Die eigenen Spielregeln schreiben

Katja Lewinas Debüt „Sie hat Bock“ macht Tabuthemen wieder salonfähig

Von Michelle HegmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michelle Hegmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das erste Date war eigentlich ganz nach meinem Geschmack gewesen: Am Anfang hatten wir sieben Gänge beim Franzosen, am Ende einen Dreier.

Kein Thema, keine Erfahrung oder Vorliebe ist Katja Lewina zu intim, um sie ihren Leser*innen in Sie hat Bock nicht anzuvertrauen. Mit viel Witz, Einfallsreichtum und einem bewundernswerten Maß an Selbstreflexion packt die Autorin aus: über kindliche Masturbation, gleichberechtigte Verhütung, Sexspielzeuge, dem Orgasm-Gap und Cunnilingus-Widerstand sowie unzählige andere Themen, die in- und außerhalb des Schlafzimmers eine Rolle spielen. Dinge, über die viele sprechen möchten, aber keiner sich so recht traut, den ersten Schritt zu wagen. Katja Lewina – deren Texte sowohl auf ZEIT ONLINE als auch im Playboy ihren festen Platz gefunden haben – klärt auf, warum das so ist und wie es Männer und Frauen schaffen können, ihre eigenen Spielregeln zu schreiben, ohne sich für sie schämen zu müssen.

Seit #MeToo im Herbst 2017 eine noch nie dagewesene weltweite Diskussion über sexualisierte Gewalt auslöste, stehen Romane und kulturwissenschaftliche Beiträge über Vergewaltigung, Feminismus und sexuelle Selbstbestimmung hoch im Kurs. Ob Linda Muzur mit Sagte sie (2018), Margarete Stokowskis Die letzten Tage des Patriarchats (2018) oder Caroline Rosales mit Sexuell verfügbar (2019): Das Streben nach sexueller Selbstermächtigung und der Enttabuisierung des weiblichen Begehrens wird immer stärker – eine Entwicklung, der der deutsch- und fremdsprachige Literaturbetrieb erfreulicherweise nachkommt.

Doch keine Autorin bricht derart begeistert mit Tabus, spricht so offen und detailliert über ihre eigene sexuelle Entwicklung wie Katja Lewina. Zu Beginn nimmt sie uns mit nach Moskau, wo sie ihre Kindheit verbrachte und früh beigebracht bekam, dass der Bereich zwischen ihren Beinen ein Tabu darstelle – über ihn zu reden, ihn zu berühren oder gar damit zu spielen sei verboten. Später fiel ihr auf, dass ihre deutschen Freundinnen als Kinder ganz ähnliche Erfahrungen gemacht und sie genauso Schwierigkeiten hatten, eine passende Bezeichnung für den „verbotenen Bereich“ zu finden. Hier schlägt Lewina die Brücke zum Paradoxon, dass in der Alltagssprache so viele Begriffe für das weibliche Genital existieren und doch keins wirklich gerne von Frauen verwendet wird – sie sind alle zu kindlich, abwertend oder einfach inkorrekt.

Am Anfang war das Wort. Und das Wort war… Es gab keins! Das weibliche Geschlecht bleibt also eine Leerstelle, die nur in Beziehung zum Penis existiert. Sprache ist ein Instrument und gleichzeitig Spiegel der Machtverhältnisse. Durch Benennung bewerten wir und verleihen Bedeutung. Mit anderen Worten: Etwas, für das es keine präzise Bezeichnung gibt, wird gesellschaftlich kaum Anerkennung erfahren. Und der Mangel an Worten macht es uns so schwer, darüber zu reden: Eins von vier fünfzehnjährigen Mädchen hat keinen Begriff auf Lager, mit dem es das weibliche Genital benennen könnte – so machen uns Sprachlosigkeit und die Scham, die sie im Gepäck hat, noch heute die Beziehung zu unseren eigenen Körper schwer.

In 27 Kapiteln bespricht die Autorin unterschiedliche Facetten der menschlichen Sexualität und klammert selbst die pikantesten Details ihrer sexuellen Biografie nicht aus. Sie räumt mit Mythen, Moralvorstellungen und Vorurteilen auf, die das spätere Liebesleben prägen und nicht selten verkomplizieren. Ihre Wortwahl: unverblümt, provozierend, witzig.  Katja Lewina bittet uns, die Doppelmoral, die in der heutigen Gesellschaft nach wie vor gelebt wird, immer wieder zu hinterfragen und zu überwinden. Denn nur so werden Selbstliebe und Freiheit möglich – das gilt für alle Geschlechter.

Analog zum Inhalt verbirgt sich unter dem Schutzumschlag des Buches eine nette Überraschung. Fotos und Zeichnungen zu Körperbildern, Sexualität und Lewinas Biografie vereinen sich zu einer besonders schönen – sowie gewohnt provokanten – Gestaltung des Hardcovers. Katja Lewina bleibt sich treu und wird dafür zurecht von ihren Leser*innen und den Medien gleichermaßen gefeiert.

Titelbild

Katja Lewina: Sie hat Bock.
DuMont Buchverlag, Köln 2020.
223 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181178

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