Handreichungen zur Lesekultur

Hermann Kurzkes „Literatur lesen wie ein Kenner“ bietet mehr als Modellanalysen

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hermann Kurzke (geb. 1943) ist einem breiteren Publikum vor allem durch seine Publikationen über Thomas Mann bekannt geworden, er gilt außerdem als Spezialist für Kirchenlieder und Kulturchristentum. 2010 hat er in der verdienstvollen Münchener „Beck’schen Reihe“ Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur herausgegeben; schon dort legte er – nach seiner aktiven Zeit als Literaturwissenschaftler an der Universität Mainz – einen persönlichen Literaturkanon und prononcierte Essays über Literatur und Literaten vor, beruhend auf den Schätzen seines Bücherschranks. Eine ganz ähnliche Bilanz, ergänzt um einen Ausblick über die gegenwärtige Lesekultur (in Form eines Patchworks aus zwölf Fetzen oder Läppchen), hat er nun mit seinen Handreichungen für passionierte Leserinnen und Leser vorgelegt.

Mit Humor und hintergründigem Witz liefert er eine Anleitung zum Lesen, aber eine der ganz besonderen Art: Obwohl er (selbstverständlich) eine „gewisse Allgemeingültigkeit“ anstrebt, möchte er den oft trockenen Stil wissenschaftlicher Werke vermeiden, die sich mit Fachausdrücken wie „Diegese“, „Epideiktik“, „Homoioteleuton“, „Tetrapodie“ und ähnlichen Wörtern „panzern“. Kurzkes „Kanon“ der vorgestellten Werke der Weltliteratur orientiert sich nicht allein am Label „klassisch (im Sinne von erstrangig, vorbildlich)“, sondern enthält auch Bücher, die er zufällig in einem Antiquariat aufstöberte oder auf die er auf Anraten anderer Leser stieß – „Ich wollte etwas Aktuelles, wirklich Gelesenes“; daraufhin beschaffte er sich den Endzeitthriller Metro 2033 von Dmitry Glukhovsky. Manche mögen in Kurzkes Auswahl etwas vermissen, Uwe Johnson zum Beispiel oder mehr von Jean Paul, aber das ist zu verschmerzen; zumal das ausführliche Personen- und Werkregister belegt, wie umfassend und weit verzweigt Kurzkes Kompendium tatsächlich angelegt ist; es handelt sich um eine Handreichung, die sich nicht scheut, unzusammengehörig Erscheinendes zu vereinen und zu präsentieren.

Wie soll man sich nun als „Neuling“ oder auch als „passionierter Lesender“ diesem Buch nähern, wie soll man es „lesen“ – auf klassische Weise, also linear, oder durch Herumblättern oder vielleicht erst nach einem Blick in den Apparat? Nun, das einfache „Blättern“ dürfte sich nur für das erste Kennenlernen in der Buchhandlung seines Vertrauens anbieten; nachdem man sich dann einige Kapitel gründlicher erschlossen hat und neugierig auf das Folgende geworden ist, wird man gezielt recherchieren, es sei denn, man „klebt“ am Text und gibt sich der gleichsam lehrreichen wie unterhaltsamen Lektüre am Stück hin.

Ansonsten beginne man mit der Einführung, die Kurzke metaphernreich im ersten Kapitel „Anspann“ untergebracht hat. Mit diesem Begriff wird ja nicht nur auf das Anschirren der Pferde und das Flottmachen des Wagens in früheren Zeiten angespielt, sondern auch auf das geflügelte Pferd der griechischen Mythologie oder das von Dichterinnen und Dichtern gerittene Sinnbild der Dichtkunst, das auf seltsame Um- und Abwege führen kann.

Kurzkes Pegasos kann man sich getrost anvertrauen, es ist mehr als ein „Steckenpferd“! Er beginnt mit einer beispielhaften Analyse des Textes Gebet des Zoroaster. Dieser erschien einst in der ersten Nummer der von Heinrich von Kleist herausgegebenen Zeitschrift Berliner Abendblätter, die schon für Zeitgenossen – nach dem Erst- und Straßenverkauf – schwer zugänglich war, was im übertragenen Sinn auch für die heutige Rezeption zutreffen dürfte; der Text ist aber zu Unrecht so gut wie vergessen, wie Kurzkes Modellanalyse beweist. Kurzke demonstriert und erprobt in einem ausführlichen Durchlauf textanalytische, literaturgeschichtliche und literaturtheoretische Begrifflichkeiten und stellt damit seinen „Besteckkasten“ vor, also ein Instrumentarium, nach dem nicht nur der im Buch behandelte „eiserne Bestand an Literatur“ ausgemessen wird, sondern zugleich auch weitere „Ankerpunkte“ der deutschen und der Weltliteratur ausgelotet werden können, wobei er ganz nebenbei auch das leistet, was viele Anleitungen à la „Wie interpretiert man ein Gedicht/Drama/Roman“ usw. versprechen. 

Den „innersten Ring“ der folgenden Modellanalysen bilden für Kurzke immer zuerst Beispiele aus dem Werk Heinrich von Kleists, weil „er gut ist und wir dort lyrisch, dramatisch und episch beispielgeeignete Texte finden“ können. Texte von Heinrich von Kleist bilden auch den Grundstock für die im Buch eingestreuten Exkurse, die sich – wenn auch meist weniger lesbar und verständlich – auch in anderen literaturwissenschaftlichen Standardwerken finden lassen. Bei Kurzke sind es aber völlig eigene, je nach Anlass mehr oder weniger ausführliche Abschnitte über Rhetorik und Poetik, Metrik, Ständeklausel, Bildlichkeit von Allegorie und Symbol, geschlossene und offene Form des Dramas, Epos und Roman, um nur einige Beispiele zu nennen. 

Das Buch weist drei Hauptkapitel auf: (1.) Von Minnesang bis Partyklang. Geschichten von Gedichten, (2.) Stiltrennung und der Tod als Demokrat. Dramen von Shakespeare bis Handke und (3.) Erzählkunst 1: Dante, Cervantes, Stifter, Flaubert, Dostojewski, Fontane, Joyce, Mann, Grass und andere. Diese Schwerpunktkapitel decken die traditionellen Einteilungen von Lyrik, Dramatik und Epik ab. Ergänzt werden sie – und hier zeigt sich die Besonderheit des Zugriffs von Kurzke – durch zwei weitere Kapitel (4.) Erzählkunst 2: Staatsroman, Utopie und Dystopie und (5.) Kleine Geschichte des Bildungsromans, die in dieser Form auch durchaus Eigenständigkeit als literaturwissenschaftliche Exkurse beanspruchen können.

Besonders hier zeigt sich, dass Kurzke ein kenntnisreicher Zöllner an den für gewöhnlich künstlich errichteten Grenzen der literarischen Gattungstrennungen ist und keine Scheu hat, ungewöhnlich erscheinende Perspektiven auf Literatur zu eröffnen. Das wird auch daran deutlich, wie Kurzke seinen „Textvorrat“ erweitert: Im Anschluss an Kleist folgen in den drei Hauptkapiteln „meist hochwertige Beispiele“ der deutschen Literatur, wobei man dem augenzwinkernden Verfasser mit diesem etwas altbackenen daherkommenden Urteil getrost folgen sollte. 

Kurzke hält die herkömmliche „Beschränkung der Germanistik“ auf deutsche Literatur „für ein nicht mehr gewolltes Erbe des deutschen Nationalismus“, und deshalb finden bei ihm auch Grundbestände der englischen, französischen, russischen, spanischen und italienischen Literatur Berücksichtigung, die „wenigstens in Übersetzungen in Deutschland immer präsent waren“.

Literatur setzt sich für Hermann Kurzke aus Kunstwerken zusammen, die – mit einem „tragikomischen Instrumentarium“ orchestriert – im Kopf des Lesers zur Aufführung kommen. „Ein gutes Kunstwerk wird stets mehrere […] Spektren bedienen und benötigen, wenigstens sie irgendwie beschäftigen“, woraus hervorgeht, dass Kurzke Produktion und Rezeption von literarischen Werken als gleichwertig betrachtet. „Der Rezipient bringt in seiner Innerlichkeit ein Orchester mit, dessen Instrumente aus seinen Lebenserfahrungen bestehen.“ Lebenserfahrung ist vor allem auch kondensierte Leseerfahrung, an seiner eigenen lässt uns Kurzke reichlich teilhaben.

Dies gelingt ihm methodisch geschickt, weil er an die ausgewählten Texte Fragen stellt und diese auch bündig und sehr pointiert beantwortet. Es geht um die „Textlage“, also zunächst um Textzeugen und Informationen zu Autorinnen (die bei Kurzke freilich unterrepräsentiert sind!) und Autoren, in einem zweiten Schritt um die eigentliche Analyse von „Makro- und Mikrostruktur“ der ausgewählten Texte, woran sich eine „immanente“ Interpretation anschließt, welche Textform und Inhalt in Beziehung setzt. Kurzke erläutert das an einem zunächst trivial scheinenden Beispiel:

Die Form entscheidet über die Wertigkeit des Inhalts. Wenn mir ein Karl-Marx-Porträt zu eigen ist, macht es einen Unterschied, ob das Bild im Wohnzimmer über dem Sofa oder im Abtritt über dem Klosett hängt. Der Inhalt (Marx) ist gleichgeblieben, aber die Form der Aufhängung ist jeweils anders. Sie entscheidet über die Interpretation: Die Wohnzimmeraufhängung verehrt den Vater des wissenschaftlichen Sozialismus, während die Abtrittsaufhängung ironische Distanz zu ihm erkennen lässt. (S. 22)

Die letzte Gruppe von Fragen & Antworten, die Kurzkes Handreichung anbietet, besteht aus jeweils an den vorgestellten Text angepassten literaturhistorischen Fragestellungen, die auch literaturpsychologische und literatursoziologische Aspekte miteinschließen (können). Auffällig ist, dass diese Aspekte nicht schematisch angewendet werden (wofür das Buch auch nicht genügend Raum bieten würde, es umfasst nur knapp 400 Seiten), und, nachdem man sich eingelesen hat, wird klar, dass sie auch gar nicht immer in Vollständigkeit angewendet werden müssen. Es reicht völlig aus, dass am Beispiel Kleist das „Analysebesteck“ nachvollziehbar beleuchtet wird (ebenso gründlich übrigens auch im Falle von Goethe, Dante, Novalis oder Dostojewski und – bei Kurzke selbstverständlich – auch bei Thomas Mann) und anschließend Lesarten weiterer Textbeispiele gegeben werden. 

Kurzke schließt nach Art von Jean Paul mit zwölf sogenannten „Läppchen“, und zwar zur Kultur allgemein, und resümiert dann sein Literaturverständnis thesenartig: Kultur komme, so Kurzke, aus dem lateinischen colere, damit ist für ihn das auch mit „Blick auf die Zukunft zu Pflegende, Ehrende und Bewahrende“ der Literatur gemeint. Literatur zeichne sich im besten Falle auch durch etwas Dynamisches aus – im Gegensatz zum Begriff „Kult“, der eigentlich immer nur Vorhandenes, Statisches konserviere. Einen Kult in diesem Sinne betreibt Kurzke mit seinem Buch also nicht, sondern er fordert mit seiner praktikablen Handreichung die Lesenden heraus, Literatur neu kennenzulernen; hierzu eröffnet das Personen- und Werkregister einen hervorragenden Zugang.

Titelbild

Hermann Kurzke: Literatur lesen wie ein Kenner. Eine Handreichung für passionierte Leserinnen und Leser.
Verlag C.H.Beck, München 2021.
400 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406764356

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