Krise und Ressentiment
Replik auf Jan Süselbeck und Klaus Birnstiel
Von Markus Steinmayr
Nun haben Klaus Birnstiel in der FAZ und Jan Süselbeck auf literaturkritik.de den Topos von der Krise der Germanistik wieder bespielt.[1] Es ist die Wiederaufnahme einer die Germanistik seit ihrer Erfindung als Nationalphilologie begleitenden Selbstreflexion oder Selbstbespiegelung. Der Diskurs trägt reichlich Patina und offenbart doch bestimmte untergründige Strukturen der Fachidentität.
Ich entwickele den Gedanken, dass die Diagnose, die Birnstiel und Süselbeck stellen, für die institutionelle Realität der Germanistik an deutschen Hochschulen geradezu von fataler Blindheit ist, in drei Schritten. Zunächst möchte ich versuchen, der vorgelegten Diagnose Zahlen und Empirie entgegenzuhalten. Der Blick auf die Zahlen zeigt, dass der blinde Fleck der Diagnose – die Lehramtsausbildung – gleichzeitig die Existenz der Germanistik an der Universität sichert. In einem weiteren Schritt kombiniere ich Überlegungen zur historischen Semantik der Krise, die Reinhart Koselleck untersucht hat, mit Überlegungen zum Rettungsimperativ der Krisenrhetorik. Im letzten Schritt möchte ich Überlegungen zum affektualen Hintergrund der Krisenrhetorik liefern, die ich hier unter dem Rubrum „Ressentiment“ verhandeln möchte. Das Ressentiment als Bewusstsein eines Gefühls, dass irgendetwas mit der Germanistik nicht stimmt, richtet sich bei Süselbeck auf die Lehramtsstudierenden. Sie bilden die universitäre Unterschicht, gegen die sich eine klassistisch grundierte Untergangsrhetorik abgrenzt.
Süselbeck und Birnstiel führen keine Auseinandersetzung mit den wohlfeilen Krisendiagnosen der letzten Jahre. Ihre Ignoranz ist schon ostentativ und ein Symptom der Krise selbst, die vielleicht auch darin besteht, dass man zu wenig voneinander liest. Die Krise der Germanistik zu konstatieren, sie zu analysieren, gehört zum guten Ton in der germanistischen Öffentlichkeit seit Jahren. Ein paar Beispiele aus dem Meinungsmarkt der Krise: Die Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs) hat 2015 unter dem Titel Krise der Germanistik verschiedene Diagnosen zusammengestellt, die Zeitschrift Literaturwissenschaft und Linguistik hat unter dem Titel Turn, Turn, Turn?: Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende? bereits 2013 den permanenten Aufbruch in eine gewendete Zukunft beschworen. 2017 veröffentlicht Kai Kauffmann in der FAZ einen Text, der sich mit der Ignoranz gegenüber dem institutionellen Kern der Germanistik, der Deutschlehrerausbildung, beschäftigt. „Gemeinsames Thema“, schreibt Kauffmann, der germanistischen Fächer müsse „die Lehrerbildung für den Unterricht an allen Schultypen sein.“[2]
Die Germanistik ist als reines Fach, um den Titel eines Textes von Albrecht Koschorke zu zitieren, „auf dem Weg zum kleinen Fach“.[3] Alles also schon einmal gesagt. Wir hatten es eben noch nicht von Klaus Birnstiel gehört: „Auch die immer noch selbstsichere Inlandsgermanistik“, so Birnstiel, „wird schrumpfen. Die Empirie ist eindeutig und lässt sich weder von der Kulturbürokratie noch von den Lehrstuhlinhaberinnen und Lehrstuhlinhabern wegreden.“[4] Die Germanistik reflektiert ihre institutionelle und gesellschaftliche Rolle immer als Krise, als Zäsur, als Umbruch, nach der oder dem alles anders sein wird. Auch das ist nicht neu. Es ist, um hier den Titel eines Aufsatzes von Erika Thomalla, Daniel Zimmer und Steffen Martus zu zitieren, die „Normalität der Krise“,[5] die die Germanistik auszeichnet. Vielleicht ist das sogar ihr Identitätskern: Ohne Krise keine Germanistik. Je eindeutiger die Diagnose, desto einschlägiger sind die Therapievorschläge: Mehr Kulturwissenschaft, weniger Nationalphilologie, mehr Inklusion statt Elitenreproduktion, mehr gender, class und race statt Sozialgeschichte, mehr Philologie oder Praxeologie statt Wissensakkumulation durch Einzelinterpretationen, mehr Klimawandelforschung in der Literaturwissenschaft statt Naturlyrikforschung, mehr gesellschaftliche Relevanz statt Selbstbespiegelung.[6] Süselbeck empfiehlt „German studies“,[7] Birnstiel „Diversität“.[8]
Bereits 1994 hat Heinz Schlaffer anlässlich des Aachener Germanistentages vor aller Bolognakrisensemantik festgestellt, dass die Germanistik ein Fach sei, das „aus Gewohnheit betrieben“ und „aus Irrtum studiert“[9] (FAZ, 7.9.1994) werde. Friedrich Kittler, ein großer Leser, der sich von der germanistischen Lektüre befreien konnte, meinte in seinem Kommentar zum Germanistentag, der ja an prominenter Stelle von Süselbeck in seiner Polemik als „Ort des Verfalls“ gekennzeichnet wird, dass es eine „Wissenschaft von deutscher Literatur nicht mehr“[10] gibt, da die Auseinandersetzung mit der Faktizität von Texten und von Literatur, also mit ihrer Medialität und ihrer Funktion im Ensemble der Institutionen, an den Universitäten nicht gelehrt werde:
Statt dessen lehren Dozenten Romantheorien, die ihre Doktoranden dann auf Kafka oder Thomas Mann anwenden. Wenig später erscheinen von den neuen Doktoren Romane, die Dozenten wiederum dem Kanon der deutschen Literatur zuschlagen können. So funktioniert Germanistik, spätestens seit der Gruppe 47.[11]
Germanistik ist an bundesrepublikanischen Universitäten immer noch das zehntbeliebteste Studienfach, mittlerweile studieren 69.256 junge Menschen die deutsche Sprache und Literatur für das Lehramt „Deutsch“ oder als reine Fachwissenschaft, insgesamt also 2,4 Prozent aller Studentinnen und Studenten.[12] Allerdings, so kann man sagen, sinkt die Zahl der Studentinnen und Studenten in den Fächern Deutsch/Germanistik seit einiger Zeit deutlich, wie die Bildungsstatistik zeigt.[13] Auch das Verhältnis von Studierenden des Lehramts „Deutsch“ (alle Schulformen, sofern diese angeboten werden) und der Fachstudiengänge neigt sich deutlich zugunsten der Lehramtsstudiengänge.
Als ‚reines‘ Fach ist die Germanistik seit Jahren ein schrumpfendes, kein expandierendes Fach. Solange aber Deutsch als Unterrichtsfach an den Schulen existiert und die Notwendigkeit einer fachwissenschaftlichen Fundierung aller Sprach- und Literaturdidaktik noch gesehen wird, wird es Germanistik an den Universitäten geben. An Zentren der Lehrerbildung, wie sie im Zuge der Bolognareform an vielen Universitäten entstanden sind, wird allerdings heftig an der fachwissenschaftlichen Fundierung des Lehramts gesägt. Es steht daher zu befürchten, dass irgendwann das Fach „Deutsch“ durch ein Modul „Deutsche Sprache und Literatur“ in den Lehramtsstudiengängen ersetzt wird.
Hier liegt das eigentliche Risiko für die Germanistik, das Birnstiel und Süselbeck ignorieren. Wenn die Kapazitäten für Lehrveranstaltungen im Lehramtsstudium „Deutsch“ nicht mehr benötigt werden, dann werden sie eingeschrumpft oder umgewidmet. Das geht, wie man aus leidvoller Erfahrung an bundesrepublikanischen Universitäten weiß, sehr schnell und einfach. Wenn nämlich die Studierendenzahlen im Lehramt „Deutsch“ sinken, dann ist administrativ keine Notwendigkeit mehr gegeben, überhaupt noch Lehrveranstaltungen anbieten zu müssen, da einfach die Studentinnen und Studenten fehlen, die mit Lehrveranstaltungen ‚versorgt‘ werden müssen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wir auch keine Germanistikdozentinnen und -dozenten mehr brauchen – ob auf der Ebene des Mittelbaus oder der professoralen Ebene. Es wird, wenn die Entwicklung so weitergeht, zu einer Umwidmungswelle von Professuren in den Hochschulen kommen. Der „KW-Vermerk“ (künftig wegfallend), der mittlerweile für viele unbefristete Mittelbaustellen in der Germanistik gilt, wird zum politischen Symbol der Lage, in der sich die Germanistik befindet. Der KW-Vermerk stammt aus der Sprache der Verwaltung. Er beschreibt, dass eine Stelle oder eine Ressource in den zukünftigen Personalplanungen keine Rolle mehr spielen darf. Vielleicht bekommen in der nächsten Zukunft nicht nur einzelne Germanistinnen und Germanisten höchstamtlich mitgeteilt, dass mit ihrem Ausscheiden aus dem Dienst die Ressource, die sie sind, nicht mehr benötigt wird, sondern vielleicht bekommt die ganze Germanistik einen bundesweiten „KW-Vermerk“. Sie kann als ein Fach, das kulturelle und geschichtliche Selbstverständigung ermöglicht, künftig wegfallen.
Das Geschilderte ist Teil jener institutionellen Empirie und Geschichte germanistischer Selbstreflexion, die sowohl von Birnstiel als auch von Süselbeck geflissentlich ignoriert wird. Ihre Blindheit gegenüber dem Realen der Germanistik ist aber wiederum symptomatisch für die ‚Krisenerfahrung‘, über die im Folgenden berichtet werden soll.
Was ist eine Krise? Der Begriff „Krise“ ist zunächst einmal ein Indikator für Zustände, die Angst und Bange machen. Er ist „Ausdruck einer neuen Zeiterfahrung, Faktor und Indikator eines epochalen Umbruchs“,[14] der noch aussteht. ‚Krise‘ hat also zwei Dimensionen: zum einen behandelt eine Krisenerfahrung immer die Erfahrung einer präzedenzlosen Gegenwart. Diese Erfahrung führt zum Imperativ des ‚Jetzt‘. Dieser Imperativ ist immer einer der Gegenwart, die zum Imperativ der Entscheidung wird. Der „rechte Zeitpunkt“[15] ist jetzt da. Zum anderen darf man in der Krise keine Zeit verlieren, da Krise immer auch „Zeitnot“[16] impliziert. Wenn wir nicht jetzt handeln, also die Germanistik reformieren, dann wird sie untergehen. Krise ist daher auch immer Erfahrung von Kontingenz.
Birnstiel ist ganz in dieser Krisensemantik gefangen: „Wer sich nicht verändert, wird verändert.“ Das ist die Zukunft, die droht. Entschieden wird das Schicksal der Germanistik jetzt. „Wenn es der Germanistik weiterhin nicht gelingt“, schreibt Birnstiel, „in ausreichendem Maße gegenwartsfähig zu werden, das heißt inhaltlich, methodisch, personell und im Umgang mit Studierenden Diversität nicht aus-, sondern einzuladen, so hat sie auch intra muros keine Zukunft.“ Birnstiel bespielt hier nichts anderes als ein populäres Narrativ der Hochschulentwicklung und installiert es als Erzählelement der Rettung. Diversität, so kann man es zumindest sehen und nachlesen, versucht auf eigentümliche Art, Verschiedenheit, Widerspruch, Differenz und die Anerkennung dieser Kategorien von der sozialen Welt miteinander zu verbinden. Diversität wird also gleichzeitig als Ziel und Mittel zur Erreichung dieses Ziels empfohlen. Ziel von Diversitätsmaßnahmen ist die Anerkennung von Differenz, nicht die Herstellung von Gleichheit.
Anstatt also sowie fach- als auch wissenschaftspolitisch zu versuchen, Menschen in der Universität und in der akademischen Kommunikation so zu behandeln, als spiele ihre Herkunft, ihre Hautfarbe, ihre Religion, ihre sexuelle Orientierung keine Rolle, zwingt das Dispositiv der Diversität die Mitglieder der Universität dazu, diese Eigenschaften, die eine Differenz markieren, als Voraussetzung jedweder Kommunikation und nach Birnstiel auch der Fachidentität anzuerkennen. Diversität hat jedoch mit der Herstellung von Bedingungen, unter denen Gleichheit möglich wäre, nichts zu tun. Stattdessen wäre es die Aufgabe nicht nur der Germanistik, für diese Bedingungen zu sorgen und die Universität in einen Raum zu verwandeln, in der allein das zählt, was jemand sagt, nicht der, der es sagt.[17] Wir sind zwar in der Germanistik schon divers, wollen aber jetzt noch diverser werden. Diversität wird bei Birnstiel zum Komparativ, mit dem die schlechte Gegenwart in eine bessere Zukunft hinein gesteigert werden kann.
Kommen wir jetzt zu Süselbeck. Er glaubt, die Krise der Germanistik habe „ein globales Ausmaß“ angenommen. Während aber die träge deutsche Wissenschaftspolitik sich in Hilflosigkeit übe, blühe in „Nordamerika“ die Hoffnung. „Am Anfang“ einer besseren Zukunft der Germanistik, steht um mit Carl Schmitt zu sprechen, „Amerika“.[18]
Liest man dies, so wird man, mit Kürnberger gesprochen, ‚amerikamüde‘. Die nordamerikanische Germanistik, in der solche Heimsuchungen der intellektuellen und kommunikativen Kultur wie Identitätspolitik, Critical Whiteness Studies oder Fat Studies Normalität sind, wird als leuchtendes Beispiel für die Zukunft der insgesamt trägen, nur mit sich selbst beschäftigten Germanistik in Deutschland installiert. Deutschland kommt wie immer eigentlich seit Plessner zu spät:
Während manche Ansätze wie die Postcolonial Studies in Deutschland stets 20 Jahre später als in den USA salonfähig wurden, übt man sich in den Staaten seit Jahrzehnten daran, klassische Texte gegen den Strich zu lesen und neue Schwerpunkte wie Black German Studies zu setzen, die Erforschung der Literatur und Kultur deutschsprachiger schwarzer Autorinnen und Autoren.
Ja gut, möchte man meinen, aber was brächte dieser erneute Import aus den USA? Mit Importen oder Reimporten aus den USA hat die Germanistik in den letzen Jahren ambivalente Erfahrungen gemacht. Die postkoloniale und identitätspolitische Theoriebildung beispielsweise, die vornehmlich in den USA der 1980er und 1990er Jahren begann, ist ohne den Bezug auf die Dekonstruktion Jacques Derridas, die Diskursanalyse Michel Foucaults und die Politikanalysen Antonio Gramscis nicht denkbar. Theoriegeschichtlich, aber auch theoriepolitisch firmiert dies in Bezug auf die beiden Franzosen unter ‚French theory‘, der Bezug auf Gramsci lässt so etwas wie ‚sardinian theory‘ vermuten. Die insbesondere von einem nicht unerheblichen Teil der amerikanischen akademischen Linken vertretenen identitätspolitischen Überzeugungen, die die Universität in einen ‚safe space‘ verwandeln möchte, die in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen ‚cultural appropiation‘ wittert und den wissenschaftlichen Diskurs in eine identitäre Bekenntnishölle transformieren will, sind der akademische Exportschlager schlechthin. Es handelt sich somit um ‚Theoriepop‘. Mit anderen Worten: Foucault, Derrida und Gramsci wurden zunächst in die USA ‚exportiert‘, um dann in veränderter Form wieder in Europa aufzutauchen. Das kann doch jetzt nicht ernsthaft als Argument dafür gelten, noch ganz andere Dinge aus den USA zu importieren.[19]
Süselbeck will anscheinend, dass wir uns in Deutschland dem nordamerikanischen Mainstream anpassen. Seit einiger Zeit boomen daher die Genres „Kritik an der Identitätspolitik“ oder „Affirmationen derselben“ auf dem internationalen Buchmarkt und in medialen Debatten. Irgendetwas, so scheint es, triggert die mediale Öffentlichkeit von links bis rechts, wenn es um Identitätspolitik, Postkolonialismus, Intersektionalität, Gender-Studies geht. Es handelt sich um den Versuch der Popularisierung von fachpolitischen Prämissen. Ob es sich um ideologische Anpassungsschwierigkeiten an neue gesellschaftliche Lagen oder um ein berechtigtes Festhalten an gewissen Elementen der europäisch-aufklärerischen Tradition handelt, bleibt in diesen Debatten häufig unklar. Jedenfalls bleibt kein Stein auf dem anderen: Auf einmal ist Kant ein Rassist und seine Philosophie tendenziell rassistisch, Hegel ein Philosoph des Kolonialismus, der den Sklaven auf Haiti zwar Freiheit zugesteht, aber nur im dialektischen Durchgang durch die Sklaverei (Herr/Knecht-Paradox), die binäre Geschlechterordnung erweist sich als Macht-Wissen-Komplex, Genderidentität gilt als volatil und frei bestimmbar und so weiter.
Die Auslandsgermanistik, von der Süselbeck und Birnstiel sprechen, ist aber wesentlich vielfältiger. Beispielsweise könnte die Germanistik in Deutschland von der Germanistik in Mittel- und Osteuropa lernen, dass der auf den sogenannten ‚Globalen Süden‘ abzielende Postkolonialismus und die Frage nach der Repräsentation marginalisierter Opfergruppen in den westlichen Gesellschaften seit der Auflösung des sowjetimperialistischen Hegemon eine geschichtliche Erfahrung in Mittel- und Osteuropa ist.
Auch kann man von der Auslandsgermanistik beispielsweise an vielen polnischen Universitäten lernen, dass die polnisch-deutsche Migrationsgeschichte eher eine untergeordnete Rolle spielt. Die polnisch-deutsche Migrationsgeschichte ist der Verlierer in der Opferkonkurrenz. Es dominieren eben im germanistischen Postkolonialismus Migrationsgeschichten mit türkischem, kurdischem, arabischem, afrikanischem oder indischem Hintergrund. Trotz aller Kompetenzorientierung und Anpassung an ökonomische Umwelten, hält die Auslandsgermanistik in Mittel- und Osteuropa häufig an Kanonvorstellungen fest, die Herren wie Süselbeck und Birnstiel wohl antiquiert vorkommen müssen. Da hilft auch keine vorprogrammierte Lektüre der Grimmschen Märchen als Dokumente des Antisemitismus, wie sie Süselbeck vorschlägt.
Im Übrigen haben schon Dieter Heimböckel 2017 Rolf Füllmann 2019 und 2023 auf die Rolle der Auslandsgermanistik für die Differenzierung der Inlandsgermanistik hingewiesen. Die Vorschläge von Heimböckel und von Füllmann sind wesentlich differenzierter. Sie nehmen die kulturelle Vielfalt der Auslandsgermanistiken ernst.[20] Für Süselbeck und Birnstiel ist Auslandsgermanistik synonym mit nordamerikanischer Auslandsgermanistik. Aber gut, anderseits ist es auch normal, dass vor allem die USA oder ihre ‚Fans‘ sich mit der globalen Welt verwechseln: Globalisierung oder Europäisierung der Germanistik bedeutet nun einmal nicht zwangsläufig Amerikanisierung.
Zeiten der Krise sind immer auch Zeiten des Ressentiments. Krisen generieren nämlich politische Gefühle. Irgendetwas oder irgendjemand steht der besseren Zukunft im Wege. Dies muss aus dem Wege geräumt oder ‚gecancelt‘ werden. Das Ressentiment, so hat es der Hagener Philosoph Thomas Bedorf in seinem äußerst lesenswerten Aufsatz Zur Rhetorik des politischen Ressentiments[21] beschrieben, hat eine „imaginäre Logik“,[22] die mit Projektion, Diffusität und Unklarheit einhergeht.
In der Krise hilft – wie eigentlich immer – Friedrich Nietzsche. Der „Mensch des Ressentiments“ ist einer, so heißt es in Nietzsches Genealogie der Moral, dessen „Seele schielt.“[23] Dieser berühmte Ausdruck ist oft zitiert worden, nicht immer zu seinem Besten. Der ‚ressentimentale‘ Mensch projiziert, so heißt es, seine Emotionen und Affekte immer auf andere Menschen und Diskurse, denen er nicht entkommen kann, denen er aber auch nichts entgegenzusetzen hat, so dass Projektion als Notwehr fungiert.
Es scheint so, als ob einzelne Figuren in den Fächern als Projektionsfläche für die Enttäuschung dienen müssen, dass der eigene Ansatz fachwissenschaftlicher Reinheit marginalisiert oder geschwächt worden ist. Der Mensch des Ressentiments im Kampf um die Germanistik bleibt bei sich stehen, vergisst aber, wo er steht, oder dass sich die Logik der Fächer und der Disziplinen verändert hat. Das führt zur Verachtung des Lehramts.
Für Süselbeck sind es nämlich die „Massen ambitionsloser Lehramtsstudierender oder Grundschuldidaktikerinnen, die nicht einmal wissen, was die FAZ ist“, die in seiner Zukunft, die ja eine bessere sein wird, in dieser Form nicht mehr vorgesehen sein könnten. Dies ist ein klassistisches Ressentiment in seiner Reinstform.
Süselbeck konstruiert die ‚Lehramtsstudierenden‘ und ‚Grundschuldidakterinnen‘ als diejenigen, die ganz unten stehen. Ähnlich wie das Proletariat des 19. Jahrhunderts sind sie Masse und sorgen für „volle Seminarräume“. Wir, die Vertreterinnen und Vertreter der reinen Lehre aus Trondheim und Greifswald, lassen Dich, liebe Lehramtsstudentin, lieber Lehramtsstudent, durch Interventionen wie die unsrigen spüren, wo Du stehst: am unteren Ende der Hierarchie unter den Studentinnen und Studenten. Der Student oder die Studentin in den sogenannten Fachstudiengängen wissen natürlich, was die FAZ, was die New York Times ist. Süselbeck lässt die Lehramtsstudentinnen und Lehramtsstudenten, ohne die es die Germanistik an vielen deutschen Hochschulen gar nicht mehr gäbe, spüren, dass sie keine wahren Germanistinnen und Germanisten sind.
Zu den Kernaufgaben der Germanistik gehören die Vermittlung von Literatur und Kultur und die Ausbildung von Lehramtsstudentinnen und -studenten. Wenn man die Ausbildung von Lehramtsstudentinnen und -studenten aber aus Dünkel und grandioser Selbstüberschätzung ablehnt, dann fängt die Seele an zu „schielen“. Was also ist die Lösung? Vielleicht ist es für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik, für den Literaturbetrieb und die Literaturkritik an der Zeit, sich auf das Gemeinsame zu besinnen: Die Literatur und die Kommunikation über sie ist zuallererst Einübung in eine Praxis der Autonomie, die in diesen Zeiten zuallererst Befreiung von Heteronomie der kompetenzorientierten und politischen Zurichtung der Literatur sein müsste, um überhaupt wieder ein Möglichkeitsraum für ästhetische Erfahrung sein zu können. Erst in diesem Raum gelingt das Glück des Lesens. Und nur um die Vermittlung dieses Glücks durch gemeinsame Lektüreerfahrung kann es gehen – ob man nun Lehramt oder das reine Fach studiert.
Auswahlbibliografie
Bedorf, Thomas (2019): „Zur Rhetorik des politischen Ressentiments“, in: Zeitschrift für praktische Philosophie, 6 (1/2019), S. 161-178. Online, Zugriff 13.03.2024.
Birnstiel, Klaus (2024): „Nicht die geringste Delle zu sehen. Trügerische Sicherheit trotz Krisenrhetorik: Jan Süselbeck sieht die Germanistik von der Abrissbirne bedroht“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 50 (2024), 28.02.2024, S. N5. Online, Zugriff 12.03.2024.
Füllmann, Rolf (2019): „Ein zweisprachiger ‚Klassiker‘ aus dem Baltikum in der Gegenwart. Der Lette Rūdolfs Blaumanis (1863–1908)“, in literaturkritik.de 06/2019. Online, Zugriff 20.3.2024.
Füllmann, Rolf (2023): „Lettische Selbstbefreiung gegenüber deutscher Leitkultur. Der von Pauls Daija und Benedikts Kalnačs herausgegebene Sammelband „A New History of Latvian Literature. The long Nineteenth Century“ ist eine Herausforderung an die Germanistik“, in literaturkritik.de 06/2023. Online, Zugriff 20.03.2024.
Kauffmann, Kai (2017): „Reden wir über die Deutschlehrer“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 140 (2017), 20.06.2017, S. 9.
Kittler, Friedrich (1994): „Die Schnittstelle bearbeiten. Für eine kleine Mediengeschichte“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 208 (1994), 07.09.1994, S. N6.
Koschorke, Albrecht (2015): „Die Germanistik auf dem Weg zum kleinen Fach“, in: DVjs, 89 (4/2015), S. 587-594.
Koselleck, Reinhart (1982): „(Art.) Krise“, in: Otto Brunner et al. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 617-650.
Koselleck, Reinhart (2006): „Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ‚Krise‘“, in: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 203-218.
Nietzsche, Friedrich (1999): „Genealogie der Moral“, in: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.): Kritische Studienausgabe, Bd. 5, München: De Gruyter, S. 245-412.
Schlaffer, Heinz (1994): „Die eingebildete Kranke, Lesen ist mühsam: Die klassische Literatur ist ins Exil geraten“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 208 (1994), 07.09.1994, S. N6.
Steinmayr, Markus (2021): „Ursprungsmythen aus dem Orient: Transatlantische Umdeutungen: Wie Michel Foucault zum Säulenheiligen von Postkolonialismus und Identitätspolitik wurde“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2021) Nr. 31.03.2021, Nr. 76, S. N4. Online, Zugriff 20.03.2024.
Steinmayr, Markus (2022): „Kennen Sie Goethe?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 202 (2022), 31.08.2022, S. N4, Online, Zugriff 12.03.2024.
Süselbeck, Jan (2024): „Der dröhnende Klang der Abrissbirne. Über die globale Krise der Germanistik und die Frage, was das Fach in Deutschland von den German Studies in Nordamerika lernen könnte“, in: literaturkritik.de 02/2024. Online, Zugriff 12.03.2024.
Thomalla, Erika et al. (2015): „Die Normalität der Krise. Beobachtungen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft aus Fußnotenperspektive“, in: DVjs, 89 (4/2015), S. 510-520.
Anmerkungen
[1] Birnstiel, Klaus (2024): „Nicht die geringste Delle zu sehen. Trügerische Sicherheit trotz Krisenrhetorik: Jan Süselbeck sieht die Germanistik von der Abrissbirne bedroht“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 50 (2024), 28.02.2024, S. N5, Online, Zugriff 12.03.2024; Süselbeck, Jan (2024): „Der dröhnende Klang der Abrissbirne. Über die globale Krise der Germanistik und die Frage, was das Fach in Deutschland von den German Studies in Nordamerika lernen könnte“, in: literaturkritik.de 02/2024, Online, Zugriff 12.03.2024.
[2] Kauffmann, Kai (2017): „Reden wir über die Deutschlehrer“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 140 (2017), 20.06.2017, S. 9.
[3] Koschorke, Albrecht (2015): „Die Germanistik auf dem Weg zum kleinen Fach“, in: DVjs, 89 (4/2015), S. 587-594.
[4] Birnstiel, „Nicht die geringste Delle zu sehen.“
[5] Thomalla, Erika et al. (2015): „Die Normalität der Krise. Beobachtungen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft aus Fußnotenperspektive“, in: DVjs, 89 (4/2015), S. 510-520.
[6] Ich führe hier Gedanken aus, die bereits publiziert sind: Steinmayr, Markus (2022): „Kennen Sie Goethe?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 202 (2022), 31.08.2022, S. N4, Online, Zugriff 12.03.2024.
[7] Süselbeck, „Der dröhnende Klang der Abrissbirne.“
[8] Birnstiel, „Nicht die geringste Delle zu sehen.“
[9] Schlaffer, Heinz (1994): „Die eingebildete Kranke, Lesen ist mühsam: Die klassische Literatur ist ins Exil geraten“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 208 (1994), 07.09.1994, S. N6.
[10] Kittler, Friedrich (1994): „Die Schnittstelle bearbeiten. Für eine kleine Mediengeschichte“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 208 (1994), 07.09.1994, S. N6.
[11] Kittler, „Die Schnittstelle bearbeiten.“
[12] Bundeszentrale für politische Bildung, Zugriff 12.3.2024.
[13] Statistisches Bundesamt, Zugriff 12.3.2024.
[14] Koselleck, Reinhardt (1982): „(Art.) Krise“, in: Otto Brunner et al. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 617.
[15] Koselleck, Reinhart (2006): „Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ‚Krise‘“, in: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 204.
[16] Koselleck, „Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ‚Krise‘“, S. 205.
[17] Vgl. zum Thema Neoliberalismus und Universität das von Michael Angele und mir herausgebene Glossar in: Der Freitag, Nr. 39, 28. September 2023. Online, Zugriff 21.3.2024.
[18] Schmitt, Carl (21974): „Der Nomos der Erde im Völkerrecht der Jus Publicum Europaeum“, Berlin: Duncker & Humblot, S. 66.
[19] Siehe Steinmayr, Markus (2021): Ursprungsmythen aus dem Orient : Transatlantische Umdeutungen: Wie Michel Foucault zum Säulenheiligen von Postkolonialismus und Identitätspolitik wurde. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2021) Nr. 31.03.2021, Nr. 76, S. N4. Online, Zugriff 20.03.2024.
[20] Heimböckel, Dieter (2019): „Krisenrhetorik und Legitimationsritual. Einsprüche gegen Deutungsmonopole (nicht nur) in der Germanistik“, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 10 (2/2019), S. 23-38; Füllmann, Rolf (2019): Ein zweisprachiger ‚Klassiker‘ aus dem Baltikum in der Gegenwart. Der Lette Rūdolfs Blaumanis (1863–1908). Online, Zugriff 20.3.2024; Füllmann, Rolf (2023): Lettische Selbstbefreiung gegenüber deutscher Leitkultur. Online, Zugriff 20.3.2024
[21] Bedorf, Thomas (2019): „Zur Rhetorik des politischen Ressentiments“, in: Zeitschrift für praktische Philosophie, 6 (1/2019), S. 161-178. Online, Zugriff 13.03.2024.
[22] Bedorf, Thomas: „Zur Rhetorik des politischen Ressentiments.“
[23] Nietzsche, Friedrich (1999): „Genealogie der Moral“, in: Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.): Kritische Studienausgabe, Bd. 5, München: De Gruyter, S. 272.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen