Eine Spielerin im planetarischen Schach um die Weltrevolution
Mit „Damenopfer“ entreißt Steffen Kopetzky die Journalistin, Schriftstellerin und Revolutionärin Larissa Reissner dem Dunkel der Geschichte und entdeckt eine der schillerndsten Figuren ihrer Epoche
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls sie am 9. Februar 1926 in Moskau an Typhus starb, war Larissa Reissner gerade einmal 30 Jahre alt. Als Tochter eines namhaften deutschstämmigen Rechtswissenschaftlers, Sozialpsychologen und Historikers und seiner russischen Frau wurde sie 1895 in Lublin geboren. Da die Familie schon ein Jahr nach Larissas Geburt Russland verlassen musste, nachdem Michail Reissner auch in seiner Tätigkeit als juristischer Gutachter keinen Hehl aus seiner marxistischen Weltanschauung machte, waren es Schulen in Frankreich und Deutschland, die das Mädchen zunächst besuchte. Aufgeschlossen, wissbegierig und sprachlich begabt, lernte sie über ihren Vater in den kommenden Jahren führende deutsche Sozialdemokraten und Kommunisten wie August Bebel und Karl Liebknecht kennen und begegnete sogar dem Exilanten Lenin.
Das prägte früh ihr Weltbild, so dass es nicht verwundert, dass Reissner nach 1914 zur glühenden Kriegsgegnerin wurde, sich später aktiv an der Oktoberrevolution beteiligte, im Sommer 1918 in die bolschewistische Partei eintrat und später als Kommissarin in der Roten Flotte diente. Ihre journalistischen Arbeiten – unter anderem für die Tageszeitungen Prawda und Iswestija – fanden von Beginn an große Beachtung. In den 20er Jahren waren es dann vor allem Reiseberichte, mit denen sie Aufsehen erregte. Dies und ihre persönlichen Bekanntschaften mit Schriftstellern wie Gorki, Pasternak oder Bulgakow sowie der politischen Elite des jungen Sowjetstaats von Lenin über Trotzki bis Stalin machten sie letztlich zu einer der schillerndsten, heute freilich weitgehend vergessenen Figuren des ersten nachrevolutionären Jahrzehnts.
Für Steffen Kopetzky, in dessen Romanen das frühe 20. Jahrhundert schon mehrmals den geschichtlichen Hintergrund bildete, war es wohl vor allem – neben ihrer von vielen der ihr Begegnenden fasziniert festgehaltenen Ausstrahlung – ihr nimmermüder Einsatz für die Sache einer Revolution, die die ganze Welt erfassen sollte, der ihn an Larissa Reissner so fesselte, dass er ihrem Schicksal in einem ganzen Roman nachgehen wollte. Dabei ist Damenopfer alles andere als eine Romanbiographie im herkömmlichen Sinne.
Statt das Leben der Larissa Reissner chronologisch nachzuerzählen, nähert sich Kopetzky seiner Hauptfigur in 23 Kapiteln aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln und unter Einsatz verschiedener Textsorten. Er fügt Kapitel ein, in denen er andere historische Figuren – etwa die Dichterin Anna Achmatowa, die Schauspielerin und Regisseurin Asja Lācis oder den vietnamesischen Staatspräsidenten Ho Chi Minh – über ihre Begegnungen mit der begeistert an der Idee der permanenten Revolution Festhaltenden berichten lässt, oder charakterisiert über fiktive Sitzungsprotokolle und Auszüge aus Reden Reissners Hauptfeind, den sich die ganze Welt unterwerfenden englischen Imperialismus.
In einem der literarisch eindrucksvollsten Kapitel unterhalten sich vier Totengräber auf dem am Moskauer Stadtrand gelegenen Wagankowoer Friedhof über Gott, die Welt, die Revolution und schließlich auch über die persönliche Begegnung des einen von ihnen mit der Frau, für deren Leichnam man gerade dabei ist, unter großen Mühen – es ist bitter kalt und der Boden tief gefroren in jenen Februartagen 1926 – ein Grab auszuheben. Der Mann ist Larissa Reissner während ihrer Zeit bei der Baltischen Flotte in Kronstadt, der Festungsinsel im Finnischen Meerbusen vor St. Petersburg, begegnet und erinnert sich sowohl daran, dass er unter ihrer Anleitung zum Dichter wurde, wie auch an die Autorität, die sie als Politkommissarin unter dem Kommando ihres späteren Ehemannes besaß. Dass der Roman ganz zum Schluss auf diese Episode zurückkommt, noch einmal die Totengräber auftreten lässt, wie sie den Sarg an Seilen in die kalte Erde hinablassen, macht diese im Stil der klassischen russischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts geschriebene Geschichte zu einer Art Rahmen um das dazwischen szenenartig inszenierte, kurze und doch äußerst intensive Leben der Larissa Reissner.
Damenopfer beginnt in der Hauptstadt des damaligen Emirats Afghanistan. Als Ehefrau des sowjetischen Gesandten in Kabul, des früheren Admirals der Baltischen Flotte Raskolnikow, den sie als ihm zugeordnete Politoffizierin im Bürgerkrieg kennengelernt hat, macht Larissa Reissner dort im Frühjahr 1923 eine Entdeckung, die sie die nächsten drei Jahre bis zu ihrem Tod umtreiben wird. Es ist eine „bis ins letzte Detail skizzierte Schilderung eines denkbaren, von Afghanistan ausgehenden erfolgreichen Feldzuges gegen Britisch-Indien“, die ihr in einer verlassenen Villa in die Hände fällt. Larissa ist sofort fasziniert, glaubt sie doch, in diesem von einem deutschen Offizier namens Oskar Niedermayer hinterlassenem Konvolut den exakten Plan für die Weltrevolution, von der sie schon immer geträumt hat, vor sich zu haben. Asien und Europa gemeinsam gegen Großbritannien. Und Indiens Befreiung von den Briten soll den Anfang machen. Oder wie der unbekannte Deutsche, den persönlich kennenzulernen sie sich sofort vornimmt, schreibt: „Wenn Kontinente erwachen […] werden Inselweltreiche zerstört.“
Von diesem Punkt aus entwickelt Steffen Kopetzky das Bild einer rastlosen Frau und Trotzkistin, die sich unter Revolution nichts geografisch Beschränktes vorzustellen vermag. Für sie ist der Aufstand gegen den international agierenden Imperialismus einer, der die ganze Welt erfassen muss. Und mit Niedermayers Plan kennt sie nun auch jene Schachzüge, mit denen das endgültige Matt des gemeinsamen Gegners zu bewerkstelligen wäre. Indem sie sich auf die Suche nach dem Autor macht, sucht sie letzten Endes auch einen wichtigen Bündnisgenossen für ihren Kampf um einen die ganze Welt umspannenden Aufstand der proletarischen Massen gegen ihre Unterdrücker.
Wie sie ihn schließlich findet und dennoch in ihrem Hoffen auf eine die ganze Welt erfassende Bewegung enttäuscht wird, schildert Kopetzky, indem er seine Heldin an die verschiedenen Orte ihres Lebens und Wirkens begleitet. So finden die Leserinnen und Leser Larissa Reissner nicht nur auf den Spuren jenes ominösen Deutschen Oskar Niedermayer in Leipzig und Berlin, sondern auch in Wiesbaden, wo sie auf dem Neroberg die Folgen der Malaria, an der sie seit Jahren leidet, auszukurieren versucht und bei der Gelegenheit ihrer in Leipzig lebenden Cousine Tania, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist, anvertraut, dass sie ein Kind geboren hat. Dass die rastlos im Namen der Weltrevolution von Ort zu Ort eilende Larissa dabei mit einem Säugling wenig anfangen kann, führt dazu, dass der Junge mit dem Namen Arian als Pflegekind in Tanias Familie aufwächst.
Im letzten Kapitel des Romans, seinem dreiundzwanzigsten und gleichzeitig kürzesten Abschnitt, weil er nicht mehr als eine Postkarte aus dem Juni 1948 enthält, kommt der dann 25-jährige Arian Kaplan – er trägt seit seinen Leipziger Jahren Tanias Nachnamen – noch einmal zu Wort, indem er, der inzwischen als Captain in der amerikanischen Armee in Berlin stationiert ist, ganz im Geiste seiner leiblichen Mutter versichert, die Freiheit gegen jeden zu verteidigen, der sie auf der Welt angreift. Weil die größte Bedrohung inzwischen von dem „Verbrecher Stalin“ ausgeht, schließt der biographische Roman über eine frühere Bündnisgenossin mit einer durchaus bitteren Pointe.
Dass Kindheit und Jugend seiner Heldin sowie die Kehrseite von Larissa Reisners revolutionärem Enthusiasmus, etwa ihre Rolle bei der blutigen Niederschlagung des Aufstandes der Kronstädter Matrosen im Jahre 1921, in Kopetzkys Roman ein wenig zu kurz kommen, mag man bedauern. Geschuldet ist das aber einer durchaus schlüssigen Konzeption, die sich eindeutig auf das Wirken der Hauptfigur als Revolutionärin, deren Pläne und Gedanken die ganze Welt einbezogen, konzentriert.
Steffen Kopetzkys Roman schließt mit einer visionären Szene. Vom „Haus der Presse“, wo der Leichnam Larissa Reissners einige Tage öffentlich aufgebahrt war, bis zur Grablege auf dem Wagankowoer Friedhof bewegt sich eine riesige Menschenmenge durch Moskau, um der Revolutionärin und Dichterin die letzte Ehre zu erweisen. Darunter befindet sich der Dichter Boris Pasternak, der die Freundin mit den Zeilen „Zu deinen Füßen krümmten sich die Stümper,/ Das Unvollkommne blitzte an dir ab.“, gesprochen am offenen Grab, verabschieden wird.
Aber auch seine Kollegen Isaak Babel und Boris Pilnjak, mit denen der spätere Autor des berühmten Doktor Schiwago (fertiggestellt 1956, in der Sowjetunion erstmals 1988 erschienen) sein Erinnerungsgedicht vor dem öffentlichen Vortrag diskutiert, lassen es sich nicht nehmen, eine der ihren auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Und die drei scheinen sich über ein Jahrhundert hinweg direkt an Steffen Kopetzky zu wenden, wenn sie während ihrer Diskussion zu dem Schluss kommen: „Das Leben unserer armen Larissa wäre ein fabelhafter Stoff. Reine Revolution!“. Leo Trotzki und Deng Xiaoping, der zu Larissas Studenten an der Moskauer Sun-Yat-sen-Universität zählte, Alexandra Kollontai, Vera Inber, die in einem 1943 entstehenden Gedicht die Schrecken der faschistischen Belagerung Leningrads beschreiben wird, zählen zu den Trauernden. Und im Hintergrund halten sich bereits jene Akteure bereit, die ein gutes Jahrzehnt später dafür sorgen werden, dass der Stalinsche Terror viele derjenigen tödlich treffen wird, neben und unter denen sie sich jetzt noch bewegen, um sich Gesichter einzuprägen, von denen man „ahnte, dass sie alle verloren waren, die da treu hinter Larissas von braven Männern getragenem Sarg herzogen.“
Wer sich im Übrigen, inspiriert durch diesen Roman, für das letzten Endes gar nicht so schmale Werk Reissners interessiert, der sei hingewiesen auf eine für das Frühjahr 2024 vom Rowohlt Berlin Verlag angekündigte Sammlung von Reportagen unter dem Titel 1924. Eine Reise durch die deutsche Republik. Steffen Kopetzky hat sie ediert und mit einem informativen Vorwort versehen. Eine Wiederentdeckung, die sich mit Sicherheit genauso lohnen wird wie diejenige ihrer Autorin mit dem vorliegenden Roman.
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