Zwischen Performanz und Transzendenz
Lore Knapp analysiert Spielformen der Kunstreligion auf hohem Niveau
Von Swen Schulte Eickholt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn Marina Abramović sich im Verlauf ihrer Performance Lips of Thomas einen fünfzackigen Stern in den Bauch ritzt, kann es für den Zuschauer nicht in erster Linie darum gehen, diesen Prozess zu verstehen und zu deuten, sondern ihn zu erfahren – sich ihm auszusetzen. Die Deutung, wie Lore Knapp geschult an Erika Fischer-Lichtes Performativitäts-Theorie postuliert, kann erst nachträglich vollzogen werden. Das Erlebnis der Performance könne den Rezipienten zu religiösen Deutungen führen, muss es aber nicht. So ließe sich vereinfacht der Haupteinwand zusammenfassen, den Knapp in dem sehr gut recherchiertem Abschlusskapitel ihrer Arbeit Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke – Christoph Schlingensief gegen eine Tendenz der gegenwärtigen Ästhetiken formuliert, die das Erhabene zu einer Eigenschaft der Kunst selbst machen. In den Vorstellungen von Dieter Mersch, Hans Ulrich Gumbrecht oder auch Martin Seel verweist die Kunst auf den undeutbaren Rest hinter den Zeichen, der etwa in der Präsenz des Werkes erfahrbar wird – ausführlich stellt Knapp hier Herkunft und Implikationen des Aurakonzepts vor, das zu Recht als erste Kondensationsform einer kunstreligiösen Ästhetik betrachtet wird. Allerdings verweisen die genannten Theoretiker ebenso häufig auf die Nähe ihrer Vorstellungen zur Mystik, wie sie eine Strukturhomologie verleugnen. Zutreffend kennzeichnet Knapp die Logik dieser Texte mit einem Brecht-Wort: „alles mystik, bei einer haltung gegen mystik“.
Es irritiert ein wenig, dass diese sehr anregende und gründliche Auseinandersetzung mit einer kunstreligiösen Ästhetik nur teilweise in die theoretischen Vorüberlegungen eingeflossen ist. Der Hauptteil der Arbeit liefert eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Formen des Kunstreligiösen bei Peter Handke und Christoph Schlingensief, die von Überlegungen grundsätzlicher Art zum Begriff der Kunstreligion eingeleitet werden. Eine gewisse, noch zu erläuternde Inkompatibilität des Performativitätskonzepts mit der Idee von Kunstreligion, die die Arbeit nicht reflektiert, könnte dazu geführt haben, dass die ausführliche Auseinandersetzung mit dem Konzept des Performativen erst nachgeliefert wird, da sie die Analyse der Werke Handkes und Schlingensiefs gestört hätte. Ausdrücklich sei an dieser Stelle allerdings das hohe Niveau der Analyse betont, das Lore Knapps Dissertationsschrift zu einer lohnenden Lektüre macht. Die nachfolgenden Überlegungen ergeben sich gerade aus dieser fachlichen Komplexität, die leistet, was Geisteswissenschaften im besten Fall leisten sollen: zum Weiterdenken anregen.
In ihrer Einführung definiert Knapp kunstreligiöse Kunst als Kunst, die sich „Charakteristika und Funktionen des Religiösen zu eigen macht“. Aus nicht ganz verständlichen Gründen besteht sie darauf, von kunstreligiöser Ästhetik könne man überdies nur sprechen, wenn „ein Bezug zu einer bestehenden Religion nachweisbar ist“. Durch eine Abgrenzung von dem Konzept der Kunstreligion, dass die Forschung bisher noch nicht zufriedenstellend definieren konnte, wird der Begriff des Kunstreligiösen genauer profiliert. Kunstreligion versteht Knapp als Ersatzreligion, als einen tatsächlichen Kult um die Person des Künstlers oder seine Kunst – für beide Fälle ließe sich hier an Richard Wagner denken. Das Wort Ersatzreligion mag schon andeuten, dass Kunstreligion nicht der Anspruch zugetraut wird, ein Sinnsystem mit eigenständigem Deutungspotenzial sein zu können. Die Ausführungen gründen auch hier auf einer intensiven Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, zeigen aber auch weiterhin die Schwierigkeiten, die die Literaturwissenschaft mit dem Feld des Religiösen hat. Trotz Bezug zu Émile Durkheim kommen soziologische oder kulturelle Fragen wenig in den Blick. Welche Funktionen Religion tatsächlich hat, wird gar nicht verhandelt, später bezieht sich die Arbeit eher auf theologische Theoreme als auf Formen gelebten Glaubens. Hier wäre ein Blick auf die Unterschiede zwischen Religiosität und Religion hilfreich gewesen. Die synkretistische Struktur gegenwärtiger Religiosität hat dabei deutlich mehr Ähnlichkeiten mit Handkes kunstreligiösen Texten oder Schlingensiefs Inszenierungen als ein theologisch informierter Blick auf das Christentum erwarten lässt.
Den notwendigen Bezug zu einer spezifischen Religion kann Knapp später nicht mehr aufrechterhalten. Er passt nicht zur Vorstellung einer Ästhetik des Performativen. Diese übernimmt nur „Formen oder Funktionen“ von Religion, wie es später heißt – diese Funktionen hätten dann allerdings genauer betrachtet werden müssen, denn im Gegensatz zur Performativitätstheorie geht es in der Religion außerhalb ihrer Ästhetik weniger um das Erleben besonderer Momente, sondern vor allem um die sinnvolle Grundierung des Alltags. Novalis’, auf den Knapp sich ausführlich bezieht, dachte die gesteigerte Rückkehr des goldenen Zeitalters als Zustand eines fraglosen in der Welt-Seins. Zudem wird nicht ausreichend reflektiert, dass der Bezug auf Religion besonders das spezifische des Religiösen meint, nämlich den Transzendenzbezug, der durch seine wahrnehmungsübersteigende Struktur eben nur geglaubt werden kann. Eine Ästhetik, die diesen Anspruch rein säkular fassen möchte, verkennt seinen sinnstiftenden Anspruch. Wenn Knapp kunstreligiöser Ästhetik mit der Performativitätstheorie vorwirft, für gegeben zu halten, was in der Rezeption erst konstruiert wird, so ließe sich hier auch eine Differenz zwischen einer „gläubigen“ und einer säkularen Theorie formulieren.
Während Mersch, Gumbrecht und Seel offenbar von einer irgendwie gearteten höheren Welt ausgehen, die sich im Kunstwerk zeigen kann, verlagert Knapp in Anschluss an Erika Fischer-Lichte das Erleben einer höheren Wirklichkeit in den Rezipienten hinein – was den klaren Vorteil hat, nicht selbst in quasi-religiöse Metaphern fliehen zu müssen, um die geglaubte Partizipation der Kunst am Bereich des Numinosen umschreiben zu können. Problematisch wird der starke Bezug zur Performativitätstheorie durch die ausgeprägte Orientierung am Theater, der Performance-Art und der bildenden Kunst. Eine begrifflich reflektierte Übertragung auf die Literatur bietet die Arbeit nicht. So kommt die Auseinandersetzung mit Handke zu einer Vielzahl plausibler Einzelergebnisse zu dessen Privatmythologie, eine vertiefte Auseinandersetzung mit der narrativen Struktur eines einzelnen Werkes bleibt aber aus. Mit großer Kenntnis kann Knapp zwar aus Handkes breitem Œuvre schöpfen, sortiert die Zitate aber oftmals zu sehr vom Kontext absehend zu den kunstreligiösen Themen, die sie vorstellt. So versucht sie eher, Handkes Nähe zum Konzept der Performativität durch die Betonung des Schreibprozesses zu stützen, als die Bedeutung zu analysieren, die eine Epiphanie im Gesamttext für die Protagonisten hat.
Das erarbeitete Konzept neigt sich am Ende zu sehr in Richtung einer Ästhetik des Performativen, die ihrem Wesen nach stark auf das Ereignis fokussiert. Narratologisch wäre das durchaus anschlussfähig, funktionieren Narrationen doch auch erst durch Ereignisse; allerdings würde dies eine Konzentration auf das Moment des ästhetisch übersteigerten Augenblicks bedingen – eine Art säkulare Epiphanie (Knapp versucht hier, den Begriff der „Emergenz“ stark zu machen, um der religiösen Dimension der Epiphanie zu entgehen – ein sinnvoller Vorschlag, allerdings ist das Konzept Emergenz hierfür noch zu wenig trennscharf). Das verstärkte Interesse am Augenblick unter Ausblendung soziologischer oder kultureller Fragestellungen bestimmt auch gegenwärtig noch die Forschung. Die symbolische Struktur einer religiösen Glaubenswelt ernsthaft nachzuzeichnen, scheint nach wie vor unter Ideologieverdacht zu stehen. Zum religiösen Spektakel verkürzt kann auch Kunst nur noch ironisch wirken oder Sicherheiten hinterfragen – ein mittlerweile sinn- und gehaltloser Aspekt postmodernen Kulturschaffens.
Insbesondere die Auseinandersetzung mit Schlingensief zeigt ein schon bei der Analyse von Handkes Texten deutlich gewordenes Talent der Autorin, intensiv in die behandelten Textwelten (hier im weiteren Sinne verstanden) einzutauchen und sich diesen im eingangs erwähnten Sinn auszusetzen. Die rahmende Theorie strukturiert und grundiert die Auseinandersetzung dabei durchaus, Knapp vermag es aber stets, sie als Werkzeug zu gebrauchen, um die behandelten Werke zu verstehen. Wenn sie Schlingensiefs Theaterarbeit aus theoretischer Perspektiver immer wieder mit dem eher abwertenden Etikett „Privatmythologie“ bezeichnet, spiegelt sich deutlich der Respekt und die Faszination für eine Kunst, die eine neue Bedeutsamkeit generieren möchte, die über das Persönliche und Private hinausweist. Ausführlich und prägnant arbeitet die Autorin heraus, inwiefern Schlingensief eine Vielzahl religiös codierter Objekte und Handlungen in seine Inszenierungen integriert, die sich in ambivalenter Doppelbewegung gegenseitig entwerten und bestärken.
Weiterführend kann insbesondere die Anknüpfung an Levi Strauss’ Konzept des wilden Denkens sein, die Knapp leider immer nur streift. Denn wie der „Bastler“ in Strauss’ Theorie greift Schlingensief auf den reichen Fundus kulturellen Materials zurück, kombiniert das Gefundene neu und generiert ein „alle Religionen verbindendes Heiliges“. Während er dabei einerseits im Sinne einer Ästhetik des Performativen vorführt, wie Rituale ihre Bedeutsamkeit im Vollzug erzeugen, wäre eher soziologisch nach der Funktion dieser Handlungen zu fragen, die jenseits ihres Vollzugs liegt und jenes symbolische Sinnsystem stabilisiert, das wir Kultur nennen können. Die Paradoxien und Ambivalenzen, die sich daraus ergeben, kann das wilde Denken – darin der Mystik ähnlich – aushalten.
Kleinere Ungenauigkeiten stören die Arbeit mit dem hinsichtlich der Ausstattung ansonsten sehr ambitioniertem Buch – so wurde etwa den Siglen GU und LP kein Text Handkes zugeordnet und das Wort „Seele“ hat an einigen Stellen einen Registereintrag für Martin Seel ausgelöst – was natürlich nur passieren konnte, weil die Mühe nicht gescheut wurde, ein Register anzulegen.
Insgesamt liegt hier eine sehr dichte Arbeit vor, der man die unzähligen Arbeitsstunden, die in sie eingeflossen sind, ebenso anmerkt wie die hermeneutische Begeisterung der Autorin. Sie ist gerade durch die noch kontroversen Forschungsperspekitven ein wichtiger Beitrag für eine fundierte Auseinandersetzung mit dem so ambivalenten Verhältnis von Religion und Kunst.
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