Literarische und wissenschaftliche Geschichtsschreibung

Eine Replik zur Kritik von Michael Pilz an Volker Weidermanns und Ralf Höllers Erzählungen über die Münchner Revolution von 1918/19

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die literaturwissenschaftlich zweifellos kompetente Kritik von Michael Pilz an Volker Weidermanns und Ralf Höllers Büchern zur Münchner Revolution von 1918/19 in der Januar-Ausgabe von literaturkritik.de bietet willkommene Anlässe zu einer Debatte, deren Bedeutung über diese Bücher und diese Rezension hinausreicht. Michael Pilz hat über Ernst Toller, einen der Protagonisten der Revolution 1918/19 in München, promoviert, ist Mitherausgeber der Kritischen Ausgabe von Ernst Tollers Sämtlichen Werken und als Kenner der deutschen Literaturszene vor 100 Jahren auch sonst bestens ausgewiesen. In seiner Rezension zeigt er fundierte Kenntnisse der bisherigen Forschung und Literatur zu dieser Zeit – und kritisiert auf dieser Basis beide Bücher, vor allem das von Volker Weidermann, in einer Weise, für die das Wort „Verriss“ nicht übertrieben ist. Schon der polemische Untertitel seiner Kritik weist auf zumindest einen seiner beiden zentralen Vorbehalte: Beide Bücher „reproduzieren noch einmal“, was bereits viele andere über die Münchner Revolution von 1918/19 geschrieben haben“. Sie bieten also, zumindest dem Kenner, keineswegs „viel Neues“, wie es, eine werbende Einschätzung Hans Magnus Enzensberger zitierend, Sätze auf dem Buchrücken versprechen. Doch die Absicht beider Autoren scheint, so legt Pilz nahe, „ohnehin eine ganz andere gewesen zu sein“, nämlich „möglichst zeitgerecht die Marktsituation des anstehenden Jubiläumsjahres 2018 zu bedienen“.

Das ließe sich auch dieser Ausgabe von literaturkritik.de mit ihren Beiträgen nachsagen. Interessanter jedoch als eine Debatte über die kulturelle oder auch ökonomische Funktion von Jubiläen ist neben dem Kriterium der Innovation die Auseinandersetzung mit dem zweiten zentralen Kritikpunkt von Michael Pilz: „mangelndes Quellenbewusstsein“. Was Pilz über den Umgang beider Autoren mit den historischen „Quellen“ bei ihren Darstellungen des Revolutionsgeschehens schreibt, mag sachlich zutreffen, aber die Wertungskriterien, mit denen er diesen Umgang kritisiert, lassen sich doch in Frage stellen. Es lohnt sich auch deshalb, darüber zu diskutieren, weil es dabei um die Beziehungen und nicht selten Rivalitäten zwischen Wissenschaft und Literatur oder auch Journalismus geht. Ist es sinnvoll und legitim, literarische oder literaturnahe Darstellungen historischer Begebenheiten mit Ansprüchen zu beurteilen, die in historischen Wissenschaften gelten?

Dass kulturell oder politisch prominente Persönlichkeiten namentlich oder mit Anspielungen auf sie zu literarischen Figuren werden und dass historisches Geschehen mit literarischen Mitteln vergegenwärtigt wird, hat eine lange Tradition und ist im 21. Jahrhundert sogar wieder zunehmend beliebt. Eben erst ist Hans Pleschinskis „Roman“ Wiesenstein über die letzten Lebensjahre Gerhart Hauptmanns erschienen, vor wenigen Monaten Daniel Kehlmanns Roman Tyll über den Dreißigjährigen Krieg. Dort ist schon auf den ersten Seiten die Titelfigur präsent: Tyll Ulenspiegel. Wie ist das möglich? Der Schelm mit diesem Namen soll doch angeblich im 14. und nicht im 17. Jahrhundert gelebt haben. Wie schon in seinem großen Erfolgsroman Die Vermessung der Welt mit den Protagonisten Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß hat Kehlmann auch jetzt wieder auf jegliche Hinweise zu seinen historischen Quellen verzichtet. Ist ihm das anzulasten?

In Peter Härtlings „Romanen“ Hölderlin (1976), Schubert (1995), Schuhmanns Schatten (1996) oder der „Geschichte“ Die dreifache Maria (1983) über Mörike und seine Geliebte stehen immerhin „Quellenverweise“ oder Danksagungen mit Hinweisen etwa zur „Literatur, die mich anregte, die mir half, die ich brauchte“. Viele weitere Beispiele dieser Art aus den letzten Jahren ließen sich hinzufügen: Martin Walsers Roman Ein liebender Mann (2009) über Goethe und Ulrike von Levetzow, Walter Kappachers Roman Der Fliegenpalast (2009) über eine Lebenskrise Hugo von Hofmannsthals, Michael Kumpfmüllers Roman Die Herrlichkeit des Lebens (2011) über die Liebe zwischen Kafka und Dora Diamant, Klaus Modicks Roman Konzert ohne Dichter (2015) über Heinrich Vogeler und Rainer Maria Rilke oder Dirk Kurbjuweits Roman Die Freiheit der Emma Herwegh (2017). Sollte man in allen Fällen kritisch prüfen, wie vollständig, korrekt, zuverlässig und innovativ die dort angegebenen oder ungenannten Quellen sind oder waren?

Michael Pilz macht dies im kritischen Blick auf Volker Weidermanns und Ralf Höllers Darstellungen sehr akribisch. Und er moniert, dass hier wie schon in manchen der von ihnen benutzten Quellen „Realität und Fiktion durcheinander geraten“. Solche Vorbehalte lassen sich insofern rechtfertigen, als beide Autoren ja keine „Romane“ geschrieben haben. Allerdings weist Pilz selbst wiederholt und treffend auf die romanhaften Qualitäten der beiden Darstellungen hin. Auf „Spannung“ und „Unterhaltung“ sei es ihnen angekommen. Ihre Montagen unterschiedlichster Quellen seien „amüsant zu lesen, und natürlich ist es auch spannend, nachzuvollziehen, wie Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Josef Hofmiller, Ernst Toller oder Oskar Maria Graf ein- und dasselbe Ereignis von ihren unterschiedlichen Standpunkten aus beleuchtet haben.“ Absicht beider sei es, „den Leser durch den dauerhaften Einsatz des Historischen Präsens gleichsam mitten in den Sog der Ereignisse hineinzunehmen.“ Solche konzedierten Qualitäten werden von Pilz jedoch sogleich auch abgewertet. Gewünscht wird literaturwissenschaftlich Solideres als es die „gekonnte Literarisierung respektive deren Potenzierung in einem überdrehten ,Thriller‘ à la Weidermann leisten kann.“

Die literarischen Elemente und Ambitionen beider Revolutionsdarstellungen sind in der Tat unverkennbar. Zeichen intendierter Literarizität setzt Höller gleich im „Vorspann“ zu dem von ihm dann in Szene gesetzten „Revolutionsdrama“ mit seinem Personenverzeichnis.

In der Reihenfolge ihres Auftretens sind dies:

Kurt Eisner, ehemaliger Redakteur der SPD-Zeitung Vorwärts
Oskar Maria Graf, Gelegenheitsarbeiter und angehender Schriftsteller
Erich Mühsam, Vorsitzender der anarchistischen Gruppe „Tat“
Rainer Maria Rilke, Dichter, momentan in einer Schaffenskrise
Ernst Toller, Student, beurlaubter Frontsoldat, Friedensaktivist
Wilhelm Herzog, politischer Publizist und Zeitungsherausgeber
Lion Feuchtwanger, mäßig erfolgreicher Dramatiker
Gustav Landauer, Anarchist, als Dramaturg am Düsseldorfer Volkstheater vorgesehen
Josef Hofmiller, Gymnasiallehrer, Romanist mit einem Ruf an die Universität Köln
Annette Kolb, Schriftstellerin und Pazifistin im Schweizer Exil
Thomas Mann, politischer Essayist und Romanautor, mitten in der Arbeit am „Zauberberg“
Karl Alexander von Müller, Historiker und politischer Publizist
Heinrich Mann, politischer Essayist und gefeierter Autor des Romans „Der Untertan“
Ricarda Huch, Historikerin, auch als Romanautorin erfolgreich mit „Der Fall Deruga“
Victor Klemperer, Romanist mit Lehrauftrag an der Universität München
Ret Marut, Herausgeber der anarchistischen Zeitschrift Der Ziegelbrenner
Ernst Niekisch, Volksschullehrer, Publizist und Sozialdemokrat

Bei den Auftritten dieser Personen werden Sachverhalte, Gedanken und Emotionen geschildert, von denen man eigentlich so genau nichts wissen kann. Etwa wenn Oskar Maria Graf in der Schilderung Höllers einer Rede von Kurt Eisner zuhört: Er kommt dabei aus „dem Staunen nicht mehr heraus. Die Radikalität des Vortrags reißt ihn mit, die Offenheit der Worte lässt sein Misstrauen schwinden.“ Oder später einer Rede von Ernst Toller: „Eisners Rolle im Goldenen Anker übernimmt an diesem Abend ein etwas gehetzt wirkender junger Mann. Oskar Maria Graf ist ihm noch nie begegnet, aber von dessen flammendem Impetus und den wie im Fieber hervorgestoßenen Worten auf Anhieb ergriffen. Ernst Tollers leidenschaftliches Plädoyer reißt auch das übrige Publikum mit. Jeder spürt, dass da einer spricht, der den Schrecken in den Schützengräben am eigenen Leib erfahren hat.“

Auf Thomas Mann wiederum wirkt Ernst Toller fast so wie der Knabe Tadzio auf Gustav Aschenbach im Tod in Venedig. „Zur Kraft der Worte kommt, nicht nur bei Thomas Mann verfangend, das gewinnende Äußere: Ernst Toller, dunkle Augen, dunkles Haar, südländischer Typ […].“

Der literarische Stil, in dem Weidermann Oskar Maria Graf auf den ersten Seiten als Zuhörer Kurt Eisners schildert, ist ganz ähnlich:

Ein junger, radikaler Kriegsgegner im schwarzen Mantel und mit derben Gesichtszügen, ein Bäckerssohn aus Berg am Starnberger See, Arbeiter in einer Münchner Keksfabrik, seit einigen Wochen erfolgreicher Schwarzhändler, der Gedichte schrieb und Literaturkritiken für die „Münchner Neuesten Nachrichten“, steht jetzt auch gebannt vor Eisner und hört ihm zu. Es ist Oskar Maria Graf. Er ist mit seinem Freund da, dem Maler Georg Schrimpf, der das Titelbild zu Grafs erstem Gedichtband „Die Revolutionäre“ gemacht hat. […] Die beiden waren fast zwei Jahre lang bei den vorrevolutionären Montagstreffen im Gasthaus „Zum goldenen Anker“ in der Ludwigvorstadt gewesen, wo Kurt Eisner regelmäßig gesprochen hatte.

Über Tollers Begegnung mit Thomas Mann erzählt auch Weidermann, wenn auch mit anderen Akzentsetzungen. Höller erwähnt Tollers Besuch in Thomas Manns Villa mit den Sätzen: „Thomas Mann legt eher Wert auf den privaten Kontakt. Er lädt den feschen Studenten zu sich daheim ein, begutachtet einige seiner in der Rocktasche mitgeführten Gedichte und schreibt ihm einen aufmunternden Brief.“ Weidermann malt das etwas ausführlicher aus:

An diesem Nachmittag in Thomas Manns Villa wagt er es also, zieht ein Paar Gedichte heraus, liest und liest und Thomas Mann sagt: „Hm“. Dann nichts, dann nochmal „Hm“. Was heißt das jetzt?, fragt sich der aufgeregte Toller. Dann lässt sich Thomas Mann die Manuskripte geben, sie lesen gemeinsam jede Zeile noch einmal, er lobt, was ihm gefällt, tadelt, was er für abgeschmackt hält, und bittet den jungen Mann am Ende, ihm einige der Texte dazulassen. Toller dankt, ist glücklich, verlässt beschwingt die Villa an der Isar.

Beide Bücher sind nicht (vorrangig) für Wissenschaftler geschrieben, sondern für ein breiteres Publikum, das wissenschaftliche Veröffentlichungen selten erreichen. Die Herablassung, mit der vor einem Jahr der Spiegel-Redakteur Martin Doerry in seiner „Germanistik-Schelte“ der Literaturwissenschaft den Mangel an öffentlicher Resonanz vorhielt, sollte jedoch nicht von akademischer Überheblichkeit gegenüber „unwissenschaftlichen“ Formen der Geschichtsschreibung begleitet werden. Wissenschaftliche und literarische oder auch journalistische Darstellungsformen können sich gegenseitig anregen und voneinander profitieren, und müssen ihre Bewertungen nicht nach unterschiedlichen Kriterien erfolgen? Sind nicht wissenschaftliche Ansprüche an „faktischen Wahrheitsgehalt“ und Zurückweisungen eines Durcheinanders von „Realität und Fiktion“ fehl am Platz gegenüber Darstellungen mit unverkennbar literarischen Ambitionen? Der Kritiker Pilz wünscht sich weniger „dichterische Emphase“ und mehr „nüchternen Realitätsgehalt“. Wenn er dabei Weidermann einen „Emphatiker“ nennt, spielt er auf eine Dabatte vor gut zehn Jahren an. Anlass dafür waren Streitigkeiten um Weidermanns Buch Lichtjahre – Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Hubert Winkels hatte in einem viel beachteten und diskutierten Artikel der Zeit mit der Gegenüberstellung von zwei konträren Arten des Umgangs mit Literatur zwei Typen von Literaturkritikern unterschieden:

Wenn man die literarische Landschaft zurzeit verstehen will, ist eine Zweiteilung hilfreich: die Unterscheidung zwischen Emphatikern und Gnostikern. Die Emphatiker sind die mit dem unbedingten Hunger nach Leben und Liebe; Gnostiker sind die, denen ohne Begreifen dessen, was sie ergreift, auch keine Lust kommt; die sich sorgen, falschen Selbstbildern, kollektiven Stimmungen, Moden und Ideologien aufzusitzen. Die Emphatiker haben den Autor im Blick, sie bewerten Haltungen, Zugehörigkeiten, organisieren sie geschickt und genießen im Übrigen die Lebenskämpfe in Alltag und Politik; die Gnostiker sehen erst einmal Texte und dann frühere Texte und diese auch noch in größeren Kontexten.

Der Stil der „Gnostiker“, so lässt sich ergänzen, steht der Literaturwissenschaft näher, der Stil der „Emphatiker“ der Literatur – jedenfalls jener, die dem „neuen Pathos“ des  Expressionismus verbunden ist, der um 1918/19 den Höhepunkt seiner Popularitätskurve erreichte, bevor ihm die literarisch „Neue Sachlichkeit“ der zwanziger Jahre entgegengesetzt wurde. Der Begriff „Expressionismus“ wird in keinem der beiden Revolutionsbücher verwendet und ein Literarhistoriker müsste das eigentlich bemängeln, ist doch einer der Protagonisten des literarischen Expressionismus, Ernst Toller, die dort am meisten beachtete Figur. Beide Bücher enden mit Tollers Freitod am 22. Mai 1939, das von Weidermann mit den Sätzen:

Auch im Exil in New York hielt er weiter seine Reden, auch noch am Abend des 21. Mai 1939. Er hatte über seine Vorgänger Heinrich Heine gesprochen, über Georg Herwegh, Ludwig Börne. Und über jetzt, über die laute, unüberhörbare Stimme der exilierten Autoren: „This voice is so powerful that Hitler cannot drown it by the screams of his rage.“ Am nächsten Tag erhängte er sich in seinem Zimmer im Hotel Mayflower. Er hatte an das Gute geglaubt wie verrückt. Und er hatte gegen alle Vergeblichkeit Recht. Diese Geschichte ist nur falsch ausgegangen. Sie ist aber noch längst nicht zu Ende. Müdigkeit ist keine Option.

So emphatisch schreibt keiner in der Rolle eines Literaturwissenschaftlers. Weidermann selbst zitiert allerdings mit viel Sympathie ein Gegenbeispiel – in seiner Anfang 2015 erschienenen Rezension zur „großartigen Kritischen Ausgabe“ von Tollers Werken:

„Er stand für die Einheit von Literatur und politischem Handeln wie keiner vor ihm oder nach ihm“, heißt es im überraschenden, germanistik-untypischen, aber total berechtigten Superlativismus im Nachwort einer der Bände.

Ungermanistisch-typisch, nämlich literarisch ist der Stil Weidermanns. Das Wort „emphatisch“ verwendet er selbst, wenn er über den frühreifen, im November 1918 zwölf Jahre alt gewordenen Klaus Mann schreibt. Der „findet das alles sehr, sehr aufregend. Er formt die Zeit augenblicklich in ein Theaterstück um, das nennt er ,Bayerns Revolution‘.“ Der „kleine Dramatiker“, der „emphatisch mitfühlende Sohn des großen deutschen Schriftstellers Thomas Mann, hat die Ereignisse recht genau beschrieben.“

Das lässt sich auch dem Erzähler Volker Weidermann bescheinigen. Und durchaus auch Ralf Höller. Dessen Buch ist allerdings schon mit einigen formalen Signalen den in der Literaturwissenschaft geltenden Normen stärker verbunden und wird daher von Pilz auch positiver bewertet. Lobend hebt Pilz hervor, dass es ein Personenverzeichnis hat. Und dass Höller „zumindest dort nicht auf Stellennachweise verzichtet, wo er wörtlich zitiert, muss man ihm positiv anrechnen. Weidermann zeigt sich beim Sampeln seiner Vorlagen weitaus freier – als notorischer Emphatiker pfeift er auf jeden wissenschaftlichen Ballast. Und auf jegliche Skrupel, was die Aneignung fremden Wortlauts betrifft.“ Als ein Signal für die geradezu programmatische Zurückweisung wissenschaftlicher Ansprüche ließe sich darüber hinaus Weidermanns Literaturverzeichnis lesen. Dass hier keine Erscheinungsjahre und -orte angegeben sind, würde man keiner literaturwissenschaftlichen Proseminararbeit durchgehen lassen.

Aber Weidermanns Revolutionsgeschichte ist eben – entschiedener als die von Höller – eine literarische und keine wissenschaftliche und daher doch wohl nach anderen Kriterien zu beurteilen als nach wissenschaftlichen. Wären hier beispielsweise Fußnotenzahlen hinter wörtlichen Reden und die Zitatbelege dazu nicht eher ein ästhetisches Manko? Wäre beispielsweise Alfred Döblins Revolutionsroman November 1918 mit Zitatbelegen, Literaturverzeichnis und fundierterem Umgang mit den Quellen besser geworden? Der Vergleich hinkt, weil Weidermanns Buch eben kein Roman ist. Aber die alten Debatten und späteren Reflexionen zur Konkurrenz (wie Kooperation) zwischen wissenschaftlicher Historiographie auf der einen Seite und Historischem Roman und Drama oder auch literarischer Biographik auf der anderen wären ebenfalls im Blick auf solche Geschichtsdarstellungen, wie sie Weidermann und Höller vorgelegt haben, wieder aufzunehmen und zu erweitern. Dem Literaturwissenschaftler Michael Pilz ist zu danken, dass er mit seiner entschiedenen und fachlich fundierten Kritik an ihnen zu dieser Debatte provoziert.

Sie betrifft heute nicht zuletzt die Kontroversen zum Stellenwert der Personen, Institutionen und Medien in einer auch nach den Wiederbelebungen des von der Literaturwissenschaft lange Zeit totgesagten „Autors“ weitgehend textfixiert gebliebenen Philologie. Die Lektüre von so anschaulichen und lebensnahen Büchern wie denen Weidermanns oder Höllers ist dazu geeignet, Literaturwissenschaftlern die Augen zu öffnen für Aspekte der Vergangenheit, die sie vielfach systematisch von sich fern halten.

Titelbild

Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
283 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462047141

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ralf Höller: Das Wintermärchen. Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/1919.
edition TIAMAT, Berlin 2017.
287 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783893202218

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