Narratologische Modelle treffen auf mittelalterliches Erzählen

Ein von Eva von Contzen und Florian Kragl herausgegebener Band zeigt, wie man mittelalterliche Texte durch moderne narratologische Ansätze analysieren kann

Von Christian Prado WohlwendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Prado Wohlwend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Band publiziert die Arbeitsergebnisse des interdisziplinären DFG-Netzwerks „Medieval Narratology“, das aus mehreren Teildisziplinen besteht. Verschiedene mittelalterliche Erzählungen unterschiedlicher Volkssprachen werden im Rahmen des Netzwerks untersucht und analysiert. Dafür werden Kategorien und Modelle der neueren Literaturwissenschaft angewandt und den vielfältigen mittelalterlichen Texten angepasst.

Ziel dieses Bands ist die Gültigkeit und Anwendbarkeit dieser moderneren Ansätze auf mittelalterliche Literatur zu überprüfen, um dann mittelalterliche Texte auf der Basis solider narratologischer Theorien analysieren zu können.

Der Band kann in zwei thematische Bereiche gegliedert werden: Autor/Erzähler/Perspektive und Zeit/Raum. Es handelt sich insgesamt um zehn Beiträge, sieben in deutscher Sprache, drei auf Englisch, die aus den Perspektiven unterschiedlicher philologischen Disziplinen verfasst worden sind:

Den Anfang macht Sebastian Balmes mit seiner Darstellung zu „sprachlichen Grundbedingungen der klassischen Tagebuchliteratur Japans und Probleme von Erzählstimme und Perspektive in ‚Tosa Mikki‘“. Balmes zeigt, dass in der klassischen Literatur Japans die grammatische Person unbestimmt bleibt, man könnte sogar behaupten, dass die japanische Sprache über diese grammatische Kategorie nicht verfügt. Dies führt dazu, dass bestimmte narratologische Modelle auf diese Texte sehr schwer anzuwenden sind.

Brigitte Burrichter widmet sich in ihrem Beitrag der Perspektive bei Chrétien de Troyes. Im Falle der Texte Chrétiens wird Fokalisation strategisch angewandt. Gérard Genettes Theorien und andere narratologische Modelle könnten dementsprechend dafür benutzt werden, Chrétiens Texte zu analysieren, wenngleich das Werk eher eine Ausnahme seiner Zeit darstellt.

Mit „Narrative and Experience in Medieval Literature. Author, Narrator, and Character Revisited“ stellt Eva von Contzen in Frage, ob narratologisches Erzählen hauptsächlich als Akt der Kommunikation interpretiert werden kann. Laut der Autorin sollte es vielmehr als Akt des Erlebens verstanden werden. Demnach verlieren klassische Annäherungsperspektiven wie die der kognitiven Erzähltheorie an Bedeutung. In diesem Beitrag wird Kritik an üblichen und konventionellen Analysemodellen geübt. Zugleich werden neue interpretatorische Ausgangspunkte vorgeschlagen, die auf den Phänomenen des Erfahrens und der Erfahrungsangebote basieren.

Stijn Praet setzt sich in seinem Beitrag „A Monk’s Tale. Framing the Fictional in John of Alta Silva’s ‚Dolopathos‘“ mit dem Thema der Fiktionalität auseinander. Konkret beschäftigt sich Praet mit der Figur eines erfundenen Erzählers im Werk „Dolopathos sive rege et septem sapientibus“. Er kommt zu dem Schluss, dass die Fiktion dieses Erzählers als Legitimationsstrategie zu verstehen sei, um die moralische Funktion fiktionaler Erzählungen zu unterstützen.

David Callander widmet sich in seinem Artikel der diachronen Entwicklung der Erzählung in der kymrischen Heiligendichtung und untersucht die Anwendung von William Labovs Erzähltheorie auf die mittelkymrische Poesie.

Unter dem Titel „Schaubühnen. Überlegungen zur erzählten Topographie und ihrer historischen Bedingtheit“ beschäftigt sich Florian Kragl mit der erzählten Topographie in der mittelalterlichen Literatur und deren Vergleich zur moderneren Literatur.

Mit der grundlegenden Frage des Tempus als möglichem Gattungsmerkmal der Literatur befasst sich Katharina Philipowski in ihrem Beitrag „Die deiktische Poetik des Präsens, oder: Wie das ‚jetzt‘ ein ‚hier‘ erschafft“.

In Christian Schneiders Artikel „Welt it nu gerne schowen, so hoeret vil bereit. Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume in der frühen höfischen Epik“ wird die Beziehung zwischen Raum und Raumwahrnehmung in der frühen höfischen Epik analysiert. Dies wird aus der Perspektive der Pragmalinguistik durchgeführt.

Dominik Streit analysiert in „Von Soltane nach Munsalvaesche. Raum und Zeit im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach“ Raum und Zeit in Hinblick auf deren Funktionen, welche nicht nur eine entscheidende Funktion im Aufbau der Handlung erfüllen, sondern auch als sinngebendes Element der gesamten Erzählung agieren.

In dem englischsprachigen Artikel von Sonja Zeman „Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives“ wird die Kategorie ‚Zeit‘ in drei mittelhochdeutschen Texten untersucht und dabei eine theoretische Basis für künftige Analysen angeboten.

Es handelt sich, sowohl formal als auch thematisch, um sehr unterschiedliche Beiträge, die dennoch ein gemeinsames Ziel verfolgen: Die Überprüfung narratologischer Theorien und deren Anwendung auf die wissenschaftliche Analyse mittelalterlicher Texte unterschiedlicher Literaturtraditionen. Die Lektüre der Artikel bedarf literaturwissenschaftlicher Vorkenntnisse und sorgfältigen Lesens, sodass der Band für Fachleute sehr geeignet und äußerst interessant sein kann, nicht aber für Einsteiger. Da das Buch von einer ausgeprägten Interdisziplinarität gekennzeichnet ist, könnte es wiederum für ein sehr breites Spektrum von interessierten und ausgebildeten Lesern relevant sein.

Die Aufsätze eröffnen eine essenzielle Dialektik zwischen differenten Literaturtraditionen, zwischen Texten unterschiedlicher Literaturepochen und zugleich zwischen literaturwissenschaftlicher Theorie und Praxis.

Der Band bietet somit einen sehr guten Überblick über den Stand der Forschung, sodass mögliche Leser nicht nur lehrreiche und wissenswerte Informationen, sondern auch Inspiration für potentielle künftige Arbeiten in diesem Forschungsbereich gewinnen können.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Florian Kragl / Eva von Contzen (Hg.): Narratologie und mittelalterliches Erzählen. Autor, Erzähler, Perspektive, Zeit und Raum.
De Gruyter, Berlin 2018.
289 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110565478

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