Naturkunde(n) auf dem Coffeetable?

Robert Macfarlane schreibt ein Buch voller „Zaubersprüche“ und Jackie Morris tuscht dazu Bilder

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es kommen vor unter anderem: am Anfang eine Amsel mit offenem Schnabel (naja), der Rotfuchs (Rotfüchse gefallen mir immer), Motten mit unterschiedlichsten Namen und infolgedessen unterschiedlichster bildnerischer Ausführung, Gänseblümchen, Dohlen (alles in Richtung Rabe ist immer schwer ok), Eichelhäher (mit dem bekannten unfassbaren Blau), Ginster (da piekst es also), Mauersegler (das erinnert mich an die Papierflieger meines Vaters), Stieglitz, Eiche, der Schneehase darf nicht fehlen und auch nicht die Schleiereule (hier ist die Natur mal grausam, wenn ein Vögelchen gekrallt wird), Kernholz, Brachvogel, Reiher, Kegelrobbe, Grasnelke (sehr schöne Illustration), lärmiger Buntspecht, der den Dachs nervt (der Dachs lässt schön grüßen, möchte aber nicht gestört werden). Buche, Schwalbe, Weißbirken mit dem Fuchs. Und ein Glossar, das ein Geheimnis verraten soll, hinter das ich nicht gekommen bin. 

Das also war jetzt eine Liste. Wenn ich eine Liste mache, weiß ich nicht weiter, versuche aber Ordnung zu schaffen. Aber am Ende bleibt es eine Liste, also Spiegelstriche, also weiß ich nicht recht, was ich von diesem Buch halten soll, also liste ich einfach Eindrücke hinter Spiegelstrichen auf: 

– Beim Aufschlagen des Buchs guckten mich goldene Lettern an. Goldene Lettern sind nichts für mich. Das ist mir zu poesiealbumig: „Dieses Buch gehört“, drumrum Gegirlande, links unten mutmaßlich eine Motte. Soll ich mit diesem Buch aus der Reihe Naturkunden des Matthes & Seitz Verlags nun etwas Natur besitzen oder einfach nur eine Kunde der Natur? Oder soll es einfach ein „schönes Buch“ sein? Nebenbei: ich will keine Bücher besitzen (fast grundsätzlich nicht: Lesen: ja. Besitzen: nein) und meinen Namen schon gar nicht drin eintragen.

– Ich habe mich dann wieder etwas beruhigt. Denn beim langsamen Durchblättern, -lesen, -gucken, da tauchte ich weniger in die Zaubersprüche ein als in die Zeichnungen von Jackie Morris, mutmaßlich Aquarelle, eine Malerin der verfließenden Welt, diese hingetupften Wässrigkeiten. Aber irgendwie kamen mir dabei die Zaubersprüche abhanden, die doch auch ihr Recht haben wollen. Denn es soll ja gelten: „Dies ist ein Buch voller Zaubersprüche, die laut ausgesprochen werden wollen. Es erzählt seine Geschichten und singt seine Lieder in Bildern und Worten. Hier findest du Beschwörungen und Bannsprüche, Anrufungen und Schutzzauber, Zungenbrecher, Segen, Wiegenlieder und Psalmen.“ Und: „Nimm die ungezähmte Welt auf in deine Augen, deine Stimme, dein Herz.“ Da brauche ich jetzt ein paar Spiegelstriche: 

– Zuerst blieb mein arg nüchtern vor sich hinpumpendes Herz etwas verschlossen, das ist mir wieder zu poesiealbumhaft. 

– Und weiter: wenn ich da schon Sprüche vor mich hinmurmeln soll und doch sicher bei Zaubersprüchen und -formeln der Klang die Verzauberung, die Verwandlung der Wirklichkeit bewirken soll: dann müsste das doch Englisch sein? Kurz: vielleicht wäre es hilfreich gewesen, wenn zumindest manchmal eine Übersetzung das englische Original beigestellt bekommen hätte. Denn macht es für die Magie nicht womöglich einen Unterschied, wie der Klang funktioniert? Hätte man mit dem englischen Original nicht womöglich einen anderen Zauber bewirkt als mit dem andersartigen Klang der deutschen Übersetzung? Ich hätte das dann einmal deutsch und einmal englisch vor mich hingebrummelt und geguckt, was passiert.

– Viele der Texte selbst sind irgendwas zwischen verschwurbelt und verspielt und ich kann oft die Grenze nicht erkennen; manches allerdings finde ich toll und gut beschrieben und es zeigt, was und wo diese Tiere sind. 

– Erstes Beispiel: Der Rotfuchs ist ein „Schrei in der Nacht,/ der sich in dich schraubt,/ ein Pfeil durch die Stirn,/ Dunkel aus Dunkel geraubt,/ mein trauriges Jaulen/ an die, die ich lieb/ mein Mülltonnenpoltern,/ Dämmerungsdieb.“ 

– Zweites Beispiel: Die Dohle ist eine „Schlossrüttlerin,/ Ruhzerrüttlerin,/ Traktortroubadour,/ Künderin und Späher in/ Volksmund und Märchen, von Ackerrand zu Meeresstrand,/ streust dein Nimmermehr!“ 

– Der Flyer des Verlags zu den Naturkunden sagt, der Name der „Reihe“ sei Programm. Hier werde erstens 

keine bloße Wissenschaft betrieben, sondern die leidenschaftliche Erforschung der Welt: kundig, anschaulich und im Bewußtsein, dass sie dabei vor allem vom Menschen erzählt – und von seinem Blick auf die Natur, die ihn selbst mit einschließt. 

– Jetzt werde ich wieder nüchtern. „Bloße“ Wissenschaft? Heißt das, wir hätten da auf der einen Seite, die „bloße“, also wohl schnöde, öde, verobjektivierende Naturwissenschaft und auf der anderen alles andere, was sich sonst noch zu Natur sagen lässt? Nun, so scheint es: „Jedes Buch in dieser Reihe“ werde, 

eine eigene Kunde von der Natur formulieren und dabei so aufwendig, vielgestaltig und schön werden, wie die Natur ihrer Gegenstände es fordert: bebildert, in historischen Formaten gebunden, fadengeheftet und mit Frontispiz sowie farbigem Kopfschnitt versehen.

Zweitens folglich, so erhalte ich weitere Kunde, „feiern die NATURKUNDEN nicht zuletzt die unnachahmlichen und mannigfaltigen Möglichkeiten einer lebendigen Buchkultur.“ Nicht Natur also, sondern Kultur? Und liegen dann die Naturen, respektive die Kunden von den Naturen, nicht einfach bloß auf von Menschen gemachten coffeetables

– Wer schlicht denkt, denkt richtig. Also: Für einen Schulmediziner, der ich bin, ist die Natur einfach nur der Feind. Eine Komplexität, die über- und herausfordert: verrückt spielende Zellen, die sich sinnlos vor sich hin teilen und den Körper, also Zellen, mit Krebs killen. Viren, pfiffig-doof, die Escape-Varianten vor sich hinwürfeln, um sich gegen uns durchzusetzen. Abnutzungerscheinungen, deren deletären Status wir nur hinauszögern können. Zu versimpelt? Natürlich. 

– Das war jetzt das Vulgärcredo eines Schulmediziners. Sagt das etwas gegen Macfarlanes Buch? Gegen seine Versuche, Zaubersprüche zu finden? Gegen die Bilder? Gegen den Versuch von Matthes & Seitz, gute Bücher zu machen? Nein. 

– Aber trotzdem komme ich über „Dieses Buch gehört“ mit Girlande nicht wirklich hinweg. 

– Und das bedeutet? Lesen Sie das Buch selbst! Sie werden daraus hoffentlich eine andere Kunde der Natur heraus- und hineinlesen als ich. 

Titelbild

Robert Macfarlane / Jackie Morris: Die verlorenen Zaubersprüche.
Aus dem Englischen von Daniela Seel.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
120 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783751802086

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