Skeptische Lektüren, insistierende Lektüren und Lektüren mit Wissenschaftsgeschichte

Verschiedene Publikationen bieten Annäherungen an Rilke auf dem Weg zu einer neuen historisch-kritischen Werksicht

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie in einem Interview des Kultur-Journal im Norddeutschen Rundfunks am 4. Dezember 2020 zu vernehmen war, arbeitet der Osnabrücker Germanist Christoph König gegenwärtig an einer ersten vollständigen Gesamtausgabe der Werke Rainer Maria Rilkes. Beteiligt sind die Internationale Rilke-Gesellschaft, Archive wie das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Schweizer Nationalbibliothek in Bern, die Schweizer Stiftung „Fondation Rilke“ in Sierre sowie die Sievert Stiftung für Wissenschaft und Kultur.

Verwirklicht werden soll das Projekt im Göttinger Wallstein Verlag, ein Erscheinungsdatum ist derzeit allerdings noch nicht in Sicht. 60 Jahre nach Erscheinen der Zinn’schen Ausgabe und neben der wieder verfügbaren Kommentierten Ausgabe in vier Bänden als wbg-Edition soll unter der Federführung Königs und unter Berücksichtigung der seither entdeckten Handschriften und anderer Materialien aus dem Nachlass eine neue Leserschaft erreicht werden. Geplant ist die Ausgabe auf 30 Bände, die sich jeweils mit einem präzise umgrenzten Werkabschnitt Rilkes befassen sollen.

Der Titel der gesamten Reihe scheint indes schon festzustehen: Entdunkelung. König und seine Mitarbeiter wollen ein von den bisherigen Werkausgaben abweichendes Editionsprinzip durchsetzen und Rilke besser verständlich machen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 4. Juli 2020 sagte König: „Dabei ist die dunkle Aussage nicht dunkel, weil sie etwas verbergen will, sondern weil die Komplexität seiner Reflexion in nichts anderes münden kann als in Dunkelheit – aber was geheimnisvoll erscheint, basiert doch auf einem unglaublich klaren Denken.“ König sieht seine Aufgabe als Wissenschaftler und Arbeiter am Werk Rilkes darin, einen imaginären Disput mit früheren Interpretationen von Rilkes Texten zu führen.

Einen Vorgeschmack auf die Konzeption der vollständigen, mit kritischen Analysen und Kommentaren versehenen Ausgabe könnten drei Publikationen geben, die mittlerweile im Wallstein-Verlag erschienen sind und welche von König selbst oder unter seiner wissenschaftlichen Begleitung entstanden sind. Die gemeinsame Klammer dieser Publikationen ist Königs bereits im Jahr 2014 erschienene Monographie über Rilkes Sonette an Orpheus. König fokussierte sich dort zunächst auf ein einziges Gedicht, Rilkes Sonett O komm und geh aus dem Spätwerk Sonette an Orpheus und zeigte daran die Voraussetzungen zu dessen Lektüre auf: Rilkes Idiomatik, seine Aneignung literarischer Traditionen, die Korrespondenzen des Dichters, seine Selbstaussagen und die Interdependenzen mit den anderen Sonetten dieses 1922 entstandenen Zyklus aus 55 Sonetten.

König wollte damit also zunächst eine eigene „skeptische Lektüre“ (so der Untertitel des Buchs) liefern und stellt sich erst dann der bisherigen Rezeptionsgeschichte. Diese legt er in zwanzig Lektüreporträts – u.a. von Heidegger, Wittgenstein, Beda Allemann, Paul Celan, Günter Eich vor. Weiterhin arbeitet König die neuesten Forschungsansätze von Ulrich Fülleborn und Manfred Engel heraus, auf deren Arbeit die Herausgabe der bisher einzigen Kommentierte Ausgabe der Werke Rilkes beruht; es geht also um eine Wissenschaftsgeschichte und Reflexion im Sinne einer kritischen Hermeneutik.

Für König sind die Gedichte Rilkes „wie Subjekte, ebenso entschieden wie selbständig, und sie erheben den Anspruch, gemäß ihrer Eigenart gelesen zu werden“, so Christoph König in seiner Einleitung. Interpretation bedeutet für ihn, von einer „Konzentration“ auszugehen, die eine „Zuspitzung“ impliziere, „eine gedankliche Arbeit, eine Reflexion, die im Material greifbar wird.“ König verlangt von sich und anderen Lesern besondere Fähigkeiten, „ein Vermögen, das nicht lehrbar, doch lernbar ist.“Das Vermögen des Lesers besteht in der kreativen Anwendung von lernbaren „Regeln“, „ohne für die Anwendung der Regeln selbst eine Regel oder Anweisung zu besitzen“, also ganz im Sinne von Schleiermachers Konzept einer „kunstmäßigen“ Behandlung eines dichterischen Werks. Die eigene Reflexion müsse dabei ständig rückgekoppelt werden mit der Lektüre auch anderer Interpreten, in einer „Lektüre zu mehrt“, und dabei die Wissenschaftsgeschichte mitreflektieren.

Auf diesen Grundgedanken beruht auch der Lektüredurchgang durch Rilkes Doppelzyklus Die Sonette an Orpheus, den das Peter-Szondi-Kolleg erarbeitet hat und der zwei Jahre nach dem Impuls von König als gemeinsame Publikation mit Kai Bremer – sozusagen als Probe aufs Exempel – ebenfalls im Göttinger Wallstein Verlag vorgelegt werden konnte. Der Band enthält nun systematisiert Interpretationen zu allen 55 Sonetten. Außerdem wird darin erstmals eine historisch-kritische Edition der Gedichte vorgelegt, die von Christoph König und Michael Woll erarbeitet worden ist.

Eine Gruppe von Leserinnen und Lesern hat sich über mehrere Jahre hinweg mehrfach getroffen und die Ergebnisse ihrer Einzellektüren diskutiert. In seinem Vorwort hebt König diese Unternehmung als „Modell der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses“ hervor und verbindet damit die Hoffnung für einen neuen interdisziplinären Diskurs insgesamt. Dieses Konzept scheint auch den Grundstock für die geplante Rilke-Gesamtausgabe zu bilden. Diese soll als historisch-kritische Ausgabe chronologisch angeordnet, aber modular konzipiert sein, d.h. jeder Einzelband wird gleichsam in sich geschlossen sein und alle Textfassungen enthalten.

Insofern stellt der von König und Bremer herausgegebene Band keinen gewöhnlichen Sammelband dar, sondern hält die Ergebnisse eines Kollegs dokumentarisch fest. Er unterscheidet sich darin von gängigen Analysen der Sonette an Orpheus, weil alle Teilzyklen in ihrer wechselseitigen Komplementarität gesehen werden. Dieses Prinzip war für König schon in seinem früheren Band interesseleitend, der das „Umfeld“ der anderen Sonette stets mitbedacht hatte.

In dem so zu verstehenden Nachfolgeband wird jedoch streng werkchronologisch Sonett für Sonett jeweils von einer anderen Autorin oder Autor interpretiert. Dabei sollte die „artistische Vernunft“ von Rilkes Werk gelten, beruhend auf der Vorstellung einer „inneren Geschichte des Zyklus“,

auf dem rationalen und linearen Fortschreiten im Gedicht (das so seine Komposition begründet); darauf, dass innerhalb der Sätze die unüberschreitbare und zugleich experimentell benutzte Grammatik zählt und dass auf der lexikalischen Ebene mit der Resemantisierung von Wörtern zu rechnen ist, die eine eigene Idiomatik bilden.

Aus den individuellen Zugängen der Beiträgerinnen und Beiträger wird nach und nach ein Ganzes, das die Facetten von Rilkes Gedichtzyklus entfaltet. Dabei entstehen auch sog. „Minizyklen“, formale, motivische oder thematische Gruppen von Sonetten, die für die Leser den Eindruck eines von Rilke verwobenen Netzwerks der Einzelsonette entstehen lassen.

Das Leseverhalten kann sich diesem Ziel anpassen: man kann die Sonett-Interpretationen einzeln lesen, sich in die Befunde vertiefen, dann aber von diesem konzentrierten Lektüreangebot ausgehend weitere Pfade des vorgelegten Bandes beschreiten.

Jeweils vorangestellt ist den zu interpretierenden Sonetten eine historisch-kritische Edition, die auch erstmals den kompletten Variantenapparat der auffindbaren Handschriften und Drucke der Textzeugen berücksichtigt. Hier werden – wie in den editorischen Nachbemerkungen zusammenfassend ausgeführt wird – „alle vier der bis heute zugänglichen Stufen der Textgenese“ wiedergegeben, um eine verlässliche Textbasis herzustellen. Das schließt jedoch nicht aus, dass in den jeweiligen Fußnotenapparaten die Bezüge auf die relevante Forschungsliteratur und auch auf die Kommentierte Ausgabe hergestellt und nachgewiesen werden.

Auf Basis dieses und möglicherweise der noch weiterer nach diesem Konzept entstehenden Interpretationsbände, die ihre Editionskriterien offenlegen und ergebnishaft vorführen, wird die Rilke-Philologie wesentlich befördert und den am Werk Rilkes interessierten Leserinnen und Lesern ein werkbezogenes Vademecum durch den Sonetten-Zyklus zur Verfügung gestellt werden können.

Der Lektüreband wird ergänzt um einen Essay von Mark-Georg Dehrmann, der umfassend darlegt, welche Ausgabe von Ovids Metamorphosen Rilke als Quelle verwendet haben könnte. Der Verfasser geht dabei nicht nur forschungskritisch vor, sondern beleuchtet auch die Überlieferungsgeschichte der Quelle. Mithilfe des ausführlichen bibliographischen Apparats, der die Ausgabe beschließt, kann sich der Leser auf weitere Spuren der Interpretationsgeschichte von Rilkes Sonetten begeben.

Auch Kristin Bischofs Lektüre mit Wissenschaftsgeschichte zu Rilkes Prosawerk Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge möchte ein weiteres Beispiel dafür liefern, wie eine pragmatische Dimension einer innovativen Einführung in ein zentrales Prosawerk der Moderne gestaltet werden kann. Wie auch die Beiträger des Sonetten-Bands war Kristin Bischof Mitglied des Peter-Szondi-Kollegs, das Raum für einen ganz eigenen Ton und Stil der Lektüre bieten soll. Allerdings weist Bischofs Publikation, die aus ihrer Dissertation hervorgegangen ist, einen allzu theorielastigen Ansatz auf.

Denn bevor sie zu ihrer eigenen Lektürepraxis kommt, die man sich als Leser vielleicht gewünscht hätte, werden zuerst sehr ausladend die für Bischof relevanten Forschungstraditionen noch einmal breit entfaltet: existenzphilosophische, literarhistorische, szientifische und sozialphilosophische Interpretationen. Und damit nicht genug: Auch die Sicht der Zeitgenossen auf Rilkes Aufzeichnungen werden referiert (Aufsätze der Zeitschrift Die Schaubühne, der Widerhall in Karl Kraus’ Zeitschrift Die Fackel und auch der sog. Bonner Schule). Anschließend legt Bischof detailliert die Forschungsgeschichte zu Rilkes Prosaroman seit 1961 dar.

Erst die andere Hälfte des Buches widmet sich der „durchgehenden Lektüre“, nicht aber, ohne sich erneut auf literaturwissenschaftlicher Basis mit der Gattungsfrage der Aufzeichnungen und dem „Symbolismus“ bei Rilke zuzuwenden. Danach gelangt Bischof zum angekündigten Lesedurchgang der 71 Unterabschnitte des Prosawerks, die Bischof, im Wissen darum, dass der Gedankengang Rilkes ein „fließender“ ist und jede Unterteilung „notwendig eine aufgezwungene“ ist, die den vielfältigen Bezügen nicht gerecht werden kann, so unterteilt hat. „Es handelt sich somit bei den Abschnitten um eine Überzeichnung zugunsten des Verständnisses und der Übersichtlichkeit der Lektüre.“ Bei diesem längsschnittartigen Durchgang fällt allerdings ebenfalls auf, dass der Fußnotenapparat allzu üppig ausfällt, was zwar der eigenen Lektürepraxis aus wissenschaftlicher Sicht entsprechen mag, aber Leserinnen und Lesern, die einen neuen, vielleicht auch unverstellten Blick auf Rilkes Malte Laurids Brigge erhalten wollen, nicht entgegenkommt.

Dieses allerdings gelingt der Verfasserin dann doch noch in zwei weiteren Abschnitten des Buches, in denen es um „vertiefende Einzellektüren“, kreisend um die beiden Paradigmen „Rilkes Familie“ und die „Tradition der Namenlosen“ (im Anschluss an Ibsen), geht. Diese dreißig Seiten machen Bischofs Publikation dann doch noch zu einer lohnenden Lektüre und entschädigen für die vorausgegangenen Referate der Forschungslage.

Der Schwerpunkt des Buches liegt aber eindeutig auf der speziellen Wissenschaftsgeschichte zum Werk Rilkes und nicht auf der prozesshaften Darlegung einer eigenen Lektüre. Ob also das Ziel der Workshops im Peter-Szondi-Kolleg, darzulegen wie man etwas verstanden hat, mit dieser Publikation erreicht werden kann, muss letztlich jeder für sich selbst herausfinden. Das „Gespräch des Lesers mit sich selbst“ fällt hier zumindest eher knapp aus, und zu wünschen ist der Publikation, dass sie sich in der „Diskussion mit anderen Lesern“ dann doch letztlich bewähren kann.

Titelbild

Christoph König: »O komm und geh«. Skeptische Lektüren der ›Sonette an Orpheus‹ von Rilke.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
384 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315174

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Christoph König / Kai Bremer (Hg.): Über »Die Sonette an Orpheus« von Rilke. Lektüren.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
400 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317017

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Kristin Bischof: Der Gedankengang der »Aufzeichnungen«. Lektüre mit Wissenschaftsgeschichte von Rainer Maria Rilkes »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
296 Seiten , 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835336698

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