Im Labyrinth der Erinnerungen

Mit „Brooklyn soll mein Name sein“ schrieb Eduardo Lago einen Roman über einen Roman und über die Lust und Last des Schreibens

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von der kürzlich verstorbenen Journalistin und Schriftstellerin Joan Didion stammt der Satz: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“. Ein – wie ich finde – rätselhafter, weil vieldeutiger Satz. Sind Erinnerungen eine Lebensnotwendigkeit? Sicher, denn alles Erlernte ist letztlich Erinnertes. Auch erfundene Geschichten enthalten Erinnertes, sind in gewisser Weise aufbewahrtes Leben und der Akt des Erzählens eine Art Wiederholung von Leben. Das Wir in Didions Satz verweist darauf, dass das Erzählen sich an andere richtet, mindestens an ein Du und ebenso an uns selbst als selbstreflektierender Teil einer Gemeinschaft. Wer erzählt, der spricht oder schreibt, also geht es auch um die Sprache, die den Menschen als Menschen auszeichnet, denn wir sind nun mal, wie es ein Buchtitel nennt, das sprachbegabte Tier. Und weil Geschichten etwas Erinnertes sind, steckt darin auch die Geschichte selbst als Historie und Chronologie von etwas, die jedes Leben als ein Anfang und ein Ende enthält und als eine Vorgeschichte und ein Nachleben mit daraus entstehenden Horizontverschiebungen.

Von all dem handelt im Grunde Eduardo Lagos Roman, der damit zugleich einen anderen berühmten Satz eines noch berühmteren US-amerikanischen Schriftstellers zum Motto haben könnte. Ich meine William Faulkners Aussage: „Das Vergangene ist nicht tot, es nicht einmal vergangen“. So einfach und in Wahrheit doch das Komplizierteste im menschlichen Dasein, denn was nicht aufhört, ist grenzenlos, und genau dazwischen ereignet sich das Leben. Ist Literatur deshalb so unerschöpflich? Auf jeden Fall enthält sie eine Entgrenzung von Raum und Zeit und scheinbar haben wir zum Leben tatsächlich das permutierende Erzählen von Geschichten nötig, um unsere Endlichkeit mit und in der Sprache zu überwinden. 

Lagos Roman liefert dafür den passenden Stoff. Er beginnt übrigens auf einem Friedhof und endet auf einem solchen. Zwischen beiden liegt der Atlantik, der die Neue von der Alten Welt nur scheinbar trennt. In Wahrheit überspannt ihn ein dichtes Beziehungsgeflecht aus Erwartungen, Sehnsüchten, Enttäuschungen, Erfolgen und Niederlagen. Friedhöfe sind wohl auch eine Art menschliches Archiv. Ein Archiv der Texte spielt außerdem eine zentrale Rolle. Hinterlassen hat es ein Schriftsteller, aber nicht einfach nur einer anonymen Nachwelt, sondern einem Journalisten mit einem konkreten und herausfordernden Auftrag, nämlich den Roman seines Lebens fortzuschreiben oder genauer gesagt, abzuschließen, was Fragment geblieben ist. Ihr Urheber nannte die in einer abgelegenen Kammer versammelten Papiere sinnigerweise „Die letzte Ruhestätte“. Und wenn sich nach annähernd 500 Seiten erzählerisch mit Spannung ein Kreis schließt, hat man eigentlich nicht das Gefühl, dass hier wirklich etwas zu Ende ist. Aber das lassen wir jetzt beiseite und schauen hinein in den Roman über einen Roman.

Wie der Titel vermuten lässt, handelt die Geschichte in New York, genauer gesagt in dem Stadtteil Brooklyn. Dort lebt der Schriftsteller und Lektor Gal Ackermann, der den Journalisten Néstor Chapman zu seinem literarischen Testamentsvollstrecker macht. Als Gal ihm die „Ruhestätte“ seiner Erinnerungen vorführt, jenes Archiv, das zugleich sein Arbeitsplatz ist, fragt ihn Néstor, warum er schreibe. Die Frage bleibt unbeantwortet, aber sie könnte sehr gut in Joan Didions Satz ihre Antwort finden, um zu leben und vor allem, um die Last der Abwesenheit der Toten zu tragen, wie Gal gesteht:

Im Grunde genommen ist alles, was du da siehst, völlig unbedeutend. Ich habe es nur aufgehoben, weil es mein einziger Trost ist; manchmal schlage ich wahllos etwas auf, das ich geschrieben habe und lese einige Seiten, die mich in eine andere Dimension von Zeit und Raum versetzen, und das reicht mir.

Gal wächst bei Eltern auf, die ihn als ihr Kind angenommen haben. Davon weiß er aber lange nichts. Geboren wurde er in Madrid, als in Spanien Bürgerkrieg herrschte. Die Mutter stirbt bei der Geburt und wie das Leben seines Vaters verlief, erfährt er erst spät, es bleibt eine Weile die „offene Rechnung mit der Vergangenheit“. Gal erfuhr mit seinem 14. Geburtstag von seiner Herkunft. Und als ihm sein zweiter Vater, der als Freiwilliger in Spanien gegen die Faschisten kämpfte und mit Gals Eltern befreundet war, ein Foto der leiblichen Eltern zeigen will, zögert Gal aus Angst.

Ich wollte nicht, dass dieser Abgrund sich vor mir öffnete; aber Ben bestand darauf, dass er es mir zeigen müsse. […] An der Wahrheit kannst du nichts ändern, ob sie dir gefällt oder nicht.

An der Wahrheit lässt sich auch dann nichts ändern, als man ihm erzählt, sein Vater sei ein Verräter gewesen, der seine Mitkämpfer absichtlich in den Tod schickte, untertauchte und nach dem Krieg unerkannt eine neue Existenz gründete.

In Lagos Roman gibt es viele Erzählstränge. Gals Familiengeschichte, die Spanien und die ‚Neue Welt‘ miteinander verbindet, ist einer, ein anderer eine Liebesgeschichte, eine im Grunde unerfüllte Amour fou zwischen Gal und der jüngeren geheimnisvollen Nadja, die ein äußerst merkwürdiger Zufall zusammenbrachte. Das Verlangen, sie kennenzulernen, geht schließlich so weit, dass ein Detektiv angeheuert wird, um Informationen über sie zu liefern:

Ich kenne die Koordinaten ihres Alltags und wenn ich wollte, könnte ich in ihr Leben eindringen, aber etwas sagt mir, dass ich es noch nicht tun soll. Es ist, als hätte ich die Grenze eines Nebelgebiets erreicht. Ich habe dem Zufall ein Schnippchen geschlagen und bin dabei, in gefährliche Gewässer einzutauchen.

Ein weiterer Erzählstrang hat seinen Ursprung in einer Bar in Brooklyn, dem „Oakland“. Sie ist Stützpunkt für Menschen mit eigenwilligen Lebensgeschichten. Viele der Stammgäste fahren zur See und bringen so die ganze Welt hinein in diesen überschaubaren Raum, der unversehens zu einem magischen Ort wird und eine Welt für sich bildet mit all den sich kreuzenden Schicksalen darin. Und oft sind diese Menschen Gestrandete, „die vom Leben besiegt worden waren“. Néstor Chapman wiederum erinnert dieses Lokal an Spanien, ein „verzerrtes Spanien“, als sei es eine Karikatur, aber tröstlich empfand er dort „das merkwürdige Gefühl, ein wenig außerhalb der Realität zu stehen“.

Aus all dem entsteht eine überbordende Fülle an Episodischem, dem im Kern immer auch etwas Episches eigen ist – fast jeder Archivschnipsel enthält die Idee für einen neuen Roman. Fast alles stammt aus Gals Archiv, jener „letzten Ruhestätte“, die sich bezeichnenderweise in einem Raum über dem „Oakland“ befindet. Wir können es gewissermaßen lesend sehen, wie Néstor als literarischer Testamentsvollstrecker das angehäufte Material an Manuskripten, Zeitungsausschnitten, Notizen und Tagebüchern sichtet, mal hier, mal dort hängen bleibt und uns Leser*innen an all dem Strandgut teilhaben lässt, das er in Kartons und Mappen entdeckt.

Der Joyce-Liebhaber Eduardo Lago besitzt ein Faible für auratische Orte und für Abgründiges, für verworren-rätselhafte Biografien. Seiner Vorliebe verdanken wir neben Gals Kindheitserinnerungen an Coney Island als eine Art Ende der Welt und an einen Großvater, „der für jede Gelegenheit etwas aus der griechischen Mythologie parat hatte“, auch mystische Beschreibungen einer heruntergekommenen Gegend, die Gal die Werft nennt und aus stillgelegten Docks besteht mit einer verlassenen Lagerhalle, die zum „Tempel der Zeit“ erklärt wird mit Müllhalden rund herum und kreischenden Möwen darüber. Ein scheinbar geeigneter Ort für Delirien, auserkoren als Versammlungsort für die Toten und Lebenden – „wichtig ist mir, dass ich jeden hierherrufen kann, den ich will“.

Ganz anderer Art, aber genauso fantastisch die Geschichte über das Chelsea, einem Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Wohngebäude in New York mit ursprünglich herrschaftlichen Zimmerfluchten, das später Hotel und am Ende zur Legende wurde. Dass auch noch Thomas Pynchon seinen Auftritt hat, ebenso wie Mark Rothko, an dessen Selbstmord wir erinnert werden, verwundert nicht im Geringsten. Die Personen, die der Autor auftreten lässt, sind schließlich so zahlreich, dass er uns Leser*innen einen immerhin mehr als sechs Seiten langen Index samt einer Chronologie gönnt, die 1858 mit Gals Urgroßvater beginnt und 2010 mit Néstors letztem schriftstellerischem Entschluss endet.

Wer als Leser*in keine Angst vor Überfülle hat und Umwege liebt, wer gerne wissen will, wie alles mit allem zusammenhängt, wie Zeiten sich überlagern, Orte sich kaleidoskopisch auflösen, darf sich bei Eduardo Lago und seinem Kampf gegen die Furie des Verschwindens gut aufgehoben fühlen. Lago führt in lauter Wunderkammern des menschlichen Lebens mit dem Tod als zuverlässigem Gast. Den Grundton des Romans könnte man wohl am besten mit gedämpft, ein wenig schwermütig charakterisieren. Aber Lagos Melancholie beflügelt, so paradox das klingt, und beschert ein literarisches Glück. Das haben andere wohl auch so gesehen, denn für seinen Roman – es war sein erster – erhielt er zwei der bedeutendsten spanischen Literaturpreise.

Titelbild

Eduardo Lago: Brooklyn soll mein Name sein. Roman.
Aus dem Spanischen von Guillermo Aparicio.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2021.
500 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783520624017

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