Merkwürdige Mordwerkzeuge

In „Marlow“, dem siebten Band der Gereon-Rath-Reihe von Volker Kutscher, schreibt man das Jahr 1935

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gereon Rath hat zuletzt vor allem im Fernsehen von sich reden gemacht. In den von der ARD mitproduzierten Staffeln eins und zwei der Serie Babylon Berlin, die auf den ersten Rath-Roman Der nasse Fisch (2008) als Drehbuchgrundlage zurückgehen, wurde er von dem deutsch-österreichischen Schauspieler Volker Bruch verkörpert. Wie man lesen konnte, war der Rath-Erfinder Volker Kutscher von Bruchs Performance durchaus angetan. Dass Fernsehserie und Roman freilich zweierlei sind, wird bereits deutlich, wenn man einen Blick auf die Titelfigur des siebten Rath-Abenteuers wirft. Ein Johann Marlow, in der Romanreihe Chef des Ringvereins „Berolina“ und damit einer der mächtigsten Unterweltbosse Berlins, taucht auf dem Bildschirm überhaupt nicht auf. Vielleicht hat ihn Volker Kutscher auch nur deshalb so prominent ins Zentrum dieses Romans gestellt, um die Eigenständigkeit der Buch- gegenüber der Fernseh-Serie noch einmal ausdrücklich zu betonen.

Man befindet sich jedenfalls im Jahr 1935, wenn Marlow beginnt. In der Berliner Wilhelmstraße lässt Hermann Göring mit dem Neubau des Reichsluftfahrtministeriums das größte Bürogebäude der Stadt in jener Zeit errichten. Vom 10. bis zum 16. September findet der so genannte „Reichsparteitag der Freiheit“ statt, auf dem die Nürnberger Rassegesetze beschlossen werden. Der Stürmer, seit 1923 wöchentlich in Nürnberg erscheinend, sekundiert der damit zum Gesetz erhobenen Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Öffentlichkeit mit einer nochmaligen Verschärfung seiner antisemitischen Hetze. Und obwohl Adolf Hitler in mehreren Reden die Friedfertigkeit des faschistischen Deutschlands betont, zielen die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die Umwandlung von Reichswehr in Wehrmacht und die Gründung der Luftwaffe als dritter Teilstreitkraft neben Heer und Marine auf die langsame Unterhöhlung der Versailler Verträge.

All diese politischen und sozialen Umstände spiegeln sich auch im Leben von Volker Kutschers Romanpersonal wider. Gereon Rath, der im Verlaufe des Buchs vom Oberkommissar der Mordinspektion am Berliner Polizeipräsidium zum Mitarbeiter am Landeskriminalamt Berlin aufsteigt, verfolgt weiter seine schon aus den Vorgängerbänden bekannte Strategie, sich mit den Nazis nur insoweit einzulassen, als das unbedingt für die Fortsetzung seiner Karriere vonnöten ist, ansonsten aber als Mordermittler die Arbeit zu tun, zu der er sich berufen glaubt. Charlotte, kurz: Charly, mit der er inzwischen verheiratet ist, hat ihren Traum, als Rechtsanwältin zu arbeiten, aufgeben müssen. Seit 1934 sind Rechtsanwältinnen an deutschen Gerichten nicht mehr zugelassen. Auch sie sollen sich wie alle anderen Frauen im „neuen“ Deutschland vorrangig als Mütter und im Haushalt bewähren. Die taffe und den Nazispuk hassende junge Frau arbeitet jetzt zusätzlich zu ihren Stunden als Kanzleigehilfin halbtags für das Detektivbüro des aus dem Polizeidienst ausgeschiedenen Wilhelm Böhm. Charlottes und Gereons gemeinsamer Ziehsohn Friedrich Thormann schließlich marschiert derweil begeistert mit seinen Kameraden von der Hitlerjugend über Hunderte von Kilometern zum Reichsparteitag nach Nürnberg.

Dort wird auch Gereon Rath im Zuge einer Ermittlung, die er mehr aus persönlichen Gründen denn im Auftrag seiner neuen Dienstherren durchführt, im Laufe des Romans landen. Zunächst hat er es in Berlin aber mit einer Geschichte zu tun, die mehr nach Unfall als nach Mord aussieht und deshalb gar nicht so richtig in seine Zuständigkeit zu fallen scheint. Wären da nicht einige Dinge ziemlich merkwürdig. Denn sowohl der Fahrer der auf spektakuläre Weise verunglückten Kraftdroschke als auch sein am Anhalter Bahnhof zugestiegener Fahrgast scheinen ein Geheimnis besessen zu haben. War es bei Ersterem eine tödliche Krankheit, die ihn die Macht über das Fahrzeug verlieren ließ, hatte der Mann, den er transportierte, offenkundig gute Gründe, nicht nur seinen wahren Namen, sondern auch seine Zugehörigkeit zur SS zu verschweigen.

Nun, da Fahrer und Fahrgast tot sind, stößt Rath bei seinen Nachforschungen schnell darauf, dass der im Taxi Verstorbene nicht nur einen Blumenstrauß, sondern auch einen Verlobungsring für Irene Schmeling dabeihatte, die Sekretärin Hermann Görings. Aber warum hat der Mann seine SS-Uniform gegen Zivilkleidung ausgetauscht, bevor er sich auf den Weg zu ihr machte? Wieso meldet Irene Schmeling einen Ferdinand Heller als vermisst und nicht den Obersturmführer im SD-Hauptamt Gerhard Brunner, als den seine zusammen mit der Uniform gefundenen Papiere den Mann ausweisen? Und was hat es mit den geheimnisvollen Dossiers über Hermann Göring auf sich, die Rath bei dem Unfallopfer findet?

Erst als Kutschers Held die Geschichte des todkranken Chauffeurs Otto Lehmann seiner Frau und deren Detektivkompagnon Wilhelm Böhm erzählt, kommt langsam Licht in das Dunkel. Obwohl Rath mit seinem alten Kollegen Böhm eigentlich nur noch wenig verbindet, lässt er sich von ihm in einen nie aufgeklärten Fall einspannen – einen so genannten „nassen Fisch“ –, der mit dem Tod von Charlys Vater, einem Polizisten, zu tun hat und die Tochter noch in der Gegenwart traumatisiert und gefährdet.

Auch der Namensgeber für den siebten Rath-Band, Johann Marlow, einst Unterweltkönig von Berlin, nach dem Ende der Ringvereine – mafiaähnlichen Zusammenschlüssen von Kriminellen, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Deutschland entstanden waren und 1934 durch die Nazis verboten wurden – bemüht, seine Geschäfte unter dem Deckmantel der SS weiterzuführen, ist in den Fall verwickelt. Während Rath dem Geheimnis um einen Mord, als dessen Waffe ein für diesen Zweck gekaufter Mensch mit nur noch geringer Lebenserwartung diente, immer näher kommt, erfährt der Leser in fünf in den Roman eingestreuten Kapiteln noch Eine andere Geschichte: Die Verwandlung des Sanitätsfeldwebels Magnus Larsen aus dem mecklenburgischen Örtchen Marlow in das gefürchtete Oberhaupt des Berliner Ringvereins „Berolina“, einen Mann, der auch in Gereon Raths Leben für etliche Unordnung sorgte und sorgt.

Mit Marlow gelingt Volker Kutscher erneut ein so stimmiges wie detailliertes Zeitporträt im Gewand eines Spannungsromans. Rath, den seine Ermittlungen bis nach Nürnberg führen, muss angesichts des im offenen Wagen durch die Stadt fahrenden „Führers“ mit Entsetzen feststellen, dass er keineswegs immun ist gegen die Massenpsychose, die die faschistische Propagandamaschine auszulösen in der Lage ist: „Rath spürte, dass er, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben und ohne dies bewusst zu wollen, dabei war, mit den anderen den rechten Arm zu heben, weil hier niemand war, der nicht den Arm hob,, weil alle es taten“. Sein Adoptivsohn Fritz, der anfänglich die Hitlerjugend als ein besseres Zuhause als jenes, das Gereon und Charly ihm anzubieten hatten, empfand, ist nun dabei, sich von dieser Anschauung zu lösen, weil ihm das hinter der faschistischen Ideologie stehende Menschenbild langsam suspekt wird. Charly muss mit ihrer eigenen Rolle bei der Affäre um den Tod ihres Vaters fertig werden, während sie von zwei Seiten bedrängt wird – vom Jugendamt, das ihr den Ziehsohn wegnehmen möchte und von Johann Marlows chinesischem Handlanger und Schatten Liang, der seine Ausreisemodalitäten mit ihrer Hilfe zu regeln gedenkt und dafür mit viel Geld winkt.

Alle drei Figuren demonstrieren unterschiedliche Möglichkeiten des Lebens in einem totalitären System: Gereon den – wenn auch innerlich angewiderten – Angepassten, Charlotte die sich für die Verfolgten engagierende, ihre eigene Freiheit riskierende Gegnerin des Faschismus und Fritz den begeisterten Mitläufer, der allerdings mehr und mehr von Zweifeln geplagt wird. Aber auch mit den zahlreichen Nebenfiguren des Romans – beispielsweise Charlys systemtreuer Mutter, dem Detektiv Wilhelm Böhm, der sein Leben riskiert, indem er Juden zur Ausreise verhilft, oder den alten und neuen Kollegen Raths – hat Kutscher ein historisch genaues Panorama des Alltags jener Jahre geschaffen. Jahren, in denen immer deutlicher zutage trat, was ein gutes Jahrzehnt später Deutschland in den Untergang führen sollte.

Titelbild

Volker Kutscher: Marlow. Der siebte Rath-Roman.
Piper Verlag, München 2018.
528 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492055949

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