mit Adolph Knigges Buch Über den Umgang mit Menschen wendet sich die Autorin einem nicht als Literatur, sondern als Ratgeber geltendem Werk zu, das sie allerdings „vor allem als literarisches Phänomen“ liest und in dem sie, wie es im Untertitel heißt, [a]uch eine Dialektik der Aufklärung ausmacht. Da spreche kein großer Reformer und schon gar kein Revolutionär, sondern einer, „der den Machthabern der Zeit übel nahm, dass er nicht zu ihnen gehörte“. „Das Besondere“ an dem zwischen „Moralpredigt“ und „zynischen Ratschlägen“ changierenden Buch, in dem sich „traute[.] Familienidylle“ mit „bittere[r] Gesellschaftssatire“ abwechsele, sei „nicht so sehr die Auflehnung gegen Tyrannei wie gegen die Menschenverachtung, die sich durch das schlechte Benehmen der Großen ausdrückt“. Denn Knigge „wollte zwar die politische Machtbasis nach unten erweitern, doch die untere Grenze war eben das obere Bürgertum“. Daher verwirft Klüger auch die in der Folge der Studentenbewegung beliebte Interpretation, die Knigge zu einem großen Aufklärer machte. Als Aufklärer könne er nur „gelten“, wenn „seine Schwächen und Grenzen in Kauf“ genommen würden, zu denen die Misogynie ebenso zähle wie seine Verachtung für Bauern, die von Knigge als „hartnäckige, zänkische, widerspenstige und unverschämte Geschöpfe“ diffamiert werden. Ebenso wenig tolerabel sei seine „gemäßigte Judenfeindlichkeit“, die sich etwa in „Ratschläge, wie man den Juden am besten Geld abnimmt“, ausdrückt. Ironischerweise versieht er sie mit dem warnenden „Hinweis, dass sie [die Juden] nun einmal sehr geldgierig seien“. Ein „Widerspruch“, der Knigge „wie den meisten Antisemiten“ entgeht, merkt Klüger an.

In einige der Abhandlungen flicht sie kurze Bemerkungen über Günter Grass und seine Romane ein. So kritisiert sie etwa seine „Scheuklappen“, die ihn „die Poesie der dichtenden Nonnen des Mittelalters […] gering[.]schätzen“ ließen. In einer Abhandlung von 1976 wiederum schlägt Klüger vor, „that one of our younger colleagues […] write an article entitled ‚The Machismo of Günter Grass’, which should be easy, obvious, and publishable and should deal with the pathetic chicks which this eminent contemporary habitually inflicts on his readers, and which are nothing but Biedermeier stereotypes under a patina of pornography“. Im letzten Text des Bandes knöpft sie sich den späteren Nobelpreisträger dann schließlich selbst vor – und zwar in einem grandiosen Verriss aus feministischer Perspektive. Er gilt dem Roman Der Butt und erschien bereits ein Jahr nach Veröffentlichung des 1977 auf den Markt gekommenen Werks. „It’s all tits and cunts“, lautet ihr auf den Punkt gebrachtes Verdikt. In „traditional manner“ der zeitgenössischen „male fiction“ beschreibe Grass in dem zwischen Soft-Core- und Hard-Core-Pornographie oszillierenden Roman Frauen stets als bloße Objekte. Doch belässt Klüger es nicht bei diesem knappen Befund, sondern stellt das Buch anhand einer Analyse seiner Konstruktion fiktiver und historischer Frauenfiguren als „basically hostile to the women’s movement and ignorant of that movement’s aspirations“ bloß. Klüger nennt als Beispiele die als „female pseudo-intellectual with no mind of her own“ dargestellte Bettina von Arnim, die die ‚ewige Frau’ verkörpernde, stets fordernde, nimmersatte Ilsebill, die Feministinnen, die ihre Kinder verhungern lassen, indem sie sich weigern ihre Babys zu stillen, deren Frauen vergewaltigende lesbische Führerinnen und schließlich das weibliche Geschlecht überhaupt, dessen Angehörige es im Butt lieben, von Männern dominiert zu werden.

Zu Recht spricht Dane im Nachwort von einem „ebenso unnachsichtige[n] wie gelehrte[n] Verriss“. Klügers Aufsatzsammlung kann hingegen nur empfohlen werden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Gesa Dane (Hg.) / Ruth Klüger: „Wer rechnet schon mit Lesern?“. Aufsätze zur Literatur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
256 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783835339675

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch