Traumhafte Zeit in Triest

In seinem Buch „Gekrümmte Zeit in Krems“ präsentiert Claudio Magris fünf Meistererzählungen über den Herbst des Lebens

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihre Spezialdisziplin ist die Rückschau, ohne Wehmut, ohne Zorn: Die Protagonisten dieser fünf kurzen Geschichten haben sich längst damit abgefunden, „die Leinen loszulassen“, frei zu sein und keineswegs darüber betrübt zu sein, dass ihre Zeit abgelaufen ist… abgelaufen jedenfalls aus dem engen Blickwinkel ihrer jüngeren Nachbarn. Der Rückzug fällt ihnen überhaupt nicht schwer, zumal ihren scharfen Augen nach wie vor ja nichts entgeht.

Woher auch immer sie ursprünglich kommen, ob aus Mähren oder aus Polen, aus der verlorenen Welt des Ostjudentums, aus Landschaften, die den habsburgischen Mythos nie ganz abgeschüttelt haben, einerlei, sie sind in Oberitalien gelandet, in der Region Piemont oder (zumeist) in Triest, in seinem Triest: Claudio Magris hat in diese Geschichten ganz beiläufig auch zauberhafte Liebeserklärungen an alle seine Wirkungsstätten eingeschaltet, das immense literarische Territorium, das er wie kaum ein anderer kennt, miteingeschlossen; und in seinem Triest ist noch immer der Traum lebendig, das Meer sei offen für die Zukunft, für eine „Zukunft des Friedens und der Brüderlichkeit“, und zwar offen für alle, die sich schon einmal dort niedergelassen haben, an diesem „Mare Nostrum“, dem „Jadransko More“. Dass eine derartige Zuversicht im Laufe der Geschichte wiederholt erschüttert worden ist und dass nach wie vor nicht allzu viel dafür spricht, ist den Protagonisten seiner Erzählungen indessen wohl bewusst.

Da gibt es aber noch etwas, was sie alle mit dem Erzähler ihrer Geschichten verbindet, auch den Fabrikbesitzer, den Maestro, die Schriftsteller und die Literaturkritiker: Sie blicken mit einer Ruhe, mit einer Gelassenheit sondergleichen zurück, auf das eigene Leben wie auf die Geschichte, auf das was unerreichbar war oder jedenfalls lange Zeit unerreichbar schien wie auch auf das, was sich zwischenzeitlich spektakulär gewandelt hat. In Krems zum Beispiel. „Krems, dessen Pracht der arabische Geograph al-Idrisi im Jahr 1153 rühmte, eine Pracht, die seiner Meinung nach die von Wien übertraf, ähnelt heute der versunkenen Stadt Vineta.“ – Ebendort jedoch, und das ist kein Zufall, verliert sich der Ich-Erzähler, der nach einer Kafka-Konferenz in Klosterneuburg in der Wachau zu einem Abendessen geladen ist, in der „Tiefe der Zeit“, und unversehens taucht in seiner Erinnerung ein „Meeresgeschöpf“ auf, ein Mädchen, das ihn niemals wahrgenommen und ihn doch offenbar immer wieder heftig beschäftigt hat: Schlagartig wird der Strom der Erzählung aufgehalten durch Reflexionen, die um Eros und Thanatos kreisen, um die Kraft der Erinnerung wie um das Nachlassen des Gedächtnisses, die „Muse der Translation“. Der Erzähler hält es wie seine Figuren; nichts ist ihnen gleichgültig, doch alles betrachten sie, mehr oder weniger so kurz vor der Verabschiedung von der Wirklichkeit, nicht anders als alle ihre Macken, also mittlerweile mit der denkbar größten Contenance.

Mit geschärftem Blick aber, wie erwähnt, immerzu. Mit einem Blick, der Außensicht und Innensicht nicht selten blitzartig verbindet: 

Er stieg aus dem Bus und hielt sich dabei am Haltegriff fest, bis sein Fuß vorsichtig den Asphalt berührte. Einen Augenblick lang ließ er die Hand auf dem glänzenden Metall ruhen und zog sie gerade rechtzeitig zurück, bevor sich die Tür wieder schloss. Es war eine angenehme Berührung […].

Der Mann, von dem da die Rede ist, ein alter Industrieller, muss keine Befehle mehr erteilen. Er kann leben, endlich aufleben, „ohne sich vor irgendetwas zu fürchten, ohne noch irgendetwas zu brauchen. Nun war die Welt ein Hund, der ihn nicht mehr beißen konnte, sondern mit ihm herumtobte und spielte.“ – Ganz ähnlich geht es dem aus Moldawien stammenden jüdischen Schriftsteller, der sich nicht mehr in der Lage sieht, die neuesten literarischen Strömungen zu verdauen. „Das bisschen, das er hatte verstehen können, schien ihm banal, der Rest unverständlich.“ Diese neumodischen, jedoch rundumher hochgelobten Tendenzen, „je nun, auch die werden mit der Zeit überholt sein“, sagt er sich; er hat genug erlebt.

Es ist jedoch eigentlich nicht Melancholie, es ist vielmehr Kontemplation, was in allen diesen Erzählungen in den Mittelpunkt rückt oder auch wenigstens in ihrem Subtext aufglüht. Eine exquisite Nachdenklichkeit, die gleichwohl nichts absolut setzt; allenfalls eines: höchste Akribie im Modus der Beobachtung und der Darstellung. 

Titelbild

Claudio Magris: Gekrümmte Zeit in Krems. Erzählungen.
Aus dem Italienischen von Anna Leube.
Carl Hanser Verlag, München 2022.
96 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446272774

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