Sokratischer Dialog und Jenseitsreise

Zu Herman Melvilles 200. Geburtstag aktualisiert Rainer G. Schmidt seine kommentierte Übersetzung des Romans „Mardi“

Von Misia Sophia DomsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Misia Sophia Doms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Melvilles 1849 publizierten Roman Mardi and A Voyage Thither eine kommentierte Übersetzung vorzubereiten muss eine Pein sein! Wer sich an die Lektüre dieses Werks wagt, das in der vorliegenden Ausgabe rund 800 Seiten umfasst, wird das schnell begreifen. Da gilt es etwa, allerlei Bardengesänge so zu übersetzen, dass die wiederholte ironische Brechung des jeweiligen – etwa heldenepischen oder liebeslyrischen – Gattungsmusters erhalten bleibt. Es sind Pendants für Wortspiele zu finden, die eines Lewis Carroll würdig wären. Die sprachlichen Auswirkungen der heftigen Stimmungsumschwünge, von denen Erzähler und Figuren wieder und wieder befallen werden, müssen in der Übertragung berücksichtigt, im Original kaum verständliche Gedankenlabyrinthe wenigstens so weit erschlossen werden, dass die LeserInnen darin nicht ganz verloren gehen. Zu entwirren ist schließlich ein kompliziertes Geflecht aus konkreten Referenzen auf historisch-geografisch Reales, aus anspielungsreichen Erdichtungen und bloßem Un-Sinn, jeweils durchsetzt von produktiven und weniger produktiven gewollten Kontaminationen und ungewollten Verwechslungen.

Rund 150 Jahre nach dem Erscheinen des Werks war Rainer G. Schmidt der erste, der sich, kurz vor der Jahrtausendwende an die Erstellung einer deutschsprachigen kommentierten Ausgabe des Werks gewagt hat – und das mit beeindruckendem Ergebnis: Die Eigenarten der Melvill’schen Syntax, die Düsternis der in den Roman inserierten melancholisch-skeptischen Reflexionen und die abgründige Heiterkeit der Narren, die in Mardi fröhliche Urständ feiern, die sprachlichen Idiosynkrasien, die die verschiedenen schrulligen Akteure des Romans unterscheidbar machen, und auch die oft geradezu barocke Spitzfindigkeit ihrer Argumentation hätten wohl kaum gewissenhafter und überzeugender ins Deutsche transponiert werden können. Der Kommentar schließlich, der in bequem lesbaren und zugleich durchaus poetischen Anmerkungen dargeboten wird, hält sich souverän auf dem schmalen Grat, der zwischen allzu großer Weitläufigkeit auf der einen und nachlässig-schlampiger Lückenhaftigkeit auf der anderen Seite verläuft. Gerade dort, wo Melville sich in exzessiver Weise beim Seemannsvokabular bedient, wo er Begriffe und Eigennamen aus dem Polynesischen entlehnt und wo er auf zeitgenössisch aktuelle oder historisch entlegene Ereignisse referiert, wäre man als LeserIn oft verloren, könnte man die Augen nicht in die Fußzeile schweifen lassen.

Erstmals erschienen ist Schmidts zweibändige Übersetzung 1997 in der Hamburger Achilla-Presse, die noch im selben Jahr eine zweite Auflage publizieren konnte. Als die deutschsprachige Ausgabe von Mardi 2000 neubearbeitet in das Programm des btb Verlags aufgenommen wurde, erhöhte sich die Zahl ihrer LeserInnen weiter. Anlässlich des 200. Geburtstags von Melville ist Schmidts Übertragung nun – nochmals überarbeitet und aktualisiert – in einer dritten, solide gebundenen, typografisch sehr ansprechend gestalteten Ausgabe im Manesse-Verlag verfügbar, durch die hoffentlich die Zahl der Mardi-LiebhaberInnen in Deutschland noch weiter steigen wird.

An Moby-Dick, Melvilles bekanntesten Roman, der zwei Jahre nach Mardi erschienen ist, gemahnt das hier zu besprechende Werk nur in seinen ersten Kapiteln. In ihnen wird uns der anfänglich namenlose Ich-Erzähler und Protagonist, der dank einer Verwechslung mit einem Halbgott später zu dessen Namen Taji kommt, als Besatzungsmitglied auf einem glücklosen Walfangschiff vorgestellt. Dieses wird – wie wir nebenbei erfahren – später untergehen. Da die Hauptfigur sich frustriert zur Flucht von Bord entschließt, wird sie dieses Unglück zwar nicht mehr miterleben müssen, dafür hat Taji in weiterer Folge aber andere dramatische Erlebnisse: Er rettet die junge und schöne Yillah vor dem Opfertod und begeht dabei einen Mord, der ihm die lebenslange Verfolgung durch Erinnyen-artige Rächer einbringt. Er macht die Gerettete zu seiner Geliebten und reist mit ihr zum Inselarchipel Mardi, das er, nach dem mysteriösen Verschwinden des Mädchens, im Rahmen einer verzweifelten Suchaktion systematisch durchforscht. Er findet unter den Einheimischen ungewöhnliche Reisegefährten, durchquert spektakuläre Landschaften, lernt allerlei fremdartige Staatswesen kennen und landet gegen Ende des Romans auf einer Insel, deren Herrin die Calypso der Odyssee an Verführungskünsten noch übertrifft.

All diese Elemente sind geeignet, Melvilles Werk durchaus zu jenem „Südseeabenteuer als Fantasieerzählung“ zu machen, das Melville seinen LeserInnen im programmatischem Vorwort verspricht. Aber ungeachtet aller Exotik, Romantik und Spannung erschöpft sich Mardi doch genauso wenig wie Moby-Dick darin, Abenteuergeschichte zu sein. Diese Gattung nämlich ist nur eine unter vielen, die sich in Melvilles generisch hybriden Werk bei näherem Hinsehen entdecken lassen.

Hinzu kommen zunächst deutliche Familienähnlichkeiten zur menippeischen Satire und zur Dystopie, die besonders dort zum Tragen kommen, wo die Eilande Mardis näher erkundet werden. In diesem unerschöpflich inselreichen Archipel finden sich Inseln, auf denen typische Laster von Staatenlenkern kritisiert werden: Der Palmenkönig Abrazza von der Insel Bonovona beispielsweise ist ebenso oberflächlich wie despotisch, Donjajolo von Juam und Borabolla von Mondoldo ergeben sich auf ihre je eigene Weise den lukullischen Genüssen und dem Trunk und Diranda wird von berechnenden Demografen beherrscht, die auf brutale Weise an der Dezimierung ihrer Bevölkerung arbeiten. Andere Eilande entlarven die Schwächen ganzer Bevölkerungsgruppen: Auf Pimminee etwa herrscht der Geiz und auf Doxodox repräsentiert ein selbstverliebter, eremitisch lebender Philosoph mit seinen kruden Theorien den Gelehrtenstand. Darüber hinaus umfasst Mardi auch noch Miniaturversionen aller Länder und Kontinente der realen Welt: So handelt es sich bei der sozial zerrissenen Insel Dominiora, die Kaleedoni (Schottland) und Verdanna (Irland) unterdrückt, um eine Karikatur Großbritanniens, während die Insel Vivenza, in deren südlichen Gefilden Sklavenarbeit an der Tagesordnung ist, auf die Vereinigten Staaten von Amerika anspielt.

Weitere Beiträge zur generischen Hybridität des Werks kommen aus der Reisegesellschaft Tajis. So verleiht der junge mardianische Barde Yoomy den meisten der in den Roman inserierten Versen – Liebesliedern, Kampfgesängen und Heldenepen – seine Stimme. Der greise Archipel-Historiker Mohi zitiert bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus den Chroniken Mardis und der Philosoph Babbalanja gibt neben Anekdoten, Apophthegmata und Monologen auch zahlreiche längere philosophische Betrachtungen und Mahnreden zum Besten, die in der Regel vom längst verstorbenen Weisen Bardianna stammen. Zudem wird Babbalanja vielfach zum Initiator von längeren Gesprächen innerhalb der Reisegruppe und damit zu einer Figur, die deren isolierte Stimmen zu gezielter Polyphonie zusammenführt. Diese oft als eigene Kapitel gestalteten und in dramatischer Form wiedergegebenen sokratischen Lehrdialoge bilden, ähnlich wie die Lieder Yoomys, gleichsam einen separaten Text im Text: Sie bringen den Ich-Erzähler Taji genauso zum Schweigen wie die bislang noch nicht erwähnte zweite Erzählinstanz des Romans, die Taji immer wieder unvermittelt ablöst und in der dritten Person von ihm erzählt.

Im Kapitel „Träume“, das durch seine Überschrift auf eine weitere Gattung innerhalb des Mardi-Hybrids anspielt, sowie in weiteren Passagen des Werks bricht schließlich noch eine ganz andere Stimme in den Text ein, die sich als Regisseur oder Autor aller erzählten, erdichteten und im Dialog entfalteten Äußerungen entpuppt. „Wie eine Fregatte bin ich mit tausend Seelen angefüllt“, so bekennt sie. „In mir ruhen und sprechen viele große Persönlichkeiten“. Doch auch dieses hybride Wesen, hinter dem Schmidt – wohl zu Recht – die Stimme des Autors Melville selbst vermutet, hat, wie sich gleich darauf in Form einer mise en abyme zeigt, selbst wieder einen Autor: „Doch ich bin es nicht, es ist ein anderer: Gott ist mein Herr. Und obgleich mich viele Trabanten umkreisen, kreisen doch ich und die Meinigen um die große Wahrheit“.

Gott als ultimativer Autor begegnet den LeserInnen von Mardi schließlich auch noch in einer weiteren Gattung, die Melville dem großen Magen seines Hybridwerks einverleibt: in einer als Vision gehaltenen Jenseitsreise (Schmidt deutet zu Recht an, dass eine wesentliche Inspirationsquelle für diese Textpassage in der Divina Commedia zu finden ist), von der der Philosoph Babbalanja auf der utopischen Insel Serenia ergriffen wird. Ausgerechnet der über weite Strecken religionskritisch und düster-materialistisch argumentierende Südsee-Philosoph darf sich unter dem Schutz von Engeln in immer höhere Himmelssphären begeben und erblickt schließlich in weiter Ferne den „furchtbaren Glanz“ Gottes. In Babbalanjas Vision mischt sich dann, gleichsam als Kontrapunkt des oben skizzierten Stimmenkonzerts, schließlich auch noch die Stimme Gottes ein, die sich freilich nicht an den Philosophen persönlich, sondern an die höheren himmlischen Geistwesen richtet und daher eine für Babbalanja gänzlich unverständliche Äußerung von sich gibt.

Die zuletzt erwähnten Textpassagen – die Streifzüge durch groteske Inselwelten, untermalt von Mohis oft noch groteskeren Hintergrundberichten zu ihrer Geschichte und Yoomys ironisch gebrochenen Bardengesängen, die skeptisch-sokratischen Dialoge über Gott und die Welt, die metaleptischen Abschnitte, in denen die Stimme des Autors in den Text einbricht, und Babbalanjas visionäre Jenseitsreise – bilden atemberaubende Höhepunkte in einem Werk, das – trotz seiner Länge – im Ganzen erstaunlich arm an langatmigen Passagen ist: Wie schon der Übersetzer selbst zugibt, mag man hier und da die eingestreute Zeitkritik etwas ermüdend finden. Im Ganzen aber wird man durch den polyphonen Fluss der erzählenden, rezitierenden, monologisierenden und sich unterredenden Stimmen bis zum Schluss in den Bann gezogen, oder – wie man im Blick auf dieses Ende vielleicht besser formulieren sollte – mitgerissen.

Mag Babbalanja in seiner visionär erlangten (relativen) Gottesnähe endgültigen Frieden finden, so drängt es doch den Ich-Erzähler – und mit ihm auch Melvilles Werk – unaufhaltsam weiter, selbst über die Gottteserfahrung hinaus. Taji, der die ganze Reise durch Mardi nur angetreten hat, um seine verschwundene Geliebte Yillah wiederzufinden, lässt sich weder durch die Gewissheit, dass das Mädchen tot ist, noch durch seinen – nur in Andeutungen erzählten – eigenen Tod in seiner rastlosen Suche aufhalten. Wie der Highwayman im gleichnamigen Lied von Jimmy Webb kann er seine Reise auch postmortal nicht abschließen, er verlässt den schützenden Ring des Riffs, das das Archipel Mardi umgibt, und drängt hinaus auf den endlosen Ozean. Der Satz, den Melville ans Ende dieses hybriden Konzerts verschiedener Gattungen und Stimmen setzt, ist aus der Perspektive heutiger LeserInnen weniger Schlussakkord, denn Ouvertüre für seinen späteren, ungleich bekannteren Roman Moby-Dick: „Und so flogen Verfolgter und Verfolger weiter über eine endlose See.“

Titelbild

Herman Melville: Mardi und eine Reise dorthin. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen und kommentiert von Rainer G. Schmidt.
Manesse Verlag, München 2019.
832 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783717524045

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