Ein unbeugsamer und bis heute aktiver Lyriker
Zum 90. Geburtstag von Reiner Kunze präsentiert der S.Fischer Verlag eine Auswahl seines poetischen Gesamtwerkes
Von Manfred Orlick
Das Werk des Schriftstellers Reiner Kunze umfasst Gedichte, Prosa, Kinderbücher, Reden, Vorträge und Gespräche. Sein literarisches Werkzeug ist aber vor allem die reimlose Lyrik. In den zurückliegenden Jahrzehnten veröffentlichte er zahlreiche Lyrikbände, meist schmale Bände mit ein paar Dutzend Gedichten.
Am 16. August 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge als Sohn eines Bergarbeiters geboren, studierte Kunze von 1951 bis 1955 Philosophie und Journalistik in Leipzig. Danach entschloss er sich, als freier Schriftsteller tätig zu werden. Erste Gedichte entstanden bereits in den 1950er Jahren und erste Gedichtbände erschienen im Mitteldeutschen Verlag Halle. Nach längeren Aufenthalten in der Tschechoslowakei heiratete Kunze 1961 eine tschechische Ärztin und zog ein Jahr später nach Thüringen. Nach der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings durch die Warschauer-Pakt-Staaten trat Kunze aus der SED aus. Ab 1969 dann erste Publikationen in der Bundesrepublik, wo auch 1976 sein Prosaband Die wunderbaren Jahre erschien. Daraufhin wurde Kunze aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen. Als er sich dem Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann anschloss und einen Ausreiseantrag stellte, konnte er im April 1977 in die Bundesrepublik ausreisen. Er ließ sich in Obernzell-Erlau bei Passau nieder.
auf eigene hoffnung (S.Fischer 1981) war dann der erste Gedichtband nach seiner Übersiedlung. Es folgten Gedichtbände fast im Jahrestakt, darunter auch Gedichte für Kinder. Mit der Dokumentation Deckname Lyrik setzte sich Kunze mit seiner Stasi-Observation auseinander. Sein letzter Gedichtband die stunde mit dir selbst erschien 2018. Darüber hinaus gehörte Kunze zu den wichtigsten Übersetzern tschechischer Autoren in die deutsche Sprache, vor allem der mährische Dichter Jan Skácel war für ihn ein literarischer „Wahlverwandter“. Die Liste seiner Auszeichnungen und Ehrungen, die er für sein umfassendes lyrisches, essayistisches und erzählendes Werk erhielt – vom Georg-Büchner-Preis (1977) über den österreichischen Georg-Trakl-Preis (1977) und den Friedrich-Hölderlin-Preis (1999) bis zum Großen Bundesverdienstkreuz (1993) –, ist fast noch größer als die Zahl seiner Publikationen.
Zum 90. Geburtstag des Schriftstellers hat der S.Fischer Verlag, der seit Anfang der 1970er Jahre sich um Kunzes Werk verdient gemacht hat, eine erweiterte Neuausgabe der Gedicht-Ausgabe von 2001 herausgebracht. In neun Abschnitten sind hier Gedichte aus allen Schaffensperioden versammelt. Die Texte im Anfangskapitel frühe gedichte entstanden in den fünfziger Jahren und in den Jahren 1960 und 1962, wobei das genaue Entstehungsjahr nicht immer bekannt ist. Danach folgen Gedichte aus den Bänden sensible wege (Rowohlt 1969) und zimmerlautstärke (S.Fischer 1972), deren Originalausgaben aber längst vergriffen sind.
Mit den Bänden auf eigene hoffnung und eines jeden einziges leben (S.Fischer 1986) ist Kunzes Lyrikschaffen der 1980er Jahre vertreten. Mit den Bänden ein tag auf dieser erde (1998) und lindennacht (2007) kündigte sich bereits sein Spätwerk an, dass mit die stunde mit dir selbst einen lyrischen Höhepunkt erreichte, mit dem der 85-jährige Kunze wehmütig und selbstkritisch Rückblick hielt: „Wer bist du, dichter, daß du wähnst, / die welt sei geschaffen / als deiner stimme hallraum?“, aber auch mahnend vorausschaut: „Doch ohne uns / gibt es die erde und das all, / nicht aber das gedicht“. Gleichzeitig erwies er hier DichterInnen wie Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger und Paul Celan seine Referenz.
Der Abschluss der Neuerscheinung ist dem Kinderlyrikband Wohin der Schlaf sich schlafen legt (1991) vorbehalten. Die zauberhaften Gedichte machen die Kinder bekannt mit allerlei Tieren wie den Bahnhofsspatzen oder der Sonntagmorgenmeise, mit besonderen Begebenheiten wie einem vereinsamten Garten oder einem bösen Gewitter.
Neben dem Gedichtband, das mit Leineneinband und Lesebändchen ausgestattet ist, hat der Fischer Verlag zum 90. Geburtstag von Reiner Kunze noch eine Nachauflage der Erstausgabe von Die wunderbaren Jahre herausgebracht, ergänzt durch ein Nachwort der Schriftstellerin Ines Geipel. Sie sieht in den 49 Geschichten des Prosabandes „einen Lebenstext und das poetische Lebensuniversum einer Diktatur. Dabei zuallererst ein Buch über Menschen, die sich auf stille Weise entziehen. Ihr Widerstand kommt unmerklich daher. Aber es gibt ihn, wie es Die wunderbaren Jahre gibt, als Miniaturen der Zersetzung und als Miniaturen des Stillen.“
Reiner Kunze, eigentlich ein Mann der leisen Töne, jener „Zimmerlautstärke“ des Gedichtbandes von 1972, ist seit Jahrzehnten eine unüberhörbare Stimme in der deutsch-deutschen Literaturszene. Seine Lyrik ist eindringlich, tiefgründig und melancholisch. Obwohl er als Zeitzeuge immer darauf beharrte, nie ein politischer Dichter gewesen zu sein, sind seine Gedichte stets aktuell, mitunter auch hellsichtig wie die Ukraine-Gedichte aus dem Band die stunde mit dir selbst. Im Laufe der Jahre hat Kunze die sprachliche Reduktion weiter vorangetrieben. Seine Gedichte sind präzise und knapp, kein Wort zuviel. Oft genügen ihm nur wenige Zeilen, um poetische Bilder zu entwerfen oder autobiografische Erlebnisse und Beobachtungen zu vermitteln. Sein mit kunstvoller Klarheit und äußerster Genauigkeit gestaltetes Werk ist eine Einladung an den Leser (u.a. in seinem Gedicht Mittsommer):
Heute ist des jahres längster tag
Das licht kam ohne glockenschlag
und hob dem schläfer sanft das lid
Möge ihn beglücken, was er sieht,
damit der tag in seiner seele wurzeln schlägt
und er ihn für die dunklen zeiten in sich trägt
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