Ein enthusiastischer Literaturliebhaber mit geselligem Verkehr

Dietrich Lückoffs literarische und kulturgeschichtliche Biographie über den sonderbaren Sammler und ‚Frühgermanisten‘ Karl Hartwig Gregor von Meusebach (1781-1847) und seine gelehrten Freundeskreise

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ist vermutlich das schönste Buch, das einem Gelehrten aus der germanistischen Frühzeit je gewidmet wurde. 32 farbige und 79 Schwarzweißabbildungen zeigen den Freiherrn von Meusebach, seine Verwandten und Freunde, seine Wohnsitze, seine Briefe, Gedichte und vieles mehr: ein orbis pictus aus der Welt der Gebildeten vom Ende des 18. bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Auf 570 Seiten wird das Leben Karl Hartwig Gregor von Meusebachs geschildert, in zahllosen, langen, häufig bislang unbekannten Dokumenten, die durch kenntnisreiche Texte des Verfassers Dietrich Lückoff verbunden sind: eine satte, fast überreiche kulturgeschichtliche Biographie.

Karl von Meusebach, geboren am 6.6.1781 in Neubrandenburg, studierte in Göttingen und Leipzig Jus und trat 1803 in den preußischen Staatsdienst ein als Canzleiassessor in Dillenburg. 1804 mit Ernestine von Witzleben verheiratet, wurde er nach der napoleonischen Besetzung zunächst Vorsitzender des Berufungsgerichts in Koblenz, darauf Geheimer Oberrevisionsrat beim rheinischen Revisionshof in Berlin, dem er bis zu seiner Pensionierung 1842 präsidierte. Er zog sich auf das erworbene Landgut Baumgartenbrück bei Potsdam zurück, wo er 1847 starb.

Meusebach lebte in einer Zeit, in der „die Literatur das wesentliche Interesse des deutschen Geistes ausmachte“, wie der Germanist Friedrich Zarncke behauptete. Schon als Jugendlicher wurde Meusebach von der Liebe zur Literatur und einer tiefen heftigen Neigung zu Jean Paul erfasst, die sein Leben, seine Schriften und deren Stil lebenslang prägten. In Koblenz verkehrte er in Gebildeten- und Schriftstellerkreisen, lernte Joseph Görres kennen, der ihn mit Friedrich Perthes und Wilhelm Grimm bekannt machte; in Berlin wurde er Mitglied der Gesetzlosen Gesellschaft, die seinerzeit die geistige, militärische und künstlerische Elite in Berlin vereinte. In seinem Hause verkehrten u.a.  Gneisenau, Clausewitz, Hegel, Savigny, Achim und Bettina von Arnim.

Die auffälligste Eigenschaft Meusebachs war die Lust an sich selbst, die sich im geselligen Verkehr spiegelte, sowie ein das Zeittypische übersteigender und sich kaum Genüge tuender Hang zur Selbstbeobachtung, der sich in zahllosen Kollektaneen, Tagebüchern, Aufzeichnungen und Traumprotokollen bekundete. Seine Liebe zur Literatur vergegenständlichte sich in einer Sammelleidenschaft für Bücher, Autographen und Dokumente, die bald einen wissenschaftlichen Charakter annahm. Wilhelm Scherer zählte Meusebach „zu den vornehmen Dilettanten, welche den wissenschaftlichen Begründern der altdeutschen Philologie begünstigend, theilnehmend, helfend zur Seite standen; und er beherrschte sein eigenes Gebiet unumschränkt als ein großer Kenner und wahrer Gelehrter: die deutsche Litteratur des 16. und 17. Jahrhunderts und der benachbarten Zeiten.“ In Berlin nahm Meusebach Kontakt zu bedeutenden Germanisten seiner Zeit auf: zu Hoffmann von Fallersleben, Moriz Haupt und Karl Lachmann, vor allem aber zu den Brüdern Grimm, mit denen Meusebach nach einem Besuch in Kassel bis zu seinem Tod korrespondierte. Gegenstand der Korrespondenz waren neben dem geselligen Austausch und dem Bücherverkehr vor allem Meusebachs wissenschaftliche Pläne. Er hatte seine Liebe zu Jean Paul auf Johann Fischart übertragen, dessen Drucke und Werke er mit dem Ziel der Vollständigkeit unnachgiebig sammelte, um sie, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen, eines Tages kritisch zu edieren. Daneben trug er sich mit Überlegungen unter anderem zu einem Luther-Wörterbuch, einer Geschichte der deutschen Volkslieder des 15. und 16. sowie zu einer Sammlung der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. All diese und andere Vorhaben kamen über das Stadium gründlich ausgedehnter Vorarbeiten nie hinaus; veröffentlicht wurde – sieht man von wenigen Rezensionen ab – keines von ihnen. Das Sammeln blieb Meusebachs liebste und – neben dem juristischen Alltag – seine Hauptbeschäftigung. „Er sammelte zu seinem Werke mit einer Liebe, die ihn von der Ausführung desselben entfernte“ (F.H. Jacobi). So wuchs, gleichsam als sein „Hauptwerk“, die riesige Bibliothek heran, die – nicht zuletzt auf Drängen Bettina von Arnims und Freunden Meusebachs – nach seinem Tode für 40 000 Taler der Königlichen Bibliothek in Berlin einverleibt und für die Forschung zur Literatur des 16. und 17. Jahrhundert zum unentbehrlichen Hilfsmittel werden sollte.

Jacob Grimm nannte Meusebach, der als gutmütig, verletzlich und jähzornig galt, einen „der liebenswürdigsten und sonderbarsten menschen“. Meusebach liebte den entstehenden wissenschaftlichen Verkehr so heftig wie er unter ihm litt. „Soviel Freude auch der literarische Betrieb abwirft, dem wir uns gewidmet, so viele Leiden gibt mir doch auch die Erfahrung, dass gerade dieser Betrieb, die Erforschung des Alterthums, gar zu leicht kleinlich eigensüchtig, folglich sehr bald kalt und untreu macht. Die Leute stiften gelehrte Vereine und Forschungsgesellschaften und sind nicht im Stande, mit denen sich vereint und treu zu halten, die sie selbst erst suchten, da sie eben sie brauchten. An dem ist nun nichts mehr schuld als das verfluchte zweckverfehlende Streben, nur recht schnell berühmt zu werden, wozu – wie sie meinen – nothwendig ist, dass immer nur etwas mit ihren Namen gedruckt werde.“ Im Grunde genommen war Meusebach mit seinem Leben jedoch zufrieden; er dachte nicht gering von sich und versorgte, um der Nachwelt ein gerechtes Bild seiner selbst zu schenken, Moriz Haupt schon zu Lebzeiten mit autobiographischen Mitteilungen und Darstellungen: Haupt sollte seine Biographie schreiben. Er tat es nicht.

Über all diese Dinge und noch unendlich viel mehr informiert mit zahllosen Dokumenten die vorliegende Biographie in großer Breite und Tiefenschärfe. Wie sein Protagonist Meusebach ist Lückoff ein Anhänger der jeanpaulischen Erzähl- und Schreibweise. Dass sie ihrem Gegenstand kongenial ist, ist das Schönste und Ernüchterndste, was man über Lückoffs literarische Biographie sagen kann. Der Verfasser ist 2014 über seinem Werk gestorben, Kollegen und Freunde aus der Berliner Grimm-Sozietät haben sich bemüht, aus der unvollendeten Biographie ein wissenschaftliches Buch zu machen. Der Wert dieses Buchs für die Kulturgeschichte ist nicht zu unterschätzen, für die Wissenschaftsgeschichte ist er begrenzt. Es fehlt ein Überblick über die Situation der germanistischen Forschung und der Bibliothekswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts, insbesondere auch zur Problemsituation der wissenschaftlichen „Dilettanten“ in der sich herausbildenden akademischen Disziplin. Es fehlt ein Überblick über die nicht unbeträchtliche Forschung zu Meusebach zwischen dessen Tod und dem 21. Jahrhundert, es fehlt an Informationen über den juristischen Alltag Meusebachs, der sein Leben weithin bestimmte. Einen Anschluss an die wissenschaftliche Kommunikation bietet das Buch nur in den Fußnoten und im Anhang.

Lückoffs Biographie trägt den Titel Aus dem Leben und Kleben des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach. Das „Kleben“ bezieht sich auf eine Erfindung, die Meusebach auf dem Gebiet der komischen Literatur machte. „Er hat die epistolarische ‚Dichtungsart‘“, schrieb Wilhelm Scherer, „durch den Begriff des ‚Klebebriefs‘ erweitert; und dies ist etwas so verrücktes, daß keine gedruckte Publication davon auch nur ein annäherndes Bild gewähren kann. Meusebach besaß eine reiche Sammlung von komischen und seltsamen Ausschnitten aus Zeitungen und untergeordneten Druckwerken. […] Und diese schätzbaren Materialien verwendete er für seine Briefe, indem er jene Ausschnitte entweder seinen eigenen Sätzen einfügte oder ganze Seiten lediglich daraus componirte. Der Eindruck der verschiedenen Zettel mit ihrem bunten Druck und Papier und der Gedankenzerrbilder, welche mit solchen Mitteln hergestellt werden, die Anschauung eines so gänzlich unzweckmäßigen, mühsamen, zeitverschwendenden, aber durch und durch lustigen Treibens, verbunden mit dem scurrilen, anspielungsreichen, auf unaufhörliche Ueberraschung berechneten Stil ist über alle Beschreibung spaßhaft. Voll wunderlicher und origineller Späße war Meusebach auch im Leben.“

Titelbild

Dietrich Lückoff: Aus dem Leben und Kleben des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2020.
XX und 644 S., 32 unpag. Farbtafeln, 79 SW-Abb., 92,00 EUR.
ISBN-13: 9783777626321

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