Ein orientierender Einstieg ins Dostojevskij-Universum

Zum 200. Geburtstag des russischen Schriftstellers hat Rolf-Dieter Kluge eine Einführung in dessen Leben, Werk und Wirkung vorgelegt

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fëdor Michajlovič Dostojevskij (1821–1881) war einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der in seinen Romanen und Novellen die politischen, sozialen und spirituellen Verhältnisse zur Zeit des Russischen Kaiserreiches beschrieb. Darüber hinaus hat er sich wie kaum ein anderer Dichter der Weltliteratur eindringlich und radikal mit den Fragen der menschlichen Existenz auseinandergesetzt.

Rolf-Dieter Kluge, em. Prof. für Slavistik an verschiedenen deutschen Universitäten, der bereits zahlreiche Veröffentlichungen zu den slavischen Literaturen und deutsch-slavischen Kulturbeziehungen vorgelegt hat, vermittelt in seinem Buch eine tiefe Einsicht in das Leben und Schaffen dieses großen AutorsDie Publikation, die auf einer Vorlesungsreihe im Audimax der Universitäten Freiburg und Tübingen basiert, ist zum 200. Geburtstag und 140. Todestag Dostojevskijs erschienen.

In seiner Einleitung beleuchtet Kluge zunächst Dostojevskijs Aktualität und literarische Bedeutung. So verweist er darauf, dass sich mit Dostojevkijs Dichtungen nicht nur die Literaturwissenschaft beschäftigt. Die Wirkung und Rezeption seines Werkes reicht vielmehr über das eigentliche Feld der Literatur hinaus und ist immer wieder Gegenstand von philosophischen, theologischen oder soziologischen Fragestellungen. Kluge benennt hier aber auch Dostojevskijs Fehler und Irrtümer wie seine mitunter nationalistischen und chauvinistischen Ansichten.

In den nachfolgenden Kapiteln gibt der Autor einen orientierenden Überblick über das gewaltige Werk Dostojevskijs – von seinem Erstlingswerk, dem Roman Arme Leute (1845), bis zu seinem Roman Die Brüder Karamazow, den er knapp drei Monate vor seinem Tode vollendete. In die Entwicklungsgeschichte seiner Werke und die politischen Vorgänge Russlands in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird auch Dostojevskijs Biografie eingebettet. Sein Briefroman Arme Leute, in dem er das Elend und Leid der ärmsten Kleinbürger und leibeigenen Bauern aufgriff, machte den gerade 25-Jährigen mit einem Schlag berühmt. In diesem Anfangserfolg ist vielleicht auch der Grund für seine spätere Leichtsinnigkeit in finanziellen Dingen zu suchen, ohne ihn allerdings „von seiner eigentlichen Berufung der literarischen Arbeit abzubringen“.

Ein einschneidender Lebensabschnitt und eine Leidenszeit war Dostojevskijs Verbannung nach Sibirien, die er in seinem Roman Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1862) verarbeitete. Mit dieser dokumentarischen Romanreportage eröffnete Dostojevskij eine neue literarische Gattung, die sogenannte „Lager-Literatur“. Nach Ansicht des Autors verlor Dostojevskij mit der Sibirien-Erfahrung aber seine sozialistischen Ideale.

Sehr ausführlich widmet sich Kluge dem Roman Verbrechen und Strafe (auch Schuld und Sühne, 1866). Dostojevskij hat in diesem ersten großen Roman „Probleme und Konflikte zur Diskussion gestellt, die im 20. Jahrhundert zu tragischer Brisanz gelangt waren, in einem Jahrhundert selbsternannter Führer und Diktatoren“.

Breiten Raum nimmt auch das Thema „Dostojevskij und Deutschland“ ein, wo der Schriftsteller die längste Zeit im Ausland verbrachte – nahezu drei Jahre. Dieses „Wanderleben“ war aber wegen der bedrückenden Lebensumstände und seiner Spielsucht auch ein „Überlebenskampf“. In seinem Roman Der Idiot (1868) stellte Dostojevskij vor allem die Figur des scheiternden und dennoch anziehenden Fürsten Myškin in ein „Spannungsfeld von Liebe, Leidenschaft und Geld“. Die hier aufgegriffene religiöse und philosophische Problematik findet sich auch in den nachfolgenden Romanen. Mit dem politisch motivierten Roman Die Dämonen (1871) gelang Dostojevskij nicht nur ein zeitkritisches Panorama der russischen Gesellschaft, er zeichnete auch ein Schreckensszenario des politischen Terrorismus.

In seinen späten Romanen Der Jüngling (1875) und Die Brüder Karamazow (1880) thematisierte Dostojewskij noch einmal den Vater-Sohn-Konflikt. Darüber hinaus sind in seinem letzten Werk, in dem 128 Personen auftreten, wieder Verbrechen, Krankheit, Liebe, Sexualität, Religion und Ideologie die zentralen Themen. Nach übereinstimmendem Urteil der Literaturwissenschaft gilt der Roman Die Brüder Karamazow als Höhepunkt des Gesamtwerkes von Dostojevskij. Für Kluge erscheinen hier „alle künstlerischen Verfahren und ideellen Konzeptionen noch einmal vertieft und wie in einem Brennpunkt konzentriert“.

Abschließend beschäftigt sich Kluge eingehend mit der Stellung von Dostojevskijs Werk in der Weltliteratur, dessen Wirkungsgeschichte – abgesehen von vereinzelten Ansätzen – erst nach dem Tod des Schriftstellers einsetzte. Detailliert wird die zuweilen verwirrende Kontroverse zwischen Ablehnung und Verehrung veranschaulicht. Im Mittelpunkt des Schlusskapitels steht dabei die Resonanz, die Dostojevskij im deutschen Sprachraum fand – von Nietzsche, Freud, Kafka, Hesse, St. Zweig und Th. Mann bis hin zu Seghers, Bachmann oder Bienek.

Kluges Resümee lautet: „200 Jahre nach seiner Geburt und 140 Jahre nach seinem Tod spielt Fëdor Michajlovič Dostojevskij weiterhin eine ganz ungewöhnlich anregende und einflussreiche Rolle in der Weltliteratur und Weltkultur.“ Seine Darstellung – auch mit ausführlichen Inhaltsangaben zu den Romanen – ist eine Anregung, sich in Dostojevskijs Werk zu vertiefen. Dabei kam es dem Autor darauf an, wie die Literaturwissenschaftlerin Dorothea Scholl, die maßgeblich die Publikation begleitet hat, in ihrem Vorwort betont, dem Leser Dostojevskijs Leben, Werk und Wirkung „ohne Einbuße an wissenschaftlicher Qualität in allgemein verständlicher Sprache einen durchdachten Zugang“ zu bieten. Ergänzt wird die Neuerscheinung mit zahlreichen historischen Abbildungen, einer umfangreichen Bibliographie und mehreren Registern.

Bliebe noch anzumerken, dass für das Frühjahr 2022 in Baden-Baden und andernorts Lesungen aus der Jubiläums-Neuerscheinung geplant sind.

Titelbild

Rolf-Dieter Kluge: F.M. Dostojevskij. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung.
Redaktion: Dorothea Scholl.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2021.
352 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783534405077

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