Spiel mit dem Feuer

Madame Nielsens neuester Roman „Lamento“ lehrt uns, dass Verliebtheit und Liebe zweierlei sind und dass der Alltag der Feind der Liebe ist

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Madame Nielsen ist auf dem literarischen Markt längst keine Unbekannte mehr, aber rätselhaft ist sie geblieben. Weshalb sie nach wie vor staunende Blicke auf sich zieht. Wer also ist sie? Auf jeden Fall eine Grenzgängerin in Fragen der Identität. Dazu ein kleiner Rückblick: Zu einem Publikumserfolg wurde der 2014 in Dänemark erschienene Roman Der endlose Sommer, dessen deutsche Übersetzung 2018 folgte. Die Kritiken waren so rauschhaft wie das Traumhafte jenes dänischen Sommers, darin lauter verzauberte Menschen. Mit diesem Roman betrat Madame Nielsen die Bühne und da blieb sie bis heute. Ihr Name ist mehr als nur ein Pseudonym, von denen es in der Literatur bekanntlich viele gibt, eher schon ein Programm. Denn es gehört eine außergewöhnliche Lebensentscheidung dazu, und zwar als eine buchstäblich in den Körper eingeschriebene Mischung aus Kunst und Leben, Realität und Fiktion.

Jener „endlose Sommer“ erzählt von diesem Leben – und lässt uns zugleich verstehen, hier hat niemand sein trans*Sein entdeckt, sondern etwas ganz anderes, zum Beispiel die Empfindung, in der Frauenrolle schöner auszusehen denn als „magerer älterer Herr“. Oder auch dies: „Wenn ich im Kleid bin, mich als Frau fühle, hat das eine andere Energie. Ich bin so leicht plötzlich.“ Nennen wir es eine Stimulation von Kreativität. Denn was hier wie Gender-Fluidität aussieht, dient offenbar mehr der Mobilisierung von schöpferischer Energie. Dahinter hat der Performer und Musiker Claus Beck-Nielsen nie aufgehört zu existieren, der sich vor gut zwanzig Jahren in einer Performance symbolisch beerdigen ließ, um dann in immer neuen Erzählungen weiterzuleben – eben als Madame Nielsen. „Ich will gern als Beispiel vorleben, wie viel möglich ist, im Mensch-Sein oder Wesen-Sein oder was auch immer ich bin“, verriet sie 2018 dem „Spiegel“.

Das Begehren spielt bei Madame Nielsen wohl immer eine wichtige Rolle, so auch jetzt in dem neuen Roman Lamento, obschon der Titel die Erwartung konterkariert. Gewiss, wer liebt, der leidet möglicherweise, und Begehren kann schmerzvoll sein, weshalb jedem Glücksversprechen die Klage eine treue Begleiterin ist. Lamento nennt man in der Musik etwas im schmerzlich-leidenschaftlichen Ton und den finden wir in der Erzählung in Fülle. Das beginnt schon mit einem vorangestellten Prosagedicht und dem Refrain, es gebe keine Liebe – Il n’y a pas d’amour. Es tauchen darin Bernard-Marie Koltès und sein Stück In der Einsamkeit der Baumwollfelder auf, aber auch Rainer Werner Faßbinder mit Angst essen Seele auf, wobei Madame Nielsen die Angst durch die Liebe ersetzt und sie auf diese Weise zu Synonymen macht. Und schließlich nennt das Gedicht noch Patrice Chéreau als „Grand Maître der Schwulen“. Was das allerdings mit dem Roman zu tun hat, bleibt offen.

Andererseits spielt dann doch das Theater eine gewisse Rolle, nicht aber das Schwulsein wie bei den oben zitierten legendären Theaterheroen. In Lamento begegnen sich zwei junge Menschen und sind sofort ineinander verliebt. Sie schließen sich ein und lassen die Welt für eine Weile draußen, als ob sie nicht mehr existiere. Er schreibt für das Theater, sie verfasst Romane. Die Konstellation stammt aus Madame Nielsens Privatleben. Es ist ihre Ehe, die sie erzählt, und zwar aus der Perspektive ihrer Ex-Frau, der Schriftstellerin Christina Hesselholdt. Adressiert ist ihre Geschichte einer Amour fou an die gemeinsame Tochter. Sie und wir Leser*innen sollen erfahren, wie ihre Eltern zusammenfanden, wie sie für einander entbrannten, gemeinsam schuldig wurden und sich schließlich wieder verloren haben.

„Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle, das ist die Art Sachen, die niemand wissen braucht, und erst recht nicht ein Kind, was sollen wir bloß mit diesem Wissen, es ist so schon schwer genug, ein Mensch zu sein.“ Ganz ernst ist das nicht gemeint, denn das Scheitern der Ehe und so das Scheitern der Liebe wird schließlich mit Hingabe in allen Stadien der Entfremdung durchdekliniert. Woraus wir die Lehre ziehen, dass das Leben nicht planbar ist und schon gar, wenn wir alles einerlei sein lassen: „Die Dinge passieren, und du brauchst nichts denken oder wollen oder dir vorstellen oder hoffen, lass dich einfach treiben.“ Beim Lesen wurde ich den Eindruck allerdings nicht los, dass dieses „Lass dich treiben“ als Lebensmotto am Ende nur eine Attitüde ist. Unentschiedenheit ist jedenfalls keine Gewähr gegen die Risiken und Nebenwirkungen im Leben. Im Gegenteil, sie zieht sie erst recht an.

Es hat eine Weile gedauert, um mit diesem Roman „warm“ zu werden. Denn als Leserin blieb ich für mein Gefühl zu lange rätselnd außen vor. Nun gut, Madame Nielsen liebt das Ungereimte, das Nebulöse. Im Laufe der Erzählung ändert sich das jedoch und kommt im dritten und letzten Teil des Romans dann in der Wirklichkeit an. Das Paar hat sich getrennt und nur gelegentlich kreuzen sich noch die Wege. Hier aber klingt der Lebensbericht konsistenter, eben realistischer. Denn nun gibt es eine Erdung, die in der manieriert wirkenden Sprunghaftigkeit des Anfangs weitgehend fehlt.

Über den Roman verteilt Madame Nielsen Definitionen von Verliebtheit gewissermaßen als wechselnde Aggregatzustände einer ziemlich extremen menschlichen Gefühlswelt. Verliebtheit habe keinen Namen und kein Gesicht, heißt es an einer Stelle, an einer anderen: „Die Verliebtheit hat keine Sprache, sie ist ein Tier, sie ist das Theater der Grausamkeit […].“ Sie kenne „Todesverachtung, Hochmut, Unbesiegbarkeit und im nächsten Augenblick der Sturz ins Leere, die kleine Ängstlichkeit, das große Zittern […].“ Dann nennt Madame Nielsen sie eine Katastrophe, die keine Grenzen kenne und sich an sich selbst berausche „und huldigt in alle Ewigkeit dem Jetzt“. Und schließlich könne Verliebtheit so heftig sein, so „fiebrig, verzehrend, dass die Liebe, die aus ihr entstehen soll, eine Enttäuschung wird […].“ Genau so kommt es – am Ende, wie nach jedem Rausch, die Ernüchterung.

In Rezensionen wird gerne das Rauschhafte der Sprache gelobt. Von einem fulminanten Strom, der aus der Sprache selbst komme, ist in einer der Kritiken die Rede. Nun, genau darüber ließe sich streiten. Denn nervöse Stakkato-Sätze und sprachlich zusammengewirbelte Andeutungen, die mehr ahnen als wissen lassen, garantieren für sich allein noch keine Suggestion. Mitunter klingt das nur gehetzt, sprunghaft, disparat, was uns eher hindert, in den Sprachstrom einzutauchen. Aber auch dort, wo ich mich vom Sog rätselhafter Andeutungen und Ahnungen mitreißen ließ, schafft es Madame Nielsen zuverlässig, den „Rausch“ abrupt zu beenden, indem sie durch banale Einschübe wie dem, was gerade an Essen und Trinken auf dem Tisch oder auf dem Einkaufszettel steht, uns Leser*innen gewissermaßen auszubremsen. Das ist, als würde man in einem Traum das Licht einschalten. Man braucht nur Marie-Claire Blais einmal dagegen zu halten, um zu wissen, wie intensiv „Sprachströme“ erlebbar sind.

Titelbild

Madame Nielsen: Lamento. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
208 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462001273

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