Ein Rasender der Vernunft

Claude Lanzmanns ausgewählte Texte präsentieren den Regisseur von Shoah als Journalisten und engagierten Intellektuellen

Von Sebastian MuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Musch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Journalist und Essayist war Claude Lanzmann bisher eher unbekannt. Shoah, aber auch Warum Israel, Tsahal und zuletzt Der Letzte der Ungerechten, sein Film über Benjamin Murmelstein, haben ihn ins Pantheon der Regisseuren eingeschrieben. Dass er nicht nur ein großer Filmemacher, sonder auch ein packender Erzähler ist, hat er in seinen Erinnerungen unter dem Titel Der patagonische Hase eindrucksvoll belegt. Ein wildes Buch, rasend und mäandernd, mitunter geschwätzig, doch gleichzeitig mitreißend, bleibt der Leser am Ende nur mit offenen Mund zurück: Was für ein Leben! Als Jugendlicher bereits im Widerstand gegen die deutschen Besatzer aktiv, nach dem Krieg im Epizentrum des existenzialistischen Erdbebens zuhause, das das französische Denken durchfuhr, und dann, erst in der zweiten Lebenshälfte, das meisterliche filmische Werk rund um Shoah. Überwältigend und radikal, auch psychisch und physisch überfordernd, entwickelte Lanzmann einen ganz eigenen Stil um den Schrecken der Shoah filmisch verarbeiten zu können. Seine Erinnerungen, 2009 auf Französisch und ein Jahr später auf Deutsch erschienen, haben aber auch den Hunger nach dem journalistischen Werk geschürt, seinen politischen Interventionen und feuilletonistischen Beiträgen, deren Entstehungsgeschichten er bereits teilweise in Der patagonische Hase eingewebt hatte. Nun liegen sie im Rowohlt Verlag auf Deutsch vor. Der Band ist vor allem von der Verschiedenartigkeit der Texte geprägt ist. Am Beginn, auch chronologisch korrekt, stehen Lanzmanns journalistische Arbeiten. Einer der schönsten Texte, Die Flucht des Dalai-Lama, 1959 in Elle veröffentlicht, kommt in Gestalt einer Reportage daher. Doch weiß der Leser, wie Lanzmann ja in Der patagonische Hase mit spitzbübischer Freude gestanden hat, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Was sich nach einer abenteuerlichen Reise nach Tibet anhört, hat Lanzmann geschrieben, ohne Paris verlassen zu haben. Ein Schelmenstück.

Der Band besteht weiter aus Porträts von (meist französischen) Stars und Sternchen, Schriftstellern und anderen Persönlichkeiten, die in ihrer plaudernden Art leichtfüßig daherkommen und dennoch oft in die Tiefe ragen, um die Porträtierten in ihrem Innersten zu packen. Dazu gehören Arbeiten über Charles Aznavour, Jean-Paul Belmondo, Serge Gainsbourg und Soraya (ein herrlich absurder Text), alle ebenfalls in Elle veröffentlicht. Zum Einen zugestandenermaßen oft Brotarbeit (manche der Texte sind sichtlich in Eile geschrieben), zum Anderen aber dennoch Gesellschaftsporträt in nuce.

Es folgen verschiedene Reportagen, die mit ihrem je eigenen Charme bestechen. Lanzmann besitzt eine, wie wir ja schon aus Shoah wissen, überaus scharfe Beobachtungsgabe. Hier wird sie ihm ein Werkzeug, um Absurditäten in aller Welt zu demaskieren. Diese Texte, welche Lanzmann vom ägyptischen Tal der Könige bis nach Agadir führen, schlagen inhaltlich den Bogen zwischen seinen Porträts und den politischen Schlachten der sechziger Jahre, die Lanzmann zusammen mit anderen französischen Intellektuellen, besonders Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, geführt hat.

Diese Angriffe und Verteidigungen, Rechtfertigungen und Polemiken um den Algerienkrieg, Antisemitismus, die Shoah und Shoah, und, immer wieder, Israel füllen die zweite Hälfte des Bandes. Es liegt in ihrer zeitgebundenen Natur, dass sie für den Leser weniger zugänglich erscheinen. Das interessierte Publikum, fern dem Spezialistentum, welches vonnöten ist, um all dem zu folgen, mag sich hier doch den Kopf kratzen: Worum ging es in dieser Diskussion nochmal? Einordnende Kommentare oder zumindest eine vorangestellte Einführung wären hier nützlich gewesen. So bleibt immerhin der dokumentarische Wert, der immens ist.  All diese Auseinandersetzungen, und Lanzmanns Beiträge, haben natürlich Wert für den Zeithistoriker. Es ist ein wenig in Vergessenheit geraten, dass Shoah, dieser mittlerweile allseits gelobte Meilenstein, bei seiner Premiere 1985 auch auf Ablehnung stieß. Dass manche Urteile überholt sind, er manche Texte so nicht mehr schreiben würde, sei Lanzmann zugestanden. Dies zu monieren würde dem Zweck des Bandes zuwiderlaufen. Von seinem Leben und vom vergangenen Jahrhundert Zeugnis ablegen, das will Lanzmann mit diesem Band, wie er in seinem Vorwort schreibt. Denn die Kontroversen, an denen Lanzmann teilnimmt, sind zahlreich. Wortgewaltig stürzt er sich in jede Schlacht, meist im Recht, oft auch rechthaberisch, manchmal aber sich im enervierenden Klein-Klein verlierend. Lanzmann ist auch ein Getriebener, der keine Debatte scheut, ihr aber auch gar nicht aus dem Weg gehen kann.

Mit seinem unstillbaren Lebenswillen und seiner intellektuellen Neugier präsentiert er sich hier als urteilsstarker Aufklärer, der angesichts von Hybris und Hass in Raserei verfällt. Doch solche Rasereien,  schreibt er im Vorwort, bildeten gerade die Vernunft der Epoche. Immanuel Kant hatte in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die „Anlage mit Vernunft zu rasen“ noch in der Nähe zum Wahnsinn und zur Paranoia verortet. Lanzmann würde Kant wohl antworten, dass in einer Epoche, zu der auch Auschwitz gehört, die Raserei gegen Verbrechen, Lügen und Stumpfheit zur Pflicht wird. Lanzmann als Rasender der Vernunft, nach der Lektüre dieses Bandes nimmt man ihm diese Rolle ganz gewiss ab.

Titelbild

Claude Lanzmann: Das Grab des göttlichen Tauchers. Ausgewählte Texte.
Übersetzt aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
543 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783498039424

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