Der wahre Rudolf Höß?

Wilhelm Kreutz und Karen Strobel haben als erste die Biografie des Auschwitz-Kommandanten recherchiert

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch Kommandant in Auschwitz, die autobiografischen Aufzeichnungen von Rudolf Höß, ist ein Klassiker. Jeder, der sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust beschäftigt, kennt es. Fast jeder in Deutschland dürfte im Geschichtsunterricht Auszüge daraus gelesen haben. Als „das wichtigste Zeugnis“ bewerten es Eugen Kogon und andere Historiker. Verschiedene Disziplinen nutzen die Aufzeichnungen nicht nur als historisches, sondern auch als historiografisches Dokument über die Judenvernichtung. Zudem dienen sie als Material für sozialpsychologische Skizzen der NS-Täter. Dabei beschränkt man sich nicht auf Höß, sondern überträgt dessen Aussagen über seine Psyche auf NS-Täter im Allgemeinen.

Wie man darauf kommt, einen Täter als Quell unmittelbarer Wahrheit für dessen eigenes Leben, seine Seele, seine Motive, den Ablauf historischer Prozesse und die Analyse anderer Täter zu nehmen, verwundert und bedarf einer eigenen Untersuchung. Im Laufe der Zeit kamen durchaus Zweifel auf. Dass Höß „historiographisch unzuverlässig“ sei, merkte der israelische Historiker Yehuda Bauer bereits Mitte der 1980er-Jahre an. In der deutschen Historikerzunft wurden solche Zweifel erst 10 bis 15 Jahre später laut. Einzelne Daten konnten nicht stimmen, bemerkten Peter Longerich, Christopher R. Browning, Jan-Erik Schulte und Karin Orth. Dabei blieb es dann aber auch. Man beschränkte sich auf Details.

Eine Rezeptionsgeschichte von Höß’ Memoiren wäre auch eine Geschichte deutscher Historiografie, Soziologie, Sozialpsychologie und des deutschen Feuilletons. Denn so krude die Erzählung auch ist (Höß nahm sein Lieblingspferd mit in sein Kinderzimmer?), man sprach sie einfach nach. Kratzer an Höß‘ Darstellung kamen und kommen überwiegend von außen – sowohl aus dem Ausland als auch von jenseits der Zunft. Dass sie „exhibitionistisch und voller Selbstmitleid“ seien, das fiel neben dem israelischen Historiker Tom Segev auch dem deutsch-jüdischen Publizisten Hanno Loewy auf. Lager-Überlebende wissen zu berichten, was Höß verschweigt, nämlich dessen Grausamkeit und Korruption.

Überlebenden-Aussagen und die Analyse von Grausamkeit haben unter deutschen Historikern aber traditionell einen schweren Stand: Sie lenkten nur ab, die Betrachtung drohe moralisierend und zu subjektiv zu werden, lautet für gewöhnlich die Argumentation. Dass sie und andere Disziplinen über Jahrzehnte die subjektiven Aussagen eines Täters nachbeteten, das fiel ihnen nicht auf. Hinzu kamen – nicht nur bei etwas zweifelhaften Historikern wie Ian Baxter – merkwürdige Einsichten in Höß’ Seelenleben. Manche meinten ganz genau zu wissen, was in ihm vorgegangen sei, ohne das angemessen belegen und beurteilen zu können.

Wie Höß zu lesen sei, das hatte der deutsche Historiker Martin Broszat in seinem Vorwort zu den Memoiren geschrieben: Höß sei ein „kleinbürgerlich-normaler Mensch“ gewesen, ein „ehrgeiziger, pflichtbesessener, autoritätsgläubiger und prüder Philister“, ein „Exekutionsbeamter“, erfüllt von „roboterhafter Pflichterfüllung“. Passend dazu sei die Judenvernichtung ein „hygienischer Massenmord“ gewesen. Auf „sehr einfache, geräuschlose und unblutige Weise“ hätten Höß und Kollegen „ordnungsgemäß“ und „fabrikähnlich“ den „reibungslosen Vollzug eines anonymen Mechanismus“ vollzogen. So wurde es gleich nach dem Erscheinen der Memoiren in vielen Zeitungsartikeln unters Volk gebracht, wie der deutsche Historiker Nicolas Berg gezeigt hat. Und dieses Vokabular wurde in den folgenden Jahrzehnten in zahlreichen Essays und wissenschaftlichen Arbeiten in unterschiedlichen Konfigurationen wieder und wieder aufgelegt und weitergedeutet.

Broszats Vokabular zeigt an, wo die Deutung schnell hingeht: Pflichtbesessenheit, Autoritätsgläubigkeit, Beamtentum, Anonymität, Mechanismus, Roboterhaftigkeit und so weiter sind die Startrampe für den Sprung in die konservative Kulturkritik und ins Allgemeine. Bereits Broszat entdeckte den „Ungeist des Mechanischen“ in Höß’ Taten sowie „ein Stück der allgemeinen Pervertierung des Gefühls und der Moralbegriffe sowie jener universalen Bewußtseinsspaltung“. So nimmt man Deutschland aus dem Visier und lässt dem Judenhass verschwinden. Karl Korn, der von Theodor W. Adorno geschätzte Sprachkritiker und damals Chef des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erkannte das schnell: „Der latente Terror, der in der modernen Industriegesellschaft steckt, ist in Auschwitz zum offenen Ausbruch gekommen“, heißt es in seiner Rezension von Kommandant in Auschwitz. In immer neuen Formulierungen schreibt dies in der Gegenwart der italienische Historiker Enzo Traverso.) Höß zeige das „Dilemma des unmündig gewordenen Menschen, die Misere der totalen Dienstbarkeit“, schrieb unter anderem der Historiker und Publizist Joachim Fest diesen Gedanken weiter. Der Nationalsozialismus habe gezeigt, „was dem Menschen möglich ist“, respektive „was alles mit dem Menschen möglich ist“. Bei dem in den vergangenen Jahren sehr populär gewordenen Sozialpsychologen Harald Welzer wurde Höß zum „Prototyp eines ‚social engineers‘, der industrielle und bürokratische Funktionsabläufe mit wissenschaftlich fundierter und geschmeidig angepaßter Menschenbehandlung zu kombinieren suchte“. Gerne greift man zu den inzwischen zweifelhaft gewordenen Gehorsamsexperimenten Stanley Milgrams, um von Höß’ nie angezweifelter Selbstauskunft gegenüber dem Gerichtspsychologen Gustave Gilbert, er sei „völlig normal“ sowie befehlsgebunden, und er habe seine Arbeit nicht gern gemacht, auf den „Menschen an sich“ zu schließen. Höß habe das „Bedürfnis des Menschen, sich anzupassen“ gezeigt, schrieb der Historiker Gunnar Boehnert.

Andere hatten ihre Probleme mit dem Text. „His text is here in front of us – and I can do nothing with it“, resümierte die australische Historikerin und Anthropologin Inga Clendinnen ihre Lektüre. Sowohl die Person Höß als auch sein Text blieben opak – und „profoundly troubling“. Was kann man mit den Erinnerungen also machen? Als erstes sollte einem Quellenkritik und Fakten-Check in den Sinn kommen. Es hat aber rund 70 Jahre gedauert, bis das jemand unternommen hat. Wilhelm Kreutz, Historiker an der Universität Mannheim, und Karen Strobel, Mitarbeiterin am Marchivum Mannheim, haben das getan, was Aufgabe von Historikers ist: Sie sind in die Archive gegangen. Dabei haben sie Erstaunliches und viel Neues herausgefunden. Zudem kommt dank ihrer Arbeit Der Kommandant und die Bibelforscherin das oben geschilderte geliebte und tradierte Höß-Bild ins Wanken.

Nahezu alles, was Höß über sein Leben erzählt hat, ist gelogen. Darunter sind einige Episoden, die in der Höß-Literatur immer wieder zur Erklärung von dessen Entwicklung und Persönlichkeit zitiert werden. Höß stammt nicht aus einer materiell gesicherten Familie kaiserlicher Militärs, und sein Vater war sehr wahrscheinlich nie in den Kolonien gewesen. Damit bricht die angebliche Vorprägung durch den preußischen Militarismus und den deutschen Kolonialismus sowie die Abstiegsgefährdung aus dem unteren Bürgertum weg. Seinen Bildungsweg hatte Höß erheblich aufgehübscht.

Wie sorgfältig und detektivisch Kreutz und Strobel vorgingen, das sieht man an der Untersuchung eines viel zitierten Vorfalls. Höß behauptet, er habe einen Mitschüler versehentlich verletzt und dafür als Strafe zwei Stunden Karzer bekommen. Zudem habe er diesen Vorfall seinem Beichtvater gebeichtet, der ihn bei seinem Vater verraten habe. Mit dieser Episode erklärt Höß seine Abkehr von der katholischen Kirche. Kreutz und Strobel haben in den Schulunterlagen nachgeschaut. Ergebnis: Es gibt keinen Eintrag zu solch einem Vorfall, Höß’ Betragensnote rutschte nicht ab, und disziplinarische Maßnahmen sind auch nicht vermerkt. Die Geschichte kann also nicht stimmen.

Ebensowenig wie seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg: In den Stammrollen des 2. Badischen Dragoner-Regiments 21 der Großherzoglichen Armee ist er nicht verzeichnet. Angehörige dieses Regiments kämpften nicht in der von Höß angegebenen Region. Zudem waren nur kriegsgeübte Truppen im Einsatz, also bestimmt kein 16-Jähriger mit nur kurzer Ausbildung. Ab da wird es immer bunter: Höß kann sich nicht Ende Oktober auf der von ihm beschriebenen Route auf eigene Faust von der Front in die Heimat durchgeschlagen haben, denn dieser Rückweg war zu der Zeit aufgrund der militärischen und politischen Lage verbaut. Entsprechend war er danach auch nicht in Kämpfen im Vorderen Orient beteiligt. Aber existenzielle Verbindungen zum Heiligen Land spielen ja auch in der Legenden-Vita von Höß’ engem Kollegen Adolf Eichmann eine Rolle. „Die an Karl May erinnernde Aufschneiderei“, kommentieren Kreutz und Strobel zutreffend, „wiederholen in Dramaturgie und Topoi die Weltkriegsromane soldatisch- oder völkisch-nationalistischer Autoren der ausgehenden 1920er und frühen 1930er Jahre“. Es ist die übliche Inszenierung der Mann-Werdung mit der heiligen Trias von Töten, Verwundung und sexueller Initiation. Tatsächlich war der Vollwaise Höß zu dieser Zeit als Untermieter und Kostgänger bei diversen Fach- und Fabrikarbeitern gemeldet.

Ab dem Jahr 1918 stimmt Höß’ Erzählung wahrscheinlich zumindest in groben Zügen. Er war beim Freikorps Rossbach in Ostpreußen und danach auf ostdeutschen Landgütern im nationalsozialistischen Untergrund der Weimarer Republik organisiert. Dort war er am Parchimer Fememord beteiligt, wofür er zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, von denen er allerdings nur fünf absaß. An den Eckdaten kann Höß nichts ändern, aber Kreutz und Strobel haben herausgefunden, dass die Polizei im Zuge der Fememord-Ermittlungen nicht nur waffentechnische und militärische Handbücher bei Höß fand, sondern auch völkische und antisemitische Werke. Höß war nach eigener Auskunft kein Antisemit. Jahrzehntelang hat man ihm – so wie Eichmann – das geglaubt. Es fügt sich auch zu gut in das Bild vom „unpolitischen Untertan“ (Hermann Glaser), vom „Planungsbeamten“ und „Typus des gedankenlosen Handlangers“, der einfach nur mit „hemmungsloser Gründlichkeit“ vorgegangen sei (Joachim Fest), vom nicht-radikalen „Konformisten“, der „überall absahnt, ohne sich je auf eine Sache einzulassen“, der „nicht haßt, aber vernichtet“ (Wolfgang Pohrt), vom „Organisator und Bürokraten“, der jeden anderen Job genauso gut getan hätte (Aleksander Lasik). Höß’ Selbstauskunft mag durchaus ernst gemeint gewesen sein. Denn sehr bald nach der Machtergreifung haben mehrere Stellen in der nationalsozialistischen Bewegung – wie die US-Historikern Claudia Koonz gezeigt hat – hart daran gearbeitet, Antisemitismus neu zu definieren. Ab den späten 1930ern gab es eine Sprachregelung: Der Begriff „Antisemitismus“ wurde allein für den in der deutschen Bevölkerung diskreditierten emotionalen Judenhass verwendet. Alle anderen Judengegner sahen sich als vorurteilsfreie aufgeklärte Streiter für eine selbstverständliche, gute Sache. Wenn Höß und Eichmann sagten, sie seien keine Antisemiten, dann bewegten sie sich weiterhin in diesem nationalsozialistischen Diskurs. Ihre Interpreten nach 1945 sprachen es einfach nur nach und verwendeten es als Beweis für ihre These vom ideologielosen Sachbearbeiter und emotionslosen Bürokraten.

Der angebliche Nicht-Antisemit Höß bestellte sich als Gefängnis-Lektüre unter anderem einen Band „Ausgewählte Werke“ von Gustav Freytag, dessen Soll und Haben immerhin eines der meistgelesenen Stammbücher des Antisemitismus ist. Dank Kreutz’ und Strobels akribischer Detailarbeit wissen wir, dass Höß während der Haft eng in das völkisch-nationale Netzwerk eingebunden war. Für die Gefängnisakten (Besucher und Briefpartner) hat sich bislang kein Historiker interessiert. Sowenig wie für das Archiv der deutschen Jugendbewegung Jugendburg Ludwigstein. Nicht zuletzt verdanken wir Kreutz und Strobel neue, frische Bilder statt der sattsam bekannten: Ein gut gelaunter Höß nach der Haft in bündischer Tracht bei den Artamanen, einem Sammelbecken verschiedener nationalistischer und völkischer Strömungen. Höß lachend am Feldrand, neben seiner germanisch bezopften Frau, beim Ringelreihen auf dem Gut, auf dem Waldboden sitzend unter seinesgleichen. Und über dem Gut weht groß die Hakenkreuzflagge.

Zu seinesgleichen gehörten längst Personen der späteren NS-Macht. Martin Bormann war ebenfalls in den Parchimer Fememord verwickelt und Höß seitdem eng verbunden. In der NSDAP war Höß bereits seit November 1920. Heinrich Himmler lernte er über die Artamanen kennen.

Der weitere Verlauf ist bekannt: Auf Heinrich Himmlers Anregung hin Eintritt in die Schutzstaffel (SS), dort steile Karriere bis hin zum Kommandanten des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Auch auf diesem Weg decken Kreutz und Strobel viele Lügen, Widersprüchlichkeiten und Merkwürdigkeiten in Höß’ Darstellung auf. Das mag jeder selber nachlesen.

Wie aber kommt Sophie Stippel in das Buch hinein? Sie war seine Köchin in Auschwitz. In ihrer Familie heißt es zudem, dass sie und Höß sich bereits vor Auschwitz gekannt hätten. Die geborene Greiner kam am 28. Mai 1892 in Mannheim zur Welt und lebte zeitweise in der Nachbarschaft des jungen Höß. Nach dem Verlust eines Kindes wandte sie sich den Zeugen Jehovas zu, wurde deshalb später von den Nazis verhaftet und schließlich nach Auschwitz deportiert. Die „Bibelforscher“, so erzählt Höß in seinen Memoiren, waren bei der SS wegen ihrer Zuverlässigkeit beliebt. Gift im Essen war von ihr nicht zu befürchten. Einen letzten Auftrag des Kommandanten, als das Lager aufgelöst wurde, verweigerte die gottesfürchtige und pazifistische Frau aber: Höß „sicherlich eher sentimentale als eine im konventionellen Sinne verbrecherische Natur“ (Ernst Nolte), der „nicht nur korrekt, sondern auch sentimental, gefühlvoll oder gar gemütlich“ gewesen sei (Hermann Glaser) und der nach eigener Aussage seine Kinder über alles liebte, hatte Stippel aufgetragen, diese zu vergiften, sollten die Russen kommen.

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Wilhelm Kreutz / Karen Strobel: Der Kommandant und die Bibelforscherin. Rudolf Höß und Sophie Stippel.
Herausgegeben und eingeführt von Ulrich Nieß.
Freundeskreis MARCHIVUM, Mannheim 2018.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783981792454

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