Bücher und Schreiben als Heimat
Angelika Klüssendorfs Roman „Risse“
Von Werner Jung
Die Schriftstellerin Angelika Klüssendorf bezeichnet ihre Bücher als Romane und Erzählbände. Immer geht es in ihren Prosatexten, denen man zu Recht das Attribut „autofiktional“ zusprechen darf, um die rundum verkorkste Kindheit und Jugend während der 60er und 70er Jahre in der DDR, also zu einer Zeit, die weit entfernt ist von einer Erosion oder Auflösung des „real existierenden Sozialismus“, geschweige denn von der Wende. Obwohl es in der DDR – jedenfalls ihrem ideologischen Anspruch nach – weder Armut noch (Gewalt-)Verbrechen gegeben haben soll, handeln Klüssendorfs Prosatexte genau davon: von gewalttätigen Eltern, die sich beide, heimlich oder nicht heimlich, in ‚odd jobs‘ verdingen. Die Mutter betrügt zum Beispiel als Kellnerin ihre (West-)Gäste, indem sie diejenigen unter ihnen bestiehlt, die schwer alkoholabhängig sind, während der Vater sich über Jahre hinweg erfolglos um seine Selbstentleibung bemüht. Rundum „Loser“, die dem Kind und der Jugendlichen den Stempel verpassen.
Immer wieder hat Klüssendorf seit ihrem vielgepriesenen Erstling Sehnsüchte (1990) „ihr“ Schicksal, ihren Entwicklungsweg, thematisiert. Nun auch wieder im neuen Band Risse, dem sie den Untertitel Roman gegeben hat. Das Werk ist strukturell so komponiert, dass Klüssendorf auf der einen Ebene Einzelepisoden aus ihrer Kindheit und Jugend erzählt, und diese auf einer zweiten Ebene durch Selbstreflexionen bricht. Einerseits versucht sie dabei, sich ganz in die Zeit der 60er und 70er Jahre hineinzubegeben und die Episoden aus der damaligen Erlebnisperspektive zu fokussieren, um andererseits aus aktueller Schreib- und Erzählperspektive die damaligen Geschehnisse und Vorfälle wieder zu konterkarieren, zu relativieren oder geradezurücken. Insofern ist der neue Band auch wieder ein poetologischer Text, da Klüssendorf das eigene Schreiben reflektiert und zuweilen auch frühere Texte anspricht. Immer, so äußert sich die Autorin wiederholt in ihrem Buch, habe sie die Bücher wie auch das Schreiben als Heimat, das heißt, als Gegenwelt zur bedrückenden und schier ausweglosen eigenen Situation, empfunden.
Literatur wird hier in bestem Sinne also als Therapie verstanden: Die Poetik von Angelika Klüssendorf unterstreicht einmal mehr, dass und auch wie Erzähltexte statt mimetisch-realistischer Einvernahme von Wirklichkeit diese vielmehr allererst konstruieren – immer wieder neu und anders mit einer Perspektivenvielfalt, die einem Kaleidoskop gleicht. „Wie aber etwas wirklich gewesen ist“, heißt es einmal im Roman Ordnung ist das ganze Leben des großen saarländischen Schriftstellers Ludwig Harig, „das weiß ich nicht“. Ein Satz und ein Bekenntnis, die Angelika Klüssendorf gewiss unterschreiben würde.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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