Mit den Ohren sehen

Klangbuch mit Hörspiel zur Erzählung „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ von Christine Lavant

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit etlichen Jahren wagt der Mandelbaum Verlag ein publizistisches Experiment: Zu mehr als einem Dutzend literarischer Texte liegen inzwischen so genannte Klangbücher vor. Die Hörspiele bzw. Vertonungen zu literarischen Texten resultieren aus einer Kooperation experimentierfreudiger Musiker mit renommierten Schauspielern. Das Ergebnis: Das Akustische schafft eine besondere Atmosphäre, in der sich oftmals der literarische Text als Klangerlebnis noch weiter entfalten kann.

So auch im vorliegenden Fall: Die Schauspielerin Gerti Drassl und das Autorentrio mit dem Künstlernamen Brot & Sterne inszenieren Christine Lavants Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus als Hörspiel. Gegenstand der künstlerischen Gestaltung ist ein Text von 1946, der zu den drei großen autobiographischen Erzählungen der österreichischen Schriftstellerin gehört, wie man dem kenntnisreichen Vorwort zum Klangbuch von Klaus Amann entnehmen kann. Das Besondere an der Textgrundlage ist, wie Amann in konziser Form herausstellt: Lavant verbrachte als Zwanzigjährige einige Wochen in der sog. Landeskrankenanstalt Klagenfurt, nachdem ein Suizidversuch mit Medikamenten gescheitert war; elf Jahre später, im Herbst 1946, hielt sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen in der Institution Psychiatrie, aber vor allem mit einzelnen Patientinnen, Pflegekräften und Ärzten, in höchster Intensität und Bildhaftigkeit in einer zu Lebzeiten unveröffentlichten Erzählung fest. Ein zweiter, nicht unwesentlicher Aspekt, den Amann hervorhebt: „Vom 20. März bis 3. April 1946 fand in Klagenfurt einer der ersten großen Prozesse in Österreich im Zusammenhang mit den sogenannten ‚Euthanasiemorden‘ statt. […] Gegen 15 Personen jener Anstalt, die den Schauplatz der ‚Aufzeichnungen‘ bildet, der sich fünf Jahre nach Christine Lavants Aufenthalt auf diese Weise in einen der grässlichsten Mordschauplätze des Landes verwandelt hatte, wurde Anklage erhoben.“

Das Manuskript über Lavants Eindrücke der Klagenfurter Psychiatrie wurde erst in den 1990er-Jahren im Nachlass der österreichisch-britischen Schriftstellerin und Lavant-Übersetzerin Nora Purtscher-Wydenbruck wiederentdeckt und inzwischen mehrfach ediert. Aus der Perspektive einer Machtlosen zeigt der Text die irritierende Welt der Ärzte, Pflegekräfte und Patientinnen, dabei lässt das Geschriebene Raum und Zeit vergessen, der Hospitalisierungseffekt schlägt unerbittlich zu, bis hin zu einer durch die Umstände erzeugten Orientierungslosigkeit.

Dies und die damit verknüpfte dichte Schilderung von Lavants existentiellen Ängsten, ihren irritierend-widersprüchlichen Selbstwahrnehmungen und sprunghaft-unsteten Bewusstseinszuständen boten offensichtlich ein hinreichendes Initial für eine Inszenierung in Form eines Hörspiels, für dessen Gesamtkonzept Peter Rosmanith verantwortlich zeichnet: Die Schauspielerin Gerti Drassl gestaltet den inneren Monolog Lavants mit hoher Empathie und stimmlicher Präzision. Gestützt wird dieser fesselnde Eindruck durch die klangvollen Abstraktionen von Brot & Sterne, die eine überzeugende, akustisch vielfältige Kulisse generieren. Dem Künstlertrio Brot & Sterne mit Franz Hautzinger an der Trompete, Matthias Loibner an der Drehleier und Peter Rosmanith an der Perkussion gelingt es, die rund 50 Minuten Spielzeit zu einem ungewöhnlichen Hörgenuss werden zu lassen. Die im Text bereits angelegten Detailbeobachtungen und Wahrnehmungssplitter Lavants werden in der akustischen Umsetzung lebendig, die karg-einfache Textsprache Lavants gewinnt in der Hörspielfassung eine enorme Aussagekraft.

Titelbild

Christine Lavant: Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus.
Gerti Drassl (Stimme), Brot & Sterne (Musik).
Mandelbaum Verlag, Wien 2019.
32 Seiten + 1 Audio-CD, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783854768487

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