Ich habe ein Pferd in mir

Mit „Aber es wird regnen“ erscheint der zweite Band der „Sämtlichen Erzählungen“ von Clarice Lispector auf Deutsch

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im letzten Dezember wurde Clarice Lispector wegen ihres 100. Geburtstags in vielen Medien groß gewürdigt: Sie sei die brasilianische Virginia Woolf, eine Ikone der Feministen, so wichtig für die Erneuerung der lateinamerikanischen Erzählprosa der zweiten Jahrhunderthälfte wie Borges oder García Márquez, gemeinsam mit João Guimarães Rosa sei sie der Fixstern am Literaturhimmel ihres Landes.  Die Kritiker überboten sich mit Superlativen, und so stellt sich immer noch die Frage, wer war die Autorin, was zeichnet ihr Werk aus, denn sie sollte längst viel bekannter sein.

Über die Autorin gibt eine umfangreiche Studie von Benjamin Moser Auskunft: Clarice Lispector. Eine Biographie. Er hat auch die Sämtlichen Erzählungen herausgegeben, die deutsch 2019 und 2020 in zwei Bänden publiziert wurden.

Die Erzählungen bieten einen überzeugenden Querschnitt ihres Werkes, versammelt wurden sowohl die frühesten – da war Lispector erst  20 – wie die letzten publizierten Texte – sie starb 1977. Viele waren nur Auftragsarbeiten für Zeitungen oder Zeitschriften, kurze Chroniken, die die Autorin als Impressionen bezeichnete. Letztlich sind alle kürzeren oder längeren Erzählungen auch literarische Experimente, ein Vortasten auf neue Genres. Sie zeigen die Entwicklung ihres Stils, ihrer immer präziseren Beobachtungen, ihrer oft existentiellen Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Protagonisten sind mehrheitlich weiße Frauen der oberen Mittelschicht, natürlich ihre Dienstmädchen, die zum Hausstand dazu gehören, die Ehemänner, d.h. Lispector thematisiert vorwiegend den Alltag und die Befindlichkeiten ihrer eigenen Klasse.

Im vorliegenden zweiten Band sind die Personen oft älter, und die Autorin scheut sich nicht, sexuelle Nöte oder Lust deutlich aufzuzeigen – für ihre Zeit ein harter Bruch mit den üblichen Konventionen. Mit kurzen Beobachtungen, die sie oft in einem Satz einfängt, dringt sie ins Innerste der Menschen vor. Der wichtigste brasilianische Literaturkritiker Antônio Cândido schrieb:

Ihre unverwechselbare Qualität liegt im originellen Stil, der die Wirklichkeit in ein Bild hüllt, um eine Welt unerwarteter Bedeutungen freizusetzen. Das Alltägliche nimmt einen Hauch von Magie an, die Gefühle entfalten sich auf verschiedenen Ebenen, die Sprache scheint an den Grenzen einer anderen Welt geschaffen zu sein.

Der erste Erzählblock, Heimliches Glück, stammt von 1971. Lispector greift in der Titelerzählung vermutlich auf ihre eigene Kindheit zurück, als sie den Versuch eines hübschen, armen Mädchens schildert, von einer wenig ansehnlichen, aber wohlhabenden Mitschülerin ein begehrtes Buch ausleihen zu dürfen. Das Aussehen der Frauen wird häufiger thematisiert – vermutlich auch deshalb, weil die Autorin als hellhäutige, rothaarige Jüdin eine auffällige, quasi exotische Schönheit war. Und (nicht nur) für die damalige Zeit waren gutes Aussehen und teure Kleidung wichtig, um eine ‚gute Partie‘ zu machen. Sozialkritik scheint manchmal auf, wenn eine Protagonistin unvermittelt aus ihrer Luxusblase aussteigt und mit der ‚Realität‘ konfrontiert wird – so in Die Schöne und das Biest, eine der besten Geschichten des Bandes.

Das Alter spielt eine große Rolle in Die Abfahrt des Zuges oder Auf der Suche nach einer Würde;  die sexuelle Lust ist Thema der titelgebenden Erzählung Und es wird regnen, zugehörige Verirrungen erzählt sie in Der Klang von Schritten.  Das Spiel mit und zwischen den Geschlechtern findet sich in Er hat mich getrunken, vertieft wird es in Praça Mauá – ein sehr feinfühliger Text über Gelegenheitsprostitution und Transvestiten.

Die experimentelle Erzählung Knappe Studien zum Thema Pferde sagt viel vermutlich über die Autorin aus: „Was ist ein Pferd? Freiheit, die so unbezähmbar ist …. Ich habe ein Pferd in mir“. Gelungene Assoziationen an den Krimi finden sich in Die B-Sprache, aber natürlich gibt es auch weniger ausgereifte Texte, die z.B. an Science-Fiction anknüpfen (Miss Algrave). Der lange Text über die Hauptstadt Brasilia, der zwei Zeitmomente kombiniert, ist eine harsche Abrechnung der Autorin:  Brasilia ist ihrer Überzeugung nach ein gewaltiger Irrtum, nichts stimmt in dieser auf dem Reißbrett entworfenen Metropole. Der letzte und wieder beeindruckende Text des Bandes behandelt den Tod, Ein Tag weniger, den sie aber nicht mehr selbst vollenden konnte.

In diesen beiden Bänden kann jeder Leser fündig werden, Meisterwerke stehen neben Fingerübungen, unvergessliche Geschichten neben kleinen, dennoch starken Momentaufnahmen.  Die Stellung der Frau in Kindheit, Jugend, im Eheleben, in der Monotonie des Alltags und schließlich im Alter, ihr Aufbegehren, ihre Resignation, ihre Träume und Sinnsuche werden in unterschiedlichen Facetten aufgezeigt: man versteht, dass Clarice Lispector bis heute als Ikone der Feministen gefeiert wird. Aber sie sollte nicht auf diese Rolle reduziert werden, denn sie war und ist deutlich mehr: eine überzeugende, grandiose Schriftstellerin.

Die Freude an den beiden Bänden – das darf nicht vergessen werden – verdanken wir auch den exzellenten, subtilen Übersetzungen von Luis Ruby, der dafür ohne Zweifel einen Preis verdient. Für Band 1 war er dafür bereits nominiert auf der Leipziger Buchmesse, diesmal sollte es gelingen.

Titelbild

Clarice Lispector: Aber es wird regnen. Hg. von Benjamin Moser.
Aus dem Portugiesischen von Luis Ruby.
Penguin Verlag, München 2020.
288 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600954

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