Flucht als Schicksal?

In ihrem ersten Roman, „Das deutsche Zimmer“, erzählt die argentinische Autorin Carla Maliandi von einer überstürzten Reise

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine namenlose Erzählerin reist von Buenos Aires nach Heidelberg… will sie dort ein neues Leben beginnen? Vor einer Krise oder einer unhaltbaren Situation fliehen? Kindheitserinnerungen heraufbeschwören? Überstürzt hatte sie das Flugzeug genommen, niemandem von ihren Plänen berichtet, wollte nur weg.

Sie mietet sich in einem Studentenwohnheim ein, gibt an, studieren zu wollen, aber schon bald befindet sie sich in einer schwierigen Lage: Sie ist schwanger. Ein argentinischer Mitbewohner nervt, möchte sie verführen, aber dann wird er zu einer unverzichtbaren Hilfe. Eine psychisch labile Japanerin möchte sich mit ihr anfreunden, aber nach einem Karaoke-Abend begeht sie unerwartet Selbstmord und bestimmt die Erzählerin zur Erbin. Ihre Mutter reist aus Tokio an und stellt Frage um Frage – aber sie kann keine beantworten. Auch muss sie sich selbst Klarheit über ihre Situation verschaffen. Was tun?

Sie lässt vage Kindheitserinnerungen wach werden, denn als ihre Eltern vor der Militärdiktatur in Argentinien fliehen mussten, lebte sie ein paar Jahre in Heidelberg. Sie denkt an das große und fröhliche Fest, bevor sie damals in die Heimat zurückkehrten, viele Philosophen waren anwesend. Die Erzählerin möchte Zuflucht vor den aktuellen Problemen im idyllischen Heidelberg der Kindheit finden. Daher sucht sie jetzt auch einen Freund jener Zeit auf, der nicht zurückgekehrt war. Sie scheint unfähig, eine Entscheidung zu treffen: Soll sie das Kind behalten? Studieren? Wie ihr Leben finanzieren?

Alles bleibt verschwommen in Carla Maliandis Roman Das deutsche Zimmer, und so weiß die Erzählerin auch nicht, ob das Kind von ihrem Partner (war er ihr Ehemann?) ist oder von einer flüchtigen Liebschaft. Die Schwester des Argentiniers erteilt esoterisch anmutende Ferndiagnosen, aber auch das hilft ihr nicht. Ihre Lage kompliziert sich weiter, weil sie aus dem Studentenheim ausziehen muss – schließlich studiert sie nicht, hat daher kein Anrecht auf ein Zimmer.

Der damalige Freund der Eltern hilft ihr großzügig. Doch hat er einen attraktiven Partner, der sie schon bald verführt. Aber das ist nur eine momentane Abwechslung, letztlich ein weiteres Problem. Allein im Haus, findet sie alte Fotos und Briefe, eine Erklärung für das Rätsel der freiwilligen Verweigerung des Freundes, nach Argentinien zurückzukehren. Auch diesen Vertrauensbruch toleriert er. Er hat noch andere Probleme. Die Erzählerin verharrt derweil in ihrer eigentümlichen Reglosigkeit, liest nicht einmal ihre Mails, geht ziellos durch die Straßen der Stadt, auf den Friedhof, an einen See – als sei sie eine Traumwandlerin, die nur die Gegenwart kennt, denn ihre Zukunft scheint oder ist ein ungeschriebenes Buch.

Offen endet auch dieser schmale Roman, dessen rhythmische (und schön übersetzte) Prosa eine enorme Anziehungskraft ausübt. Die gefürchtete und verehrte Starkritikerin Beatriz Sarlo spendete ein großes Lob. Ganz offensichtlich sorgt Argentinien seit Jahren zuverlässig für neue, vielversprechende Debuts von Frauen: Selva Almada, Pola Oloixarac, Sonia María Cristoff, Mariana Enriquez, Maria Gainza….  Und jetzt Carla Maliandi, 1976 im Exil in Venezuela geboren. Bislang arbeitete sie nur als Dramaturgin und schrieb mehrere Theaterstücke. In einem Interview sagte sie, dass sie nach dem Tod des Vaters, eines bekannten Philosophen in Buenos Aires, das Bedürfnis gespürt habe, jene sorglosen Jahre im mythenumrankten Heidelberg  zu evozieren. Nach diesem erfolgreichen ersten Roman, der ihr nach eigener Aussage mehr Freiheiten ließ als die Arbeit für das Theater, möchte sie einen weiteren schreiben, um „Gedanken und Dialoge“ der 1950er Jahre, der Zeit von Evita Perón, hörbar zu machen. Wir dürfen gespannt sein.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Carla Maliandi: Das deutsche Zimmer. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Berenberg Verlag, Berlin 2019.
164 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334590

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