Ein unbegleitet reisender Motivationscoach findet Jara Weißnichtwo

In „Vorübergehende“ beschreibt Michael Krüger die Farben der Fremde

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Krüger, als Erzähler und Lyriker weithin bekannt, passionierter Leser und Literat, Verleger außer Dienst, beschreibt in seinem reflektiert wie verspielt komponierten neuen Roman Vorübergehende verwinkelte Lebensgeschichten, die er fantasievoll miteinander verknüpft. Krüger fügt den Geschehnissen beiläufig, mit leichter Hand, auch ein paar neu kreierte Wörter zu. Warum sollte von einem Smartphone oder von einem Handy gesprochen werden, wenn ein schwereloser Begriff wie „Handtelefon“ erdacht und verwendet werden kann?

Ein erfolgreicher Motivationscoach ist reisend unterwegs, noch professionell tätig, finanziell aber abgesichert. Arbeiten heißt auch sich abzulenken. Er scheint nicht so recht zu wissen, was er sonst tun sollte, also betreibt er in Unternehmen eine Art Show. Der Entertainer verkündet marktgerechte Botschaften, die er effektvoll zu präsentieren weiß, ohne selbst daran zu glauben. Trotzdem ist er auch, lapidar gesagt, ein guter Mensch. Für ein Flüchtlingsmädchen namens Jara und dessen Begleiterin, mutmaßlich ihre Mutter, bezahlt er den Zuschlag für den Schnellzug. Nebenbei vermehrt er damit die Erregungszustände einer Mitreisenden, die seine Großzügigkeit als Anlass für einen theatralischen Auftritt und Abgang nimmt. Sie hält einen jähen „Hassmonolog über Flüchtlinge, Überfremdung, deutsche Identität und andere aktuelle Probleme“ und verschwindet.

Ihre Hinterlassenschaft besteht aus einem Boulevardblatt mit bunten Geschichten, etwa über die „sonnenhungrige Petra“. Der gelangweilte Motivationscoach liest, was über die „Bankkauffrau aus Opladen“, nach Mallorca geflüchtet, vom Blatt berichtet wird. Seine Fantasie wird angeregt. Wenn auch nur beiläufig, denn er konnte sich diese Petra „nicht nur als Bankkauffrau, sondern auch als Bankräuberin vorstellen, denn sie liebte straff sitzende Lederbekleidung und viel Hubraum zwischen den Beinen, wie sie der offenbar an solche Bekenntnisse gewöhnten Redakteurin mitgeteilt hatte“. Der Motivationscoach erinnert sich an seine Motivationskurse und sinniert: „Wie werden wir erfolgreich sein und wie können wir es bleiben? Es wäre schön, bald einmal nach Opladen eingeladen zu werden, um mit Petra, wenn sie zurück ist von Mallorca, Einzelheiten zu besprechen. Wo lag eigentlich Opladen? Gab es Opladen überhaupt?“ Doch Petra ist eine Zeitungsmeldung, eine konventionelle Fantasiefigur. Jara, das Flüchtlingskind vom Balkan, ist Realität. Das Mädchen findet unversehens in dem Motivationscoach ohne Namen einen hilflos fürsorglichen Begleiter, einen alternden Mann, der selbst Begleitung nötig haben könnte und diese in Jara vielleicht gefunden hat – buchstäblich im Vorübergehen. Jaras Begleiterin verschwindet, doch das Mädchen bleibt. Der Motivationscoach rechtfertigt sich: „Das Kind ist mir zugelaufen, bitte glauben Sie mir! Es kam ja nicht jeden Tag vor, dass einem in einem Abteil der Deutschen Bahn ein vollkommen unbekanntes Mädchen in den Schoß fiel, das mit Sicherheit mehr als fünfzig Jahre jünger war als ich.“

Die Begegnung fand in der Nähe von Göttingen statt. Der Erzähler hat die trostlose Landschaft schon oft gesehen und übersehen wollen. Er spricht davon, erwähnt Unerhebliches, möchte schlafen, schläft auch, doch was ihm danach widerfährt, ist mitnichten ein Traum. Er galt als „charismatischer Unterhalter“. Sein Leben bestand darin, an wechselnden Orten „mit salbungsvoller Miene über werteorientierten Führungsstil und Freude an der Arbeit“ zu sprechen. Er verkündete Weisheiten wie diese: Man müsse „mit dem Überleben aufhören und mit dem Leben anfangen“ – und „mit solchem Unsinn hatte ich Erfolg“: „Der Typ, den ich darstellte, war mir so vertraut, dass er mir von Tag zu Tag unheimlicher wurde.“ Im Zug also begegnet ihm Jara. Das zugelaufene Flüchtlingskind war anders als die „jungen Menschen“, die „ihr besonders cooles T-Shirt trugen oder eine besondere Kappe oder apart zerrissene Hosen“: „Ihr seht ja aus wie vom ZDF, hatte ich einmal einer Gruppe zugerufen, und zu meiner Verblüffung waren sie stolz auf diese Charakterisierung, die sie als Auszeichnung verstanden.“

Jara begleitet eine ganze Weile lang den Motivationscoach und umgekehrt. Sie freundet sich zudem mit Benjamin an, dem lesenden Sohn einer alleinerziehenden Musikerin. Mutter und Sohn leben mit ihm im selben Mietshaus, man könnte sagen: Diese Personen sind alle eigen genug, dass sie sich vielleicht verstehen können, auch wenn der Reisende sich fragt:

„Wo sind die Spinner geblieben, die verdrucksten Einzelgänger, die Mystiker, die wenigstens ein Mal im Leben die Empirie verlassen haben und abgetaucht sind in die unzugänglichen Welten, in die Bereiche jenseits der Pflichterfüllung und des Funktionierens. Wo sind die Menschen, die frei heraus zugeben können, dass ihr Leben nicht aufgegangen ist und nie aufgehen wird?“

Solche Menschen wohnen nebenan. Manchmal genügt es auch, in den Spiegel zu schauen. Die dynamischen Petras aus namenlosen Orten wie Opladen repräsentieren nicht die ganze Wirklichkeit, ebenso wenig die Manager, die der Coach gewissermaßen motiviert hatte, zumindest fürs Geschäft. Sie sind illusionslose Gestalten, weder an Philosophie noch an Literatur interessiert – und warten im besten Fall auf die Verfilmungen von Romanen, die sie sich dann vielleicht im Kino anschauen, aber nie lesen würden. Benjamin müsste nicht darauf warten, er kannte ja Bücher. Darum freundet er sich mit Jara an, die einfach zeichnete, unentwegt, und die beiden benahmen sich „wie die letzten beiden überlebenden Mitglieder einer esoterischen Sekte, deren okkulte Traditionen nur noch in ihnen fortleben“: „Eine Regel dieses Geheimbunds: Sprich nie ein Wort zu viel. Das Ideal: Sich ohne Worte verstehen.“ Jara lernt mit, von und gegen Benjamin, sie „kämpfte um jedes Wort“, und sie muss nicht motiviert werden. Der Motivationscoach reist weiterhin mit „schönen Binsenweisheiten“ durch die Lande, die beiden Kinder oder Jugendlichen fahren in ein christliches Feriencamp. Später fühlt sich der Coach erst krank, dann wird er auch krank, und leidet auf eine Weise, als ob er eine Religion gründen wollte: „Ich zelebrierte einen Kult des Schmerzes, aber es fanden sich keine Anhänger, die mir assistieren wollten.“

Die Geschichte nimmt schließlich dramatische und doch vorsehbare Wendungen. Alles geht vorüber, alle gehen vorüber. Sogar die anstrengende Dame aus dem Zug verschwindet, ebenso wie Jaras Begleiterin. Jara könnte nun etwas zugestoßen sein, denn sie geht, geht vorüber – wahrscheinlich mit Benjamin, der auch verschwindet. Die Polizei ermittelt. Der Motivationscoach verliert sich, ist ratlos, wird verdächtigt. Die Wirrnisse nehmen zu, aber – so heißt es am Ende – „die Geschichte geht natürlich weiter“. Vom Schicksal der „Vorübergehenden“ aus Michael Krügers Roman werden wir dennoch nichts mehr erfahren. Wir wissen aber: Der Motivationscoach hat seit langer Zeit erfolgreich viele Lügen, belanglose Geschichten und fade, abgeschmackte Weisheiten mit großem Erfolg erzählt, gleichwohl: Alles geht vorüber, und alle verschwinden. In diesem Roman wird das Vergängliche nicht zum Gleichnis, und es ist zweifelhaft, ob das Erzählte eine symbolische Bedeutung besitzt. Kunstvoll, auch ironisch wird von Vorübergehenden berichtet, von Menschen, die eigentlich Begleitung brauchen und manchmal wunderlicher sind, als sie sich selbst erscheinen mögen. Auch zum Eskapismus besteht zuweilen hinreichend Anlass. Wer heute eine Deutschlandreise unternimmt, kann auch in einem Zug noch immer vieles erleben und hören. Darum sollte auch ein kluger Mensch nicht vergessen, sich Ohrstöpsel einzustecken – und ein gutes, kurzweiliges Buch mitnehmen, zum Beispiel dieses.

Titelbild

Michael Krüger: Vorübergehende. Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2018.
195 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783709934388

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