Reisen in akademische Vergangenheiten

Gerhard Lohse portraitiert den klassischen Philologen Bruno Snell, Professor an der Hamburger Universität (1931-1959)

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mancher unter seinen Schülern war beeindruckt von der Ungezwungenheit, von seinem Kleidungsstil und der unprätentiösen Art, in Lehrveranstaltungen aufzutreten. Zu Vorlesungen sei er mit einem klassischen Text in der Hand gekommen, ein paar Zettel im Jackett, habe „mit Vorliebe“ auf der ersten Bank Platz genommen und die Beine baumeln lassen, erinnert sich ein Kollege, habe einzelne Abschnitte übersetzt und die „Bedeutung bestimmter Wörter aus dem Zusammenhang“ erklärt. Von „unprätentiöser Sprache“ und „elegantem Rollkragenpullover“ schwärmt ein anderer, der in den sechziger und frühen siebziger Jahren als Assistent und Dozent in Hamburg tätig war. Professoralem Habitus war der Gewürdigte offenbar nicht zugeneigt, Unterhaltungen mit den Studenten hingegen schätzte er. Schon das zeigt, dass er ein – in Grenzen – unkonventioneller Akteur war. Dazu passte, dass er nicht nur Kunst und Kunstgeschichte liebte, sondern auch ein begabter Karikaturist war. Davon zeugen die vielen Köpfe, die er leicht und locker dahinstrichelte, darunter der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan, Melvin J. Lasky, der Herausgeber der Kulturzeitschrift „Der Monat“, der Hamburger Germanist Ulrich Pretzel, Sebastian Haffners Bruder, sowie – neben etlichen weiteren – der Schriftsteller Hermann Kasack.

Die Rede ist von Bruno Snell, Professor für Gräzistik an der Universität Hamburg, dem Gerhard Lohse, auch er ein Angehöriger des dortigen Seminars für klassische Philologie, eine eindrückliche, abwägend argumentierende, sich nicht in akademischem Klein-Klein verlierende Studie widmet. Diese stützt sich unter anderem auf zwei unvollständige autobiographische Manuskripte im Nachlass, die der Autor zu einer veritablen, nirgendwo ausufernden Lebensgeschichte ausbaut. Aufgewachsen in einer Familie mit liberalen Traditionen, besuchte der junge Snell das humanistische Gymnasium in Lüneburg, wo der Vater als Psychiater wirkte, machte im Frühjahr 1914 Abitur, wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, widmete sich in Edinburgh dem Studium der Rechte und der Politischen Ökonomie und wurde im September als „enemy alien“ auf der Isle of Man interniert. Dort blieb er bis Januar 1918 und kehrte nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands über die Niederlande nach Deutschland zurück. Immerhin, während des Zwangsaufenthalts konkretisierte sich sein Berufswunsch. Er wollte „Pauker“ werden und entdeckte in sich, wie er 1917 seiner Cousine schrieb, „eine stille Sehnsucht zum Altphilologen“.

Nach einem Zwischenspiel bei einer der Garde-Divisionen und Militärdienst im Baltikum entschied sich Snell für das zivile Leben und nahm das Studium der Klassischen Philologie in Berlin, München und Göttingen auf, wo er 1922 mit einer Untersuchung über „Ausdrücke des Wissens in der vorplatonischen Philosophie“ promoviert wurde. Im Jahr darauf begann er mit dem Referendariat an einem Gymnasium in Hamburg-Wandsbek. Die Herbstferien nutzte er gemeinsam mit Kommilitonen der Agrarwissenschaft für eine Reise nach Sowjetrussland. Unverkennbar dabei war der Versuch, ohne sonderliches Arg die strategischen Absichten zu entschlüsseln, von denen das Regime sich leiten ließ. Das hieß unter anderem, die Eindrücke beim Besuch einer Ausstellung in Moskau zusammenzufassen und die landwirtschaftliche Praxis im Blick auf den Einsatz der „modernen Technik“ als Element des „Fortschritts“ und Abschied von vorsintflutlichen Methoden der bäuerlichen Bevölkerung zu würdigen.

So wohlwollend blieb das Urteil nicht. Weder für ganz rechts noch für ganz links hegte Snell Sympathien. Damit dies auch das Gehör der Öffentlichkeit und sei es nur das der akademischen Gemeinschaft finden konnte, bedurfte es eines Lehrstuhls. Auf den wurde er im April 1931 berufen. An der Hamburger Universität lehrte und forschte er bis zur Emeritierung im März 1959. Auf renommierte Positionen im In- und Ausland zu wechseln, lehnte er – trotz mehrfacher Gelegenheit – ab. Das waren Indizien für das Prestige, das er sich erworben hatte. Binnen kurzem hatte er sich in der Elite der klassischen Philologie etabliert. Das galt für die nationale ebenso wie für die internationale Ebene. Sichtbar wird ein tiefes Bedürfnis nach Kontinuität. Begünstigt wurde dies von einem vergleichweise milden Klima im Seminar, das von Interventionen der Machthaber nur wenig belästigt wurde.

Gewisse Gestaltungsräume boten sich Snell insofern auch unter den Bedingungen der NS-Herrschaft. Sehr eingeschränkt waren allerdings die Möglichkeiten, sich gegen die Zumutungen der braunen Obrigkeiten offen zur Wehr zu setzen.  Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, erlassen am 7. April 1933, büßte die Philosophie Fakultät, wie Lohse notiert, „fast ein Fünftel ihrer Mitglieder“ ein. Für Snell hatte dies zur Konsequenz, dass er seinen „gesamten jüdischen Freundeskreis“ verlor. Die Kollegenschaft nahm die Repressionen regungslos hin. „Einigkeit“ über eventuellen Protest, erklärte Snell im Nachhinein, habe man nicht „erreichen“ können. Und erklärend, auch entschuldigend, fügte er hinzu: „Es war eine Zeit, aus der mit weißer Weste nicht herauszukommen war“. Indes, im Seminar habe niemand mit „Heil Hitler“ gegrüßt. „Dozenten und Studenten“ hätten sich „in enger Freundschaft“ zusammengeschlossen, und mancher sei „von auswärts“ gekommen, geleitet vom Interesse an „sauberer Wissenschaft“. Lohse spricht zusammenfassend von „politischer Idylle“, ein Bild, das für uns Heutige doch etwas befremdlich wirkt.

Bereits vor 1939, so der Autor, sei Snell daran gegangen, Vorbereitungen für die Epoche nach dem Ende des Krieges zu treffen. Im März 1938 übernahm er den Vorsitz der Hamburger Ortsgruppe der Deutsch-Griechischen Gesellschaft, die 1942 einen Rezitationsabend mit Sappho-Versen veranstaltete, der „als Aufruf zur Humanität“ wahrgenommen worden sei. Zwei Jahre später gründete er die immer noch existierende Zeitschrift „Antike und Abendland“, die sich als „Forum für eine fächerübergreifende Diskussion von Themen aus dem Bereich der Antike und ihrer Wirkungsgeschichte“ verstand. Parallel dazu rief Snell das Archiv für griechische Lexikographie ins Leben. Eine Gruppe von Professoren traf sich überdies regelmäßig jeweils in einer ihrer Privatwohnungen. Dort war man bestrebt, Wissenschaft jenseits politischer Eingriffe zu diskutieren. Das begriff man als eine Art von Opposition. Widerstand im buchstäblichen Sinn des Wortes war das nicht, eher trifft der Begriff Widerständigkeit zu: eine Haltung, eine Mentalität, um sich die Repräsentanten und die Ideologien des Regimes vom Leib zu halten.

Snell war bemüht, den Faden zwischen griechischer Antike und Gegenwart nicht zu verlieren, ihn vielmehr stets von Neuem zu knüpfen. „Politische Erfahrung“ stand insofern in enger Verbindung mit der Geisteswissenschaft. Das Bewusstsein für die antike Welt als Ursprung des Abendlandes zu schärfen, war zentrale Maxime für ihn. „Die alten Griechen und wir“ war das „Generalthema, das sich zeitlebens durch Snells Denken und Forschen“ gezogen habe, resümiert Lohse. Der Protagonist seiner Studie war interessiert, ein „breiteres Publikum“ und nicht nur die Fachgenossen zu erreichen. Auf diese Weise hoffte er, die Universität mit dem Gemeinwesen zu verbinden. Die Geisteswissenschaften sollten „nützlich“ sein, und zwar „als Impulsgeber für eine aufgeklärte, humane und demokratische Gesellschaft.“ Die Besinnung auf die griechische Kultur hatte „praktische Orientierungshilfe“ zu leisten, was „kritisches politisches Denken und politisches Verhalten“, so die Formulierung des Autors, ausdrücklich einschloss.

Dies war einer der Bausteine, welche den deutschen Universitäten nach den moralischen Verwüstungen der NS-Diktatur neue Reputation, wissenschaftliche Anerkennung und Überwindung der Isolation bringen sollten. Und das hieß zugleich, dass in Snells Augen der Stubengelehrte ein Typ von gestern, Repräsentant einer Vergangenheit war, die es zu begraben galt. Man kann ahnen, womit er in einer der letzten Veranstaltungen sein Publikum traktiert hat – ein Kolloquium, das die Frage diskutierte: „Warum und wie studiere ich klassische Philologie“.

Zur Aufgabe, das in der nationalen wie der internationalen akademischen Welt zerstörte Vertrauen wiederzuerringen, gehörte die entschlossene Trennung von belastetem Personal, will sagen: eine gründliche Entnazifizierung, außerdem eine Reorganisation der Universität, deren Lehre nicht allein akademisch fundiertes Spezialistentum generieren, sondern aktiv „Erziehung zur Demokratie“ betreiben sollte. Dass derartige Überzeugungen nicht jedermanns Sache waren, dass sich hier „weite Kreise“ der Kollegenschaft als engherzig und „weltfremd“ entpuppten, zumal befangen in sozialen Vorurteilen, hat Snell, wie er rückblickend schrieb, seiner „Fakultät entfremdet.“ Das freilich hat ihn nicht dazu bewogen, das Engagement für ein künftiges, von „besseren Prinzipien“ geleitetes, namentlich von der jüngeren Generation getragenes Europa fahren zu lassen. Dies alles noch einmal ins Bewusstsein gerufen, nicht zuletzt die Leserschaft in ferne, weithin vergessene akademisches Gefilde mitgenommen zu haben, ist ein unschätzbares Verdienst von Lohses Buch.

Titelbild

Gerhard Lohse: Bruno Snell (1896–1986). Geisteswissenschaft und politische Erfahrung im 20. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
320 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783835354081

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