Huldigung der Ignorierten
Frauen und ihre Werke werden in der klassischen Musik noch immer randständig behandelt. Der Band „It’s a Man’s World? Künstlerinnen in Europas Musik-Metropolen des frühen 20. Jahrhunderts“ stellt einige der herausragenden Frauen und ihre Werke vor
Von Sebastian Meißner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer über klassische Musik spricht, meint in der Regel von Männern komponierte und von Männern gespielte Musik. Denn das Musikbusiness wird seit jeher von Männern dominiert. Dabei gab es sie: mutige Musikerinnen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert innerhalb einer männlich bestimmten Gesellschaft und allen damit verbundenen Widrigkeiten zum Trotz große Werke geschaffen und ihre Spuren hinterlassen haben. Nur wurden ihre Beiträge in den Erzählungen oft vergessen, beziehungsweise nie gebührend erwähnt. Neben die männlichen Vorurteilen gegenüber komponierenden Frauen traten Ende der 1920er und in den 1930er Jahren auch die politische Verfolgung, Flucht, das Leben im Exil und die Ermordung vieler weiblicher künstlerischer Stimmen, die das Vergessen förderten.
Allmähliche Wiederentdeckung
Doch das ändert sich allmählich: Im Zuge der Aufarbeitungen der Kunstgeschichte in den letzten Jahren steigen nun das Interesse für und die Würdigung von Frauen in der klassischen Musik. Einen Beitrag dazu leisteten auch Prof. Dr. Sabine Meine und Dr. Kai Hinrich Müller von der Hochschule für Musik und Tanz in Köln, die im Sommersemester 2022 eine Ringvorlesung unter dem Titel: It’s a Man’s World? Künstlerinnen in Europas Musik-Metropolen des frühen 20. Jahrhunderts veranstalteten. Geladen waren Expert:innen aus den Musik- und Kulturwissenschaften, die über Künstlerinnen in ihren städtischen Handlungsräumen diskutierten und diese als Orte der Kunst von Frauen vorstellten. Die verschriftlichten Ergebnisse werden nun in einem Band mit demselben Titel in der Schriftenreihe Musik – Kultur – Geschichte bei Königshausen & Neumann veröffentlicht: Insgesamt 14 Beiträge legen den Fokus auf die Städte Berlin, Wien, Prag, Paris und Köln als Orte, die Frauen vielfältige Terrains boten, künstlerisch zu agieren. Neben traditionellen Konzert- und Opernhäusern sowie den Salons der Oberschichten fungierten vor allem Varietés, Kabaretts und Operettenhäuser als neue Bühnen der musikalischen Unterhaltung. Hier fanden musizierende Frauen ihr Publikum und stießen so die Tür für kommende Generationen auf.
Politische Diskurse und musikalische Versiertheit
Eine dieser Frauen ist die englische Komponistin und Suffragette Ethel Smyth (1858-1944), deren Werk und Wirken vor allem in den Beiträgen von Volker Hagedorn und Angelika Silberbauer gewürdigt wird. Während Hagedorn Smyths Rolle für seine europäische Musikgeschichte würdigt, zeigt Silberbauer am Beispiel ihrer Comedy Opera The Boatman’s Mate, dass Smyth, die ihre musikalische Ausbildung in Leipzig genoss, in diesem vor allem für die britische Identität wesentlichen Randgenre ein entscheidender Beitrag gelungen war. Mit Verweis auf die Memoiren der Komponistin beschreibt Silberbauer, wie Smyth in ihrem Stück nicht nur stilistisch und musikalisch versiert arbeitete, sondern auch inhaltliche Maßstäbe setzte und so einen gesellschaftlichen Wandel forcierte. In Silberbauers Beitrag ist unter anderem zu erfahren, wie Smyth das noch aus der viktorianischen Zeit stammende Verständnis von Geschlechterrollen aufbrach und aktuelle politische Debatten über Frauenrechte sowie Kritiken an der Diskriminierung von Frauen aufgrund von körperlichen Merkmalen in ihr Werk einwob.
Ein anderer Beitrag dieses Bandes beschäftigt sich mit der Kölner Komponistin (Albert) Maria Herz, deren Werk zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten ist und erst seit einigen Jahren wieder aufgeführt wird. Yuval Dvoran, Absolvent an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und inzwischen wissenschaftlicher Mitarbeiter am Beethoven-Haus in Bonn, beleuchtet ihre Biografie und ihre Konzerte sowie die einiger ihrer Kolleginnen. Beate Angelika Kraus schreibt mitreißend über die in Düsseldorf geborene Elly Ney, die als Interpretin des klassisch-romantischen Repertoires, insbesondere der Klavierwerke Ludwig van Beethovens, international zu Ruhm gekommen war – der auch durch ihre aktive Rolle bei der Verbreitung nationalsozialistischer Ideologie und ihre Bereitschaft, sich als Künstlerin von Machthabern für deren Zwecke instrumentalisieren zu lassen (man nannte sie später „Hitlers Pianistin“), nicht litt. Der Beitrag von Anna Ricke über die Wiener Pianistin, Korrepetitorin und Klavierpädagogin Smaragda Eger-Berg zeigt beispielhaft, welche Schlupflöcher und Grauzonen es in der Musikkultur gab, die sich Frauen oft für die Durchsetzung eigener Freiheitsbestrebungen zunutze machen konnten.
Die Wirkung auf Popmusik
Andere Beiträge nehmen nicht konkrete Musikerinnen ins Visier, sondern widmen sich den allgemeinen (regionalen) gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für weibliche Musizierende, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts in den genannten Metropolen herrschten. Yvonne Waterloos etwa vergleicht Komponistinnen-Karrieren im 19. Jahrhundert und reflektiert Förderung und Verhinderung musikalischer Ausbildung in Leipzig und Kopenhagen. Beide Städte hatten sowohl für sich, als auch im engen kulturellen Austausch miteinander einen hohen Einfluss auf musikalische Erziehung und Frauenrechtsbewegung.
Es ist dieser Perspektivenmix aus Meta- und Binnenperspektive sowie die Zusammenführung lokaler Sichtweisen, die It’s a Man’s World? so lesenswert macht. Der auf James Brown zurückgehende Titel ist jedoch wegen seiner zeitlich nachgelagerten Veröffentlichung (der Titel stammt von 1966) und stilistischen Ferne eher unpassend gewählt. Andererseits verweist er auf die weitreichende Wirkung, die von den in diesem Band erwähnten Musikerinnen auch auf die spätere Populärkultur ausging. Es ist diese eine der zahlreichen Folgefragen, die sich aus der Lektüre des Bandes ergeben.
In Summe liefern die Beiträge in diesem Band einen guten Überblick über die Umstände, unter denen weibliche Musikerinnen damals arbeiteten, welchen Gefahren und Ächtungen sie ausgesetzt waren und wie bedeutend nicht nur vor diesem Hintergrund ihre Beiträge aus heutiger Perspektive sind. Den Herausgeber:innen gelingt es, durch die Auswahl und Zusammenstellung der Beiträge die Geschichte von Frauen in der klassischen Musik als eine über die singulären Biografien weit hinausreichende kollektive Bewegung darzustellen, die künftige Emanzipationsentwicklungen in anderen (musikalischen wie nichtmusikalischen) Kontexten vorwegnahm. Ohne diese Bewegung ist eine Demokratie, die auf Vielfalt, Gleichberechtigung und Teilhabe fußt, nicht denkbar. Die Geschichte der klassischen Musik muss ergänzt werden.
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