Emanzipation und Modetrend

Helga Lüdtke beleuchtet Facetten des „Bubikopfs“ im 20. Jahrhundert

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friseuren wird nachgesagt, sie würden mit Begeisterung aus jedem Haar eine Frisur zaubern. Dass sie sich mit dem Bubikopf schwertaten, mutet zunächst befremdlich an. Aber das gehörte zur kulturellen und politischen Realität der 1920er Jahre. Deutschland hatte den Krieg verloren, eine Revolution und die anschließenden Bürgerkriege durchlitten. Sofern die Menschen über gespartes Geld verfügten, war es am Ende der Hyperinflation perdu. Die Demokratie, eine Frucht der Niederlage, war instabil, bedroht von linken wie rechten Umsturzversuchen. Im Herbst 1923 hatte sie in den Abgrund geschaut, wurde mit der Reform der Währung notdürftig stabilisiert und gewann eine nur kurz währende Atempause.

Die Gesellschaft machte einen durchgerüttelten Eindruck, uneins mit sich und den Gegebenheiten der Nachkriegsverhältnisse. Krisenerfahrungen und Aufbruchsstimmungen lagen dicht nebeneinander. Neue Medien, Film, Radio und Illustrierte, erreichten ein Massenpublikum, propagierten Leitbilder, befriedigten Bedürfnisse nach Zerstreuung und setzten Trends. Zum ersten Mal in der Geschichte verfügten nun die Frauen über passives und aktives Wahlrecht. Sie wurden sichtbarer, ein politischer Faktor von Gewicht, gleichwohl in den Arenen der Politik unterrepräsentiert, nach wie vor auch abhängig vom Votum der Männer, der Väter ebenso wie der Ehegatten.

Zuvor recht starre Geschlechterordnungen wurden nicht revolutioniert, aber doch flüssiger. Der Paternalismus verschwand nicht über Nacht, Frauen jedoch wurden offensiver, bestrebt, sich aus männlichen Vormundschaften zu lösen. Zu den Zeichen, die das zum Ausdruck brachten, gehörte der Bubikopf, zunächst „Bubenkopf“ genannt, dem Helga Lüdtke ein facettenreiches, informatives Buch gewidmet hat. Sich die Haare abschneiden zu lassen, interpretiert sie als demonstrativen Akt, als Signal, sich nicht länger männlichen Schönheitsvorstellungen und Attraktivitätsregeln zu unterwerfen. Friseure benötigten geraume Zeit, ehe sie die nötige Schnitttechnik für die aus Paris nach Deutschland herüberschwappende Mode beherrschten und bereit waren, den Wünschen ihrer Kundinnen nachzukommen.

Die einen beschworen finanzielle Verluste, da die neue Frisur weder profitträchtige Haarteile noch aufwendiges Ondulieren benötigte, andere wiederum witterten glänzende Geschäfte. Auch von ästhetischen, ja von ethischen Bedenken war in der Deutschen Allgemeinen Friseur-Zeitung zu lesen, dem Zentralorgan des Gewerbes. Dass sich konservative und völkische Kulturkritiker des Themas bemächtigten, wundert kaum. Für sie war die neue Damenfrisur des Teufels, jedenfalls undeutsch und verdammenswert. Unter Nationalsozialisten lief der Spruch um: „Arisch ist der Zopf, jüdisch ist der Bubikopf.“

Helga Lüdtke beschränkt sich jedoch nicht darauf, allein das Pro und Contra zu registrieren. Vielmehr greift sie erheblich darüber hinaus und spannt weite, bisweilen überraschende Bögen. Da sind zunächst die Textil- und Kosmetikindustrien, die Werbegrafiker und Werbetexter, vor allem die Magazine und die Beilagen in den Zeitungen, die sich eigens an die Frau richteten, darunter die Illustrierte Zeitung oder Die Dame. Sie waren es, die den Bubikopf anpriesen und mit anderen Attributen mischten, Hoffnungen weckten und Erwartungen bedienten. In einer Anzeige für Shampoo zum Beispiel hieß es: „Sport, Mode und Bubikopf machen die Frauen jünger.“ Das gehörte zum Signalement der „neuen Frau“, die in den zwanziger Jahren die Großstädte bevölkerte, ein Frauentypus, der beim Publikum ebenso Abscheu wie Bewunderung weckte.

In dem Maß, wie die Zahl der erwerbstätigen Frauen zunahm, wurde Schönheit, wie die Autorin zeigt, zum „sozialen Kapital“. Frauen mit angenehmen Umgangsformen und gutem Aussehen hatten es auf dem Arbeitsmarkt leichter. Dass man dafür etwas tun konnte, suggerierten die Anzeigen der Kosmetikindustrie. Eine Leipziger Firma plakatierte einen sorgsam zurechtgemachten Frauenkopf mit Kurzhaarfrisur, darunter die Verheißung: „Sei schön durch Elida“. Das war einer der Slogans, die Lüdtke zitiert. Ein anderer: „Schönheit wird nicht allen geschenkt, man muß sie erwerben, um sie zu besitzen“. Schön sein kann jede, lautete die Botschaft, wenn sie nur die richtigen Produkte benutzt, um sich herauszuputzen, dabei die Männerwelt ebenso wie die eigenen Geschlechtsgenossinnen zu beeindrucken. Schönheit und Erfolg galten als Zwillinge, beides zu erreichen waren Ergebnisse kontinuierlicher Arbeit.

In derartigen Strategien offenbarten sich die Ambivalenzen des neuen Frauentyps. Zum einen wurde darin das Bedürfnis sichtbar, Konventionen über Bord zu werfen, sich (in durchaus wörtlichem Sinne) aus dem Korsett von Schicklichkeitsregeln zu befreien, Wege zur Emanzipation von männlichen Erwartungen und männlichem Begehren zu beschreiten. Zum andern aber waren Kurzhaarfrisur, gekürzte Röcke, Glockenhüte, schmale Silhouetten, unprätentiöser Stil und dazu passender Schmuck Modeerscheinungen. Die damit ausgedrückten Schönheitsideale wurden von den Trendsettern in den Journalen ausgemalt und durch Filmstars verstärkt, die rasch zu Ikonen aufgestiegen waren. Daraus resultierte nicht unbedingt ein Mehr an Individualität, Ausstrahlung, Distinktions- und Imagegewinn, sondern ein gewisses Maß an Nivellierung, Uniformierung von Geschmack und Habitus, was sich nahtlos einfügte in die ubiquitären Erscheinungsformen einer industrialisierten Massenkultur. Helga Lüdtke macht in ihrer Analyse jenes stärker als dieses, lässt jedoch an der Mehrdeutigkeit der beschriebenen Phänomene keinen Zweifel. Eindeutig zu bestimmen, wer was beeinflusste, ist kaum möglich: entweder evozierte das neue Lebensgefühl nach dem Krieg die Mode oder die Mode das neue Lebensgefühl. Die Dialektik, die darin steckte, ist schwer zu entwirren.

Bubikopf war nicht gleich Bubikopf. Es gab etliche Varianten: kurz oder mittellang, mit Seitenscheitel oder Pony, glatt oder gewellt, je nach Geldbeutel im Frisiersalon geformt oder zu Hause mit Schere und Haarschneidemaschine gefertigt, Pagen-, Eton- oder Männerschnitt. Letzterer unterstrich ein androgynes Erscheinungsbild, galt als Erkennungszeichen in Damenkneipen und lesbischen Milieus, war, wie die Autorin notiert, eine „Maske“ im „Spiel mit den Geschlechterrollen“. Nicht nur junge Frauen, auch ältere huldigten dem Bubikopf. Die Länge der Haare schien ein Gradmesser für Jugendlichkeit, Jugend ihrerseits ein Dauerzustand, der vom Ende der Pubertät bis zum Ende der Menopause währte. Allerdings sei dies „ohne Differenzierung nicht denkbar“, belehrte 1930 eine Modejournalistin ihre Leserinnen: „Die junge Frau von zwanzig und die junge Frau von vierzig gehen beide rosa gekleidet, aber die eine weiß und die andere betont, daß sie jung ist.“ Derartige Formen publizistischer Überhöhung mochten die Lebenswelten in den wohlhabenden Wohnquartieren treffen, die der allermeisten Frauen indes nicht. Die nämlich sah, so Lüdtke, „weit weniger leichtfüßig und glamourös aus.“ Denn dort hatten die Frauen, die Arbeiterinnen in den Fabriken und die Angestellten in den Kontoren und Geschäften, alle Hände voll zu tun, sich durchzubringen und den Alltag zu bewältigen. Überhaupt war der Bubikopf ein vorwiegend urbanes Phänomen, das auf dem flachen Land nur bedingt Einzug hielt.

Zum Schluss gibt die Autorin ihrem Thema eine überraschende Wende, indem sie den Blick auf das richtet, was sie die „Dunkelseite des selbstbestimmt-kurz geschnittenen Haares“ nennt. Gemeint sind die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis kahlgeschorenen Köpfe, ein Schicksal, das gleichermaßen die Männer traf. Das waren Akte der Gewalt, der Strafe und Demütigung, aus denen sich zugleich Profit schlagen ließ. Den Frauen wurden Weiblichkeit und Individualität geraubt, die abrasierten, von Funktionshäftlingen gebündelten Haare verkaufte die SS an Firmen, die den Rohstoff zur Produktion von Filzen, Matratzen oder Kleidungsstücken verwendeten.

Betroffen von mittelalterlich anmutenden Praktiken öffentlicher Maßregelung und Zurschaustellung waren auch diejenigen, die wegen sogenannter ‚Rassenschande‘ durch die Straßen getrieben wurden, oder einheimische Frauen, die während der Besatzungszeit in Holland, Frankreich oder Dänemark mit deutschen Soldaten angebandelt hatten. Motive hier waren Erniedrigung und Rache, exekutiert von einer Gesellschaft, welche die Schmach der zuvor erlittenen Niederlage gegen das Deutsche Reich an den stigmatisierten Frauen abreagierte. Dabei ging es, wenngleich unter völlig anderen Vorzeichen und nicht in gleichem Maß auf die Spitze getrieben, wie in den Lagern des NS-Regimes um Entweiblichung, Enterotisierung und Entpersönlichung, vielleicht auch, wie Helga Lüdtke andeutet, um eine zumindest symbolische Wiederherstellung der alten patriarchalischen Ordnungen.

Titelbild

Helga Lüdtke: Der Bubikopf. Männlicher Blick, weiblicher Eigen-Sinn.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835339545

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