Orientalische Märchenwelten in Literatur, Kunst, Musik und Comics

Markus May und Christiane Raabe haben mit „Märchenhafter Orient“ einen reichhaltigen Band über ‚orientalische‘ Elemente in der westlichen Kultur herausgebracht

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es geht um den sog. Orientalismus, also um, ganz schlicht gesagt, die Präsenz des türkisch, arabisch und persisch beeinflussten Imaginationsraum „Orient“ in der Kultur Europas und der westlichen Welt, wobei in diesem Sammelband die märchenhaften Motive im Mittelpunkt stehen. Der Untertitel des Bandes ‚Projektionen eines Landes der Phantasie‘ lässt sich als Frage lesen: Wie sieht dieser Imaginationsraum genau aus? Oder, etwas strenger formuliert: Wie eigenmächtig und wie phantasievoll gehen die westlichen Künstler mit diesem „Orient“ um?

Diese Fragen werden, um es gleich zu sagen, in einer sehr erfreulichen Breite beantwortet. Die zwanzig Beiträge des Bandes behandeln „den Orient“ in der erzählenden Literatur – und zwar von Wolfram von Eschenbach über Christoph Martin Wieland und Hugo von Hofmannsthal bis zu Salman Rushdie –, in der bildenden Kunst – von den Kinderbuchillustrationen bis zu den Wüsten-Gemälden von Eugène Fromentin und Léon Belly im 19. Jahrhundert –, in der Musik mit ihren ‚alla turca‘-Elementen bei Beethoven und den Wiener Klassikern, in Filmen und Fernsehserien und nicht zuletzt in den Comics von Hervé und René Goscinny. Zu dieser Breite passt, dass Karl May nicht nur als Jugendautor behandelt wird (so noch im Vorwort), sondern als ein Künstler, der eine „Anderswelt mit religiösem Einschlag“ und schließlich eine „esoterische Utopie“ entwirft (so im Beitrag von Thomas Le Blanc). Nebenbei erfahren wir, dass es in der arabischen Welt spielende Comics gibt, die in Kuweit verlegt wurden, wobei auf den Künstler Naif Al-Mutawa von Al-Qaida ein Kopfgeld ausgesetzt wurde. Wir erleben hier also ein weites Spektrum kultureller Bezugnahmen auf „den Orient“, das von der mittelalterlichen Poesie bis zur aktuellen Fernsehunterhaltung reicht.

In alledem tritt „der Orient“ unterschiedlich auf: als die Welt des Wunderbaren, der Bereich der Gottergebenheit, als exotische Kulisse oder auch als die Verfremdung europäisch-heimatlicher Verhältnisse. Dabei erscheint die fremde Sphäre mal „alt und dekadent“, so in George R. R. Martins Fantasy-Epos A Song of Ice and Fire, mal „übernatürlich-verzaubernd“ und eine neue filmische Tradition begründend in dem Hollywood-Produkt The Thief of Bagdad. Auf den aufklärerischen Impetus in den Märchen aus 1001 Nacht und ihren Adaptionen werden wir noch eingehen. Der Band enthält auch vierzig teils farbige Abbildungen, vom Foto der Geröllwüste bis zu Buchcovern und Filmszenen.

So aussagekräftig diese Einblicke in die kulturelle Auseinandersetzung mit „dem Orient“ einst und heute sind, so werden sich bei manchen Interessierten doch Vorbehalte melden. Liegen hier nicht Anmaßung gegenüber dieser östlichen Welt vor, eine egoistische kulturelle Aneignung, ja ein imperialistisches Machtdenken? Solche Rückfragen gegenüber den Kulturschaffenden haben zur Zeit Konjunktur. Die extremen Vertreter der Postcolonial Studies in der Nachfolge von Edward W. Said fordern, kein Volk und keine Ethnie dürfe mit einem anderen Namen bezeichnet werden als mit dem, den sie sich selbst gegeben haben, und ein Schriftsteller solle sich bei der Darstellung eines Fremden nicht nach seinem eigenen Erzählkontext richten. (Ich füge hinzu: Dann darf Deutschland nirgends Germany heißen, und Jesus hätte nie vom barmherzigen Samariter erzählen dürfen.) Klar, auch in unserem Sammelband fällt der Name Said, die Beiträger entdecken „Orient-Klischees“, Stereotype und „konventionelles Wissen“ und stellen beispielsweise heraus, dass in vielen Computerspielen mit orientalischen Anklängen „diese andere Welt“ rücksichtslos gebändigt oder gar „endgültig vernichtet“ werden soll. Dennoch gibt es auch eine Wahrnehmung der Ästhetik dieser kulturellen Übernahmen und Einschreibungen und die Beiträger sind sich bewusst, dass das, was Künstler aus dem fremden Material willkürlich herauslösen und bearbeiten und das erst einmal dreiste Übergriffigkeit ist, doch auch bewusste Gestaltung, kreative Leistung und hilfreich für geistigen Fortschritt sein kann.

So wird hier betont, dass die Orientbegeisterten – Forscher, Reisende, Künstler – Grenzgänger und teilnehmende Beobachter waren. Hans Ritter, Tropenmediziner, Ethnologe und Sahara-Reisender, belehrt uns in seinem Beitrag ganz unaufdringlich darüber, wie die Tuareg sich selbst nennen – nämlich Imoshagh; so informiert schon Karl May –, und er sagt, dass Antoine de Saint-Exupéry mit seinem Kleinen Prinzen die Wüste verniedliche, aber mittels dieser „Verniedlichung“ eine großartige „Parabel menschlicher Lebensfragen“ liefere. Hans-Heino Ewers betont in seinem Beitrag über den in Damaskus geborenen Rafik Schami, dass dieser bei seinen Vortragsabenden nicht eigentlich als Märchenerzähler, sondern als „Darsteller eines Märchenerzählers“ auftrete; der orientalische Topos des Märchenerzählers verselbständigt sich im Westen auf ungeahnt fruchtbare Weise. Hans Richard Brittnacher konstatiert, dass Joseph Roth in seinem 1002. Nacht-Roman das geliebte Haremsklischee zerrüttet, indem er einen Schah in ein Wiener Bordell einführt.

Vor allem ist der Aufsatz von Markus May zu nennen. Er führt vor, wie sich Wieland in seiner Märchensammlung Dschinnistan aufklärerisch engagiert, nämlich Vorbilder für Lebenshaltungen bietet. Der Leser dieser Märchen lernt, dass „Macht ohne Gerechtigkeit“ niemals wohltätig ist, dass es eine „stabile, aber pluriregionale Welt“ geben kann und dass man mittels wunderbarer Erzählmotive zu tiefer Menschenkenntnis und vorurteilsfreien Einsichten kommt. Der Autor hätte auch Wielands Satz (aus dem Märchen Adis und Dahy) zitieren können, wonach das Reich Ginnistan – Wieland schreibt „Dschinnistan“, wenn er die Märchensammlung, „Ginnistan“, wenn er das Land meint – „ein Nachbild des irdischen Paradieses wurde“ dank seiner klugen Bewohner. Wieland wusste freilich, dass schon die Märchen aus 1001 Nacht einen aufklärerischen Gehalt haben.

Antoine Galland hatte als erster die Märchen aus 1001 Nacht in eine europäische Sprache, ins Französische, übertragen. Sein Werk erschien ab 1704 und befruchtete bereits das Denken der frühen Aufklärer. Welch neue Literatur: Die Erlebnisse darin werden stark vom Empirismus geleitet, die vielen Zufälle widersprechen jedem Systemdenken, einfache Leute verbünden sich mit Wissenschaftlern und Herrschern („Bettler werden Fürstenbrüder“, wie es bei Schiller heißt). Ab 1781 hat der Aufklärer Johann Heinrich Voß Gallands Übertragung ins Deutsche übersetzt. Leider wird Voß in unserem Sammelband nur kurz erwähnt, und noch mehr ist zu bedauern, dass der Beitrag über Galland unzureichend und undurchdacht ist: Er liefert vor allem Nacherzählungen, in denen man zum Beispiel vier Mal das Faktum mitgeteilt bekommt, dass der Märchenheld Aladin eine badende Frau „belauert“. Und da wir gerade beim Tadeln sind: Dieser so vielseitige und informationsreiche Band hätte ein Namensregister verdient.

Sicher kann das Erkennen von aufklärerischen Elementen in den Märchen als eine projektive Verzerrung bezeichnet und vieles, was den östlich orientierten Beobachtern aufgefallen ist und was diese und andere fruchtbar weiterentwickelt haben, als eine willkürliche Aneignung angesehen werden. Dennoch darf ihr geistiges und ästhetisches Potential nicht verworfen werden. Und wenn aus diesen Märchen, die laut Vorwort einer komplizierten indisch-arabisch-persischen Erzähltradition entstammen, im Westen das aufklärerische Gedankengut herausgelesen wird, so geschieht hier ein glückliches Zusammenfinden von östlicher und westlicher Zivilisation – jene „Solidarität im Diversen“, die Jens Balzer kürzlich in seiner Ethik der Appropriation (2022) beschworen hat. Diese Solidarität prägt den Sammelband; sie findet sich oft in der Vielfalt und in den Verzweigungen der Übernahmen, die hier so beeindruckend analysiert werden.

Titelbild

Markus May / Christiane Raabe (Hg.): Märchenhafter Orient. Projektionen eines Landes der Phantasie.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2023.
448 Seiten , 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783825348830

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