Geschichte hat viele Gesichter – und trägt noch mehr Masken

Maxim Leos kurzweiliger Roman „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist ein modernes Lehrstück über Geschichtsverständnis und -schreibung

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ihre Lebensgeschichte ist ein historisches Vermächtnis!“ Der Satz ist so pathetisch wie ungewohnt in den Ohren des erfolglosen Berliner Videothekenbesitzers Michael Hartung, der nach kurzem Grübeln den letzten Kontakt mit der Formulierung „historisches Vermächtnis“ in den Staatsbürger-Unterricht der zehnten Klasse verortet. Dort allerdings angewandt auf Marx, Engels und Lenin, denn Hartung ist ein Kind der DDR und stolpert der Geschichte irgendwie immer einen Schritt hinterher.

Seine Biographie schmiegt sich geschmeidig an die kalten Wände der Opferschale des technischen Fortschritts, denn jeder von ihm erlernte und ausgeübte Beruf wurde wenig später unter dem Diktat der Modernisierung, geschrieben von Effizienz und Ökonomie, wegrationalisiert. Doch 45 Jahre später erklärt nun Alexander Landmann, Journalist beim Nachrichtenmagazin „Fakt“, dieses Leben zum nationalen Erbe – was ist geschehen?

Am 12. Juli 1983, so der die große Story witternde Journalist, ereignete sich in den Morgenstunden die größte Massenflucht aus der DDR, als aufgrund einer falsch gestellten Weiche eine mit 127 Passagieren besetzte S-Bahn am Bahnhof Friedrichstraße nach West-Berlin abbog und so elegant die hochgerüstete innerdeutsche Grenze passierte. Hartung, seinerzeit stellvertretender Stellwerkmeister bei der Reichsbahn, gilt gemäß den Unterlagen der Staatssicherheit als Strippenzieher hinter der ausgeklügelten Flucht.

Ursächlich war allerdings ein abgebrochener Bolzen, der eine Weiche blockierte, wofür zwar Hartungs Müdigkeit während der Nachtschicht sowie eine ihm innewohnende Nachlässigkeit zur Rechenschaft zu ziehen wären, aber nicht seine vermeintlich systemkritische Gesinnung. Dies erkannten auch die Sicherheitsbehörden und entließen ihn nach vier Tagen aus der U-Haft, die Hartung als völlig ereignislos erinnert. „Ereignislosigkeit“ verträgt sich allerdings schlecht mit „historischem Vermächtnis“ und so bietet Landmann sein medial-theatralisches Talent auf, um pünktlich zum 30. Jahrestag des Mauerfalls den von der Geschichtsschreibung übersehenen Helden vom Bahnhof Friedrichstraße öffentlichkeitswirksam zu präsentieren.

Der Ruhm ist zwar unverhofft und unverdient, doch ungelegen kommt er nicht. Neben den finanziellen Annehmlichkeiten in Form von Honoraren, Werbeverträgen für eine Supermarktkette sowie gut bezahlten Auftritten und Interviews, die ein wirksames Mittel gegen die Mietschulden sind, sieht ihn die Welt mit anderen Augen. Da ist die wohlig warme Anerkennung der eigenen Tochter, aber auch alte Bekannte begegnen ihm mit neuer Bewunderung und neue Bewunderer begegnen ihm wie alte Bekannte. Selbst der Bundespräsident legt die biedere Formalia ab und betont die eigene Herkunft aus einer Eisenbahnerfamilie, weswegen er sich als „Kollegen“ des Mannes bezeichnet, „über den das ganze Land spricht“.

Hartung, Held wider Willen, weiß inzwischen recht gut mit seinem Ruhm umzugehen, wenngleich die von nahezu jeglichem Wirklichkeitsbezug befreite Geschichte nichts mehr mit der seinigen zu tun hat. Um nicht aufgrund eines schlechten Gewissens in der medialen Aufmerksamkeitsflut unterzugehen, entlastet er sich ein wenig mit dem Gedanken, dass es die eine Wahrheit gar nicht gebe, denn „[j]eder sah, was er sehen wollte, jeder verstand, was er verstehen wollte. Das Leben war ein Spiel des Erinnerns und Vergessens.“ Die Regeln kennt und beherrscht Hartung zunehmend sicherer, zumindest bis mit Paula – eine von den 127 unfreiwillig Geflüchteten – eine neue Liebe in sein Leben tritt und die notdürftig zusammengehaltenen Gewissenswunden wieder aufreißen. Warum er am Ende des Buches ein vielleicht noch größerer Held ist, als die Medien aus ihm machen wollten, darf die Leserschaft selbst bei der sehr zu empfehlenden Lektüre entdecken.

Maxim Leo gelingt in seinem Roman Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße die Quadratur des Kreises, indem er eine originelle Geschichte, die übrigens kein historisches Vorbild hat, auf gleichermaßen unterhaltsame wie intelligente Art erzählt, so dass die Medien- und Politsatire zum Lehrstück über Geschichtsverständnis und -schreibung wird.

Geschichte hat viele Gesichter und trägt noch mehr Masken; indem uns der Roman darauf aufmerksam macht, regt er zum Nachdenken über wichtige Fragen an. Wie entsteht Geschichte? Wie nehmen wir sie wahr? Welches Bild von Geschichte haben wir? Wodurch wird dieses Bild geprägt? Wie komplex ist es? Gibt es so viele Wahrheiten wie es Perspektiven auf ein historisches Ereignis gibt? Fragen, die nicht beantwortet werden, die aber zu stellen sich lohnen. Eine Einsicht darf vorweggenommen werden: Geschichte braucht Geschichten – und vielleicht verändert die Lektüre des Romans so manchen Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte.

Titelbild

Maxim Leo: Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
304 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783462000849

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