‚Fake News‘ in der Astronomie
Ein früher Roman von Richard Adams Locke liegt in einer Neuausgabe vor
Von Ulrich Klappstein
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnter der Überschrift „The Great Moon Hoax“ wurde am 21. August 1835 in der New Yorker Zeitung The Sun eine Serie von Zeitungsartikeln angekündigt, um über weitere „himmlische Entdeckungen“ Sir John Herschels (1792–1871) am Kap der Guten Hoffnung zu berichten. Der Sohn des hannoverschen Astronoms William Herschel (1738–1822) hatte dessen Arbeit zuerst in London, ab Januar 1834 auch mit astronomischen Beobachtungen in Kapstadt fortgesetzt. Im gleichen Jahr war seine Abhandlung Treatise on Astronomy (London 1833) auch in Philadelphia erschienen, in der er darüber spekuliert hatte, wie mit stark verbesserten Teleskopen sogar Anzeichen von Leben auf dem Mond entdeckt werden könnten. Er berief sich dabei u. a. auf Aussagen Johann Hieronymus Schroeters, dem früheren Briefpartner seines Vaters, der an der Sternwarte Lilienthal bei Bremen das größte Teleskop seiner Zeit betrieben hatte. In seinen Selenetopographischen Fragmenten (1791) hatte er geschrieben, dass man allein aus der unwirtlichen Natur und der fehlenden Atmosphäre auf dem Mond nicht zwingend auf seine Unbewohnbarkeit schließen könne.
Die amerikanische Zeitung The Sun berief sich auf diese vertrauenswürdigen Quellen und veröffentlichte auf der Grundlage einer älteren Beilage des Schottischen Edinburgh Journal of Science, dessen Erscheinen jedoch schon seit 1833 eingestellt war, sechs zusammenhängende Artikel über eine Entdeckung, „die dem gegenwärtigen Zeitalter ein unvergängliches Denkmal setzen und unsere Generation des Menschengeschlechts für alle Zeiten auszeichnen“ würde. Der jüngere Herschel habe „Objekte auf dem Mond“ nunmehr mit einer großen Präzision beobachten können und damit die Frage, „ob unser Trabant bewohnt ist“, positiv beantwortet. Dr. Andrew Grant, der Assistent John Herschels am Kap der Guten Hoffnung, habe die Fachwelt mit den entsprechenden Informationen versorgt. Die Sun druckte zum Beweis für Herschels Entdeckungen nun auch Kupferstiche mit „lunaren Tieren“ und anderen Objekten ab, deren Kenntnis „für die Glaubwürdigkeit des Ganzen“ unentbehrlich seien.
Vom 25. bis zum 31. August folgten weitere, mit Zeichnungen und mathematischen Berechnungen versehene Berichte über neueste astronomische Fakten, Die Sun verkündete jedoch mit dem Hinweis auf die enormen Kosten, die eine weitere Veröffentlichung „ohne entsprechenden Gewinn für das allgemeine Interesse“ für den Verlag mit sich bringen würde, das Ende ihrer Berichterstattung. Mit dem Abstand von 14 Tagen schob die Redaktion dann aber doch noch eine Meldung nach, die den Abdruck der vorausgegangenen Artikelserie humorvoll rechtfertigen sollte. Man habe, obwohl es viele Leser gebe, die Herschels Entdeckungen für einen Schwindel hielten, mit einem Bericht über die vorgebliche „Harmonie der Mondbewohner“ die „öffentliche Meinung für eine Weile von jenem bitteren Zank“ ablenken wollen, der im Jahr 1834 in Großbritannien um die Abschaffung der Sklaverei entbrannt sei. Im Übrigen habe man sich gegen einen „berüchtigten Ausländer“ zur Wehr setzen müssen – der Schotte James Bennett hatte 1835 den New York Herald, das größte Konkurrenzblatt der Sun, gegründet. Jedoch solange keine weiteren Berichte englischer oder schottischer Zeitungen vorliegen würden, sehe man keinen Grund, „mit der Wahrheit herauszurücken“.
Rolf Schönlaus Neuübersetzung des Textes The Moon Hoax or A Discovery That the Moon Has a Vast Population of Human Beings, den angeblich der Autor Richard Adams Locke verfasst hatte und der vom New York Herald schon früh als Fake enttarnt worden war, lässt auch Frank M. O’Briens späteren Bericht The Story of the Sun, 1833–1918 einfließen. In der Ausgabe des Wehrhahn Verlags wurde diese erste große Zeitungsente der Pressegeschichte um Zeitzeugenberichte weiterer Journalisten und Autoren ergänzt, die in amerikanischen Medien ab 1837 erschienen sind. Ertragreich für das Verständnis des journalistischen Schwindels ist auch der Abdruck einer Rezension von Edgar Allan Poe aus dem Jahr 1846. Poe hatte sich nach der Lektüre von John Herschels Treatise on Astronomy für die Möglichkeiten künftiger Monderkundungen zu interessieren begonnen. Dann habe er seinen „Tagträumen“ über Mondlandschaften „freien Lauf“ gelassen und die Erzählung Hans Pfaall im Southern Literary Messenger veröffentlicht. Einen Zusammenhang mit Lockes Artikelserie jedoch sehe er nicht. Zu lesen ist außerdem ein Brief Sir John Herschels, den er der deutschen Zeitschrift Athenaeum schon im Jahr 1836 zukommen ließ, der aber nicht abgedruckt worden war und erst 2001 von seinen Nachkommen wieder entdeckt worden ist.
Schönlaus Nachwort kommentiert nicht nur die abgedruckten Dokumente kenntnisreich, sondern setzt sich literaturwissenschaftlich fundiert auch mit den um 1700 aufgekommenen Schriften um ein ›Multiversum‹ auseinander. Es geht auch um die neuerliche Debatte um das Phänomen fake news, das die Leserschaft mit ihrem Hunger nach technologischen Visionen seit jeher in Bann gezogen hat. Mit dieser vierten Veröffentlichung nach Johan Krooks Gedanken über die Gestalt der Erde oder Fonton Fremassons Abenteuer, Francis Godwins Der Mann im Mond und Eberhard Christian Kindermanns Die Geschwinde Reise auf dem Lufft=Schiff nach der obern Welt hat der Wehrhahn Verlag seiner Reihe „Weltraumreisen“ einen weiteren verdienstvollen Markstein hinzugefügt.
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