Ein Plädoyer für Besonnenheit und Mäßigung
Ron Leshems Essay „Feuer. Israel und der 7. Oktober“ bietet eine teils schwer erträgliche, insgesamt jedoch notwendige Lektüre
Von Rolf Löchel
In den 1940er Jahren ermordete die eliminatorische Vernichtungsindustrie der Nazis etwa sechs Millionen Juden und Jüdinnen. Rund sechs Jahrzehnte später, am 7. Oktober 2023 beging die islamistische Terrorbande Hamas das seitdem größte Massaker an Menschen jüdischen Glaubens. Innerhalb weniger Stunden ermordeten sie über 1200 Menschen. Im gleichen Zeitraum folterten, vergewaltigten, verstümmelten und entführten sie weitere Hunderte. Unter ihnen hochbetagte SeniorInnen, Schwangere und Neugeborene. In einem Kibbuz wurden Familienväter vor den Augen ihrer Angehörigen zunächst kastriert, dann ermordet. Frauen wurden vergewaltigt, während man ihnen zugleich die Brüste abschnitt. Ihnen wurden Nägel in die Schenkel gehämmert und Messer in den Rücken gestochen. Sie wurden an Bäume gefesselt und angezündet. Anderen wurden innere Organe bei lebendigem Leib herausgerissen, wozu die Terroristen später erklärten, „sie seien auf Grundlage des Korans ‚juristisch’ instruiert worden, Schädel zu zertrümmern und innere Organe herauszureißen“. Kindern wurden Gliedmaßen abgetrennt, andere geköpft. Auf dem Gelände eines Musikfestivals verübten die Terroristen sechs Stunden lang Massenvergewaltigungen.
Ron Leshem hat das von der Terrorbande an diesem Tag begangene Massaker auf fast fünfzig Seiten ebenso minutiös nachgezeichnet, wie das Versagen der israelischen Sicherheitsbehörden. Dazu konnte er auf etwa „sechzigtausend Videosequenzen“ zurückgreifen, die den „bisher am besten dokumentierte[n] Massenmord in der Geschichte“ in allen Einzelheiten belegen. Es handelt sich nicht zuletzt um Videoaufnahmen der Terroristen, die in arabischsprachigen Publikationen mit ihren Untaten prahlen, während sie sie zugleich in an den Westen gerichteten englischsprachigen Veröffentlichungen dementieren. Hinzu kommen Aufnahmen von Überwachungskameras und solchen, die noch von den Opfern selbst angefertigt werden konnten.
Zudem zeigt der Autor, dass selbst die schlimmsten Untaten der Islamisten keineswegs „spontane[] Affekthandlungen“ waren, sondern vielmehr planmäßig erfolgten, um die Menschen in Israel zu brechen, und ihren „Glauben an die menschliche Natur zu vernichten“. Die Terroristen versuchten ihr mörderisches Treiben, die Vergewaltigungen und Verstümmelungen vor sich selbst und ihren Gesinnungsgenossen damit zu rechtfertigen, dass sie damit den Anweisungen bestimmter Suren des Korans zum Umgang mit den in ihren Augen Ungläubigen folgten, denn „der Ansporn der wie besessenen Angreifer war religiöser Art“. Zugleich ging mit dem 7. Oktober Leshem zufolge „das bislang größte Experiment hoch entwickelter Instrumente zur Bewusstseinsformung“ einher. An der Erarbeitung der Algorithmen für die Desinformationskampagnen über die Verbrechen des 7. Oktober seien ProgrammiererInnen aus Russland, China und dem Iran beteiligt gewesen, deren „Diktaturen den demokratischen Westen aufs Kreuz legten, indem sie seinen größten Vorteil, die Meinungsfreiheit, zu einem Schwachpunkt machten“. Auch schildert Leshem ausführlich, wie der Terror vom 7. Oktober 2023 über fünf Jahre hinweg vorbereitet und mit Hilfe des Irans und anderer Diktaturen bis ins Detail geplant wurde.
Leshem hat ein zugleich hochpolitisches wie sehr persönliches Sachbuch geschrieben. So lässt er die Lesenden etwa an seinen Gefühlen während der Geiselhaft eines nahen Verwandten und nach dessen Ermordung teilhaben. Zum anderen bietet er eine ebenso scharfe Analyse und Kritik nicht nur der Hamas, sondern auch der Politik von Netanjahu und seiner Regierung sowie nicht zuletzt einen erhellenden Blick in die langjährige Geschichte des sogenannten Nahost-Konflikts. Dabei reiht er weniger die zahllosen internationalen Resolutionen, Verhandlungen und Verträge seit der Balfour-Deklaration von 1917 aneinander, sondern schildert vielmehr dessen Entwicklungsgeschichte.
Leshem prangert nicht nur die Verbrechen der Hamas an, sondern kritisiert fast ebenso sehr das Versagen der israelischen Armee und vor allem der Netanjahu-Regierung. In den Wochen vor dem Terrorüberfall wurde Soldatinnen, die die zunehmenden Vorbereitungen jenseits der Grenze zum Gazastreifen tagtäglich beobachten konnten und ihre Erkenntnisse mehrmals an ihre Vorgesetzen weitergaben, von diesen mit disziplinarischen Strafmaßen gedroht, falls sie nicht damit aufhörten, sie damit zu belästigen. Dabei war der Netanjahu-Regierung die Planung des Angriffs „seit geraumer Zeit in allen Details bekannt“. Doch hat sie ihn sehenden Auges zugelassen. In den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren vor dem Überfall wiederholte sie immer wieder, das alles seien nur großsprecherische Planspiele der Terroristen, die Hamas würde weder wagen sie umzusetzen, noch sei sie dazu in der Lage. Das Verhältnis zwischen Hamas und der „gänzlich irrationale[n] Regierung“ Israels fasst der Autor mit dem Begriff der „antagonistische[n] Interessensgleichheit“. Die besondere Schärfe seiner Kritik aber gilt Natanjahu persönlich, der den führenden Hamas-Terroristen Yayah Sinwar „als Partner [behandelte], mit dem sich Geschäfte machen ließen“, während seine „Reden an das Volk […] zu einer endlosen Aneinanderreihung von Lügen [gerieten]“. Statt Israel auf den Überfall vorzubereiten oder ihn gar zu verhindern, war er damit beschäftigt, „die Israelis gegeneinander auf[zuhetzen]“ und „die israelische Gesellschaft in Brand [zu setzen]“, um sein politisches Überleben zu sichern. Hierzu ließ er „nicht weniger als 225 Gesetze durch[]peitschen“, um „Menschenrechte einzuschränken, die Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz zu beeinträchtigen“.
Dabei herrscht in Netanjahus Regierungsbündnis mit den Ultraorthodoxen, deren „Vertreter“ etwa „verkündeten, Homosexuelle seien gefährlicher als die Hamas“, und den Nationalreligiösen keineswegs in allen Fragen Einigkeit, wie Leshem zeigt, indem er die jeweiligen politischen An- und Absichten aller darlegt. Doch zeigt der Autor auch die historischen Fehler der an ihrer „Überheblichkeit“ krankenden Liberalen und Linken auf und macht deutlich, „was letztlich die gesamte Linke für Israelis mit orientalischer Herkunft unwählbar macht“.
Doch kritisiert Leshem nicht nur die Akteure im Nahen Osten, sondern auch die nicht eben wenigen antisemitischen und den Terror der Hamas verherrlichenden Reaktionen von den USA bis Berlin. Noch während die Terroristen am 7. Oktober mordeten und vergewaltigten waren „in Boston schon Stimmen aus der amerikanischen Universitätslandschaft zu vernehmen, die das Massaker als ‚reinen Widerstand’ feierten und in Berlin wurden zur Feier des Massakers Süßigkeiten an PassantInnen verteilt. In der Folgezeit hatten „diejenigen Influencer die größte Reichweite und meisten Klicks, die bestritten, es habe überhaupt ein Massaker gegeben“. Auch „entschieden sich nicht wenige westlich-demokratische Medien dafür, den Versionen der Hamas […] nicht entgegenzutreten“, sondern sie zu verbreiten und „deren Verlautbarungen […] ungefiltert als Tatsache [zu] präsentier[en]“. Selbst wenn sie schon längst als „haltlose Lügen […] entlarvt“ waren, „dauerte es Tage bis dieselben Medien eine Richtigstellung herausbrachten“. Insgesamt stellten und stellen sie bestenfalls eine false balance her, indem sie die Darstellung der Hamas und Israels kurzerhand als gleichermaßen nicht überprüfbar behaupten, statt selbst nachzuforschen.
Leshems Aussichten für die Zukunft sind denkbar düster. So macht er einen „weltweite[n] Bund […] zwischen gutherzigen, werteorientierten Menschen aufseiten der Linken und dem islamischen Fundamentalismus“ aus, der „in den nächsten Jahren das Gesicht der Welt prägen wird“. Zudem sei es „unmöglich, „die Hamas vollständig zu besiegen“. Und selbst wenn dies wider Erwarten doch gelingen sollte, „[drohen] noch extremistischere Akteure zu erwachsen“.
Der jüdische Israeli Ron Leshem, der von sich selbst sagt, „die gemäßigten Muslime sind meine Brüder […], die Fanatiker meines eigenen Volkes hingegen sind meine Feinde“, plädiert dennoch für „Besonnenheit“ und „Mäßigung“. Denn diese vernichtet zu haben und „die Monster in uns allen zu wecken“, sei der „größte Erfolg der Hamas“.
Leshem hat eines der wichtigsten Bücher zum Hamas-Terror am 7. Oktober, seiner Vorgeschichte und seinen Nachwirkungen vorgelegt. Die Chronologie des Terrors am Tag des Überfalls ist nur schwer zu ertragen. Auch bietet Leshems Buch wenig Anlass, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Zu resignieren ist allerdings niemals eine Option.
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