Geschichten vom Meisterdieb
Maurice Leblancs letzter Arsène Lupin-Roman auf Deutsch: Diesmal war es wirklich „Lupins letzte Liebe“
Von Walter Delabar
Die Literatur ist voller Bösewichte und solcher Figuren, die vielleicht böse sind. Aber nur vielleicht. Ob ein Sherlock Holmes nicht eigentlich zu ihnen gehört, ist auch nicht wirklich gesichert. Die Faszination des edelmütigen Diebs aber mit guten Manieren, einem überlegenen Intellekt und der glücklichen Hand ist anscheinend bis heute ungebrochen. Dabei ist Maurice Leblancs Arsène Lupin zeitweise ein wenig in den Hintergrund geraten, aus dem ihn jetzt eine überaus erfolgreiche Netflix-Serie wieder hervorgeholt hat. Abgestaubt und äußerst glücklich mit Omar Sy als Protagonist besetzt zeigt die Serie, was das Material taugt, das Maurice Leblanc (1864–1941) in über 20 Romanen samt Beiwerk in den Jahren zwischen 1905 bis Ende der 1930er Jahre zusammengeschrieben hat. Und das ist immerhin einiges, wenn man von Akzidenzien wie dem Schatz der Könige von Frankreich und anderen Totalitäten einmal absieht. Omar Sy hat die Serie im Übrigen nicht nur einen internationalen Publikumserfolg, sondern sogar ein Portrait im New Yorker eingebracht – mal sehen also, ob ihm die Hollywood-Karriere gelingt. Der Arsène Lupin-Reihe jedenfalls hat die Serie bereits neuen Auftrieb gegeben. Im Insel-Taschenbuch ist jetzt Leblancs letzter Roman um den Gentleman-Dieb auf Deutsch erschienen, der in Frankreich vor knapp zehn Jahren herausgegeben wurde.
Naheliegend bedienen Serie und Buchreihe die Erwartungen an den großen, intellektuell überlegenen Dieb, der seinen kriminellen Erfolg nicht mit Gewalt sucht, sondern mit einem Konzept, das alle eventuellen Manöver seiner Gegenspieler berücksichtigt. Das bezieht ausdrücklich die Fälle mit ein, in denen Lupin von seinen Gegnern überrascht wird. Denn nichts zeigt die Überlegenheit eines kriminellen Intellekts besser als eine ebenso flexible wie erfolgreiche Reaktion auf ein kontingentes oder eben unvorhergesehenes Ereignis. Das ist eine sehr spezifische Kontingenztoleranz, die eben nicht das Unvorhergesehene hinnimmt, sondern auf seiner Basis gleich wieder alle undisziplinierten Gegebenheiten in ein System, mithin ein Bild einbringt, um sich in ihm souverän bewegen zu können.
Und von unvorhergesehenen Wendungen sind Leblancs Lupin-Romane reich, was vielleicht das Resultat eines relativ offenen Schreibkonzeptes ist, in dem eben nicht von vorneherein alles außer dem Umfang festgelegt ist. Oder es ist eben ein Hinweis auf einen unstrukturierten Autor. Allerdings ist das Material, an dem sich Lupin abarbeitet, nicht von schlechten Eltern. Ein geheimer Schatz, der den Königen von Frankreich Macht, Einfluss und Reichtum gesichert hat, eine geheimnisvolle, vielleicht unsterbliche Gräfin, naheliegend eine femme fatale, die ihre Wirkung auf Männer dazu nutzt, ihnen alle Reichtümer dieser Welt zu entlocken, oder eine Anwärterin auf den Posten der englischen Königin, um deren Gunst der britische Geheimdienst und diverse Gigolos konkurrieren – darunter Arsène Lupin inkognito (was er eh gern macht). Hier geht’s nicht um ein Casino oder eine andere Bagatelle, auch wenn‘s da viel Geld zu klauen gibt, hier geht es stets um den Schlüssel zu Macht, zu den gesellschaftlichen Eliten, zu unermesslichem Reichtum und nicht zuletzt um das Wohl Frankreichs, denn Lupin ist ein wirklicher Patriot, der seinem Land dann auch schon mal die nicht völlig leergefressenen Schatzschatullen der Könige von Frankreich vererbt.
Aber davon abgesehen, dass seine Aktivitäten eben Geld kosten, ist Lupin ein Verbrecher nicht nur aus Passion, sondern jemand, dem das Verbrechen immer auch aus gutem Grund zulässig ist. Gemeinheit, Geldgier, Neid sind allerdings keine guten Gründe, viel eher gehören eine schöne Frau, die Liebe zu ihr und die Verteidigung ihres Vermögens wie ihres Wohlergehens dazu. Denn der Gentleman-Dieb mag ein Chauvi sein, wie er im Buche steht, in diesem Fall das Maurice Leblancs, der Mitglied der Ehrenlegion war. Die Literatur hat Leblanc nicht nur gute Einnahmen, sondern auch große gesellschaftliche Anerkennung verschafft. Aber Lupins Held ist nicht dem Geld, er ist den Frauen zutiefst und auf ewig verfallen, was meist diesen einen Roman lang anhält. Immerhin endet das letzte Buch in einer Variante von: „Sie lebten viele Jahre glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht …“
Dass ein Autor von Trivialromanen derart hohes Ansehen gewinnt, unterscheidet Frankreich von Deutschland, das sich dann doch lieber an seine Klassiker oder seine jeweiligen zeitgenössischen Dichterfürsten hält, statt dem Spielerischen in der Literatur allzu großen Freiraum zu gewähren. So weit käme es noch.
Übersetzungen aus so unzuverlässigen Kulturen wie der Frankreichs oder Englands sind dennoch zugelassen. Und was wäre das für ein Literaturleben, in dem man nicht dem Spiel Leblancs mit seinem Idol und Hauptkonkurrenten Arthur Conan Doyle verfolgen könnte. Immer wieder lässt Leblanc seinen Arsène Lupin gegen einen englischen Ermittler namens Herlock Sholmes antreten, der sich als Repräsentant britischer Ermittlungskunst aber doch dem überlegenen und zugleich deutlich spielerischeren Intellekt eines Arsène Lupin beugen muss. Die Lacher sind sein.
Dabei ist es – bei allen Unfertigkeiten, die auch der Gentleman-Dieb aufweist – gerade seine Intelligenz, auf die Held und Autor ihr größtes Gewicht legen und die keiner Frage bedarf. Immer wieder klopft sich Lupin in den Geschichten selbst auf die Schulter und preist seinen überlegenen Intellekt, der immer alles weiß, vor allem immer die richtigen Schlüsse ziehen kann. Logik ist freilich einigermaßen egal, solange seine Vermutungen und Erwartungen bestätigt werden. Lupin ist kein Sholmes oder Holmes. Leblanc kann ihm also ohne Weiteres zugestehen, immer schon alles und besser gewusst zu haben. Das ist schnell als strategische Operation erkannt, aber sollte vom Genuss der kolportagehaften Geschichten nicht abhalten, in denen gerannt, gerudert, gerast, geprügelt und geschossen wird, was das Zeug hält. Rätsel werden auch gelöst, wenngleich die Verfahren des Herrn Lupin nicht immer ganz sauber sind, vor allem dann, wenn‘s um oder gegen Frauen geht. Da spielt ihm die eigene Libido dann doch immer wieder mal einen Streich.
Sicher, Leblancs Stil ist oft ungelenk und sehr sentenzenhaft, er ist – soweit das in der deutschen Übersetzung nachvollziehbar ist – dem Krimi der 1920er Jahre recht nah, was für die einen Mühe, für die anderen Vergnügen nach sich zieht. Jenseits dessen sind Leblancs Romane aber vor allem eins, ein großer Spaß. Mantel und Degen im Verfall, jenseits des hardboiled-Krimis entstanden, sollen sie vor allem den Protagonisten, der meist erst gegen Ende offen auftritt, Entfaltungsraum freischieben. Bis dahin – bis zur Lösung des Rätsels, und bis zum Ende des Romans – sollen sich Leser/innen unterhalten. Das ist besser als gutes Geld. Bei Insel in Berlin liegen acht Lupin-Romane vor, was immerhin für einige Zeit vorhält. Dann braucht es Nachschub.
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