Das Fragment als Chamäleon
Kaltërina Latifis Studie entdeckt die bunte Schönheit der Teile, auch theoretisch
Von Michael Braun
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Fragment ist ein Chamäleon unter den literarischen Gattungen. Rasch wechselt es seine Farbe, ist mal eine dunkle Ruine, dann eine schillernde Scherbe. Es passt sich seiner Umgebung an – was man für überlebensnotwendigen Opportunismus oder für virtuose Kunst halten kann. Und es versteht es, sich als ‚Ganzes‘ zu tarnen, von dem doch nur Teile zu sehen sind. Viele Werke der Alten sind nurmehr als Fragment überliefert. Die Romantiker erst haben die poetische Qualität und die ästhetische Reichweite des Fragmentarischen entdeckt.
Genau hier setzt die Studie von Kaltërina Latifi an, die 2023 als Habilitationsschrift der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen vorgelegt wurde und – selten genug für eine solche Qualifikationsschrift – als eleganter Essay daherkommt, feinsinnig gegliedert und auf einer stabilen Startbahn. Denn die Verfasserin, die sich bereits in renommierten Fachzeitschriften als wohlvertraut mit der Materie gezeigt hat, verzettelt sich nicht in der beliebten Frage der Gattung.
Es geht Kaltërina Latifi um nicht mehr und nicht weniger als um eine ästhetische Theorie des Fragments. Diese Theorie wird Fragmentarik genannt, und die Methode, mit der die Bausteine für eine Bestimmung und Verortung des Fragmentarischen zusammengefügt werden, ist eine phänomenologische Mikroanalyse von Gestaltungsprinzipien fragmentarischer Prosatexte von der Romantik bis zur Gegenwart. Unter den Ergebnissen sind viele exzellente Einzelbeobachtungen; insgesamt kristallisiert sich heraus, dass fragmentarisches Erzählen ein maßgebliches Integrationsangebot der Moderne angesichts der Zumutungen von Ausdifferenzierung und Dynamik des Erfahrungswandels ist. Oder kürzer gesagt: Das Fragment ist ein Fenster zur literarischen Moderne und zugleich ihr Rahmen – ein Eck- und zugleich ein Prüfstein für die Ästhetik.
Das Problem des Fragments besteht in der Spannung von Materie und Form, von Teil und Ganzem. Im Aufbrechen und im Aufgebrochenen, das macht Latifi an Beispielen deutlich, werden enorme poetische Energien freigesetzt. Immer stehen dabei folgende Fragen im Vordergrund: Wie geht das im Werk vonstatten? Als Unzeitgemäßes, als Experiment, als Disruption? Was ist das, was im Fragment durchbricht, und wie generiert ein Fragment dann einen Bezug zur Ganzheit? Und inwiefern wird der „Einspruch gegen den Anspruch, ‚vollendet‘ sein zu müssen“, begründet?
In Schillers Demetrius (1804/05), der täuscht und sich täuschen lässt, besteht die Fragmentarik darin, dass die Figur – und mit ihr der Stoff – mit sich selbst kämpft und dabei abbröckelt. Auch in anderen Werken über Demetrius tritt das Abgebrochene in der Hauptfigur in Erscheinung. Alexander Hernet-Holenias Demetrius (1926) versucht das Fragment in die Ganzheit der Form einzubauen, ohne aber verhindern zu können, dass die Figur zerrissen bleibt.
Das Fragment, so lautet die Bilanz, ist also mehr als eine Mangelerscheinung. Interessant sind die Teile, die im Puzzle fehlen, die Lücken und Risse, die Abbruchkanten und die Schnittflächen. Was dem Fragment fehlt, ist insofern nicht das Ganze, von dem es ein Teil ist, sondern seine „‘Fragmentgeschwister‘“, die anderen Teile, mit denen es ein Ganzes bilden würde. Für die Allianzen, die diese nie zu einem Ganzen findenden Einzelteile bilden, haben Dichter und Denker treffsichere Metaphern gefunden: „Eisenfeile“ (Friedrich Schlegel), „Kugelblitze“ (Hofmannsthal), „Reißnägel“, um Fragmente dingfest zu machen (in Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän), „Strudel“ und „Paradoxie“ (Adorno), „luftige Sprachfetzen“ (Roland Barthes), „kosmetische Kraft“ der Imagination, die die Teile zu einem „heiteren Ganzen“ zusammenfügt (Jean Paul), „glänzende Splitter“ und Schnittflächen (Musil). Das Fragment suggeriert und simuliert, es generiert und destruiert Sinn.
Besonders anschaulich präsentiert Kaltërina Latifi diese ästhetische Energie des Fragments an Marlene Streeruwitz‘ Roman über Anna Mahler, Nachwelt (1999), und Ulrike Draesners Roman Schwitters (2020). Das Problem, für welches das life writing in beiden Romanen die Lösung ist, ist das Fragment. Bei Streeruwitz mache sich die Sprache das Fragmentieren als Formprinzip zunutze, bei Draesner vermittle die Form im Erzählen ‚ganzer Sätze‘ gerade das Unfertige und Collagierte des Schaffens. Schillernde Gestalten, figürlich, sprachlich und ästhetisch, allerorten: Das Fragment lohnt eine so farbenfrohe mikrologische und theoretische Betrachtung. Halt ein „Chamäleon“, wie es in Jan Wagners gleichnamigem Gedicht heißt: „es regt / sich nicht, verschwindet langsam zwischen / den farben. es versteckt sich in der welt.“
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