Kompromisse

Eva Menasse und Andreas Weber gehen in ihren Essays einer der wichtigsten sozialen Kulturtechniken nach

Von Rolf ParrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Parr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I.

Kompromissen liegen auf der Ebene der Primärphänomene wie auch auf derjenigen ihrer nachträglichen wissenschaftlichen Rekonstruktion vielfach interaktionistische Denkmodelle zugrunde, oft sogar im engeren Sinne von Face-to-Face-Kommunikation: Bei erfolgreich ausgehandeltem Kompromiss zwischen zwei oder mehreren, nicht notwendig auf gleicher Augenhöhe stehenden Parteien kommt als Ergebnis eine wie auch immer geartete Übereinkunft zustande, sodass ein zunächst vorhandenes Konfliktpotenzial zumindest entschärft wird. Das muss nicht heißen, dass das Ergebnis von Kompromissverhandlungen immer symmetrischer Art ist. Denn neben einem ‚Sich-Treffen in der Mitte‘ gibt es auch Kompromisse, bei denen die symbolische Waage nicht im Gleichgewicht steht, gibt es asymmetrische Zugeständnisse und ‚kleine Lösungen‘. Voraussetzung für Kompromisse ist aber in allen diesen Abstufungen, dass alle Beteiligten zu vielleicht schmerzhaften Einschnitten bereit sind, aber zugleich auch ihr Gesicht wahren können; gilt es doch die Ergebnisse der jeweils eigenen Community als (Teil-)Erfolg zu vermitteln. Ein solches Aushandeln und dann Schließen von Kompromissen als Kulturtechnik anzusehen – Georg Simmel, der Begründer der Konfliktsoziologie, sprach von einer „der größten Erfindungen der Menschheit“ –, heißt aber auch, dass das Aushandeln von Kompromissen erlernt, also zuallererst angeeignet werden muss. Voraussetzung dafür ist aber wiederum, sich die Rahmenbedingungen klarzumachen, unter denen Kompromisshandeln überhaupt möglich ist. 

II. 

Genau an diesem Punkt setzen die Überlegungen von Eva Menasse ein, die zunächst einmal konstatiert, dass wir im Alltag unserer modernen Gesellschaften in Sachen Kompromiss ein wenig aus der Übung sind, weniger vielleicht auf den großen politischen Bühnen mit ihren bloßen ‚Inszenierungen von Kompromissen‘ (die Tagesschau sprach unlängst davon, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft eine regelrechte „Kompromissmaschine“ sei) als in unserem Alltagshandeln, in dem die Spielräume für Kompromisse immer weiter zu schwinden scheinen.

Mit Bezug auf Themen wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Feminismus, Identitätspolitiken und Integration zeigt Menasse, dass es mit den Kompromissen im Alltag nicht so einfach ist. Denn da, wo es gesellschaftlich mit Erfolg belohnt wird, Positionen der unverhandelbaren Stärke zu zeigen – und sei es um den Preis von Fake News, Lügen sowie sogenannter alternativer Wahrheiten –, werden die jeweiligen Protagonist:innen an alles andere als Kompromisse denken, sich vielmehr kompromisslos zeigen. Kompromissfähig zu sein bedeutet für Menasse nämlich „akzeptieren“ zu können, „dass gleich hinter der nächsten Wand, in der nächsten Wohnung, jemand leben könnte, der diametral andere Ansichten hat. Dass dieser andere deshalb kein Verbrecher ist und ebenso wenig mit allen Mitteln bekehrt werden muss“. Genau das sieht Menasse für eine Gesellschaft, die sich zwar säkular-westlich zeigt, aber dennoch unverhandelbare, gleichsam sakrale Anteile in der Ausbildung ihrer Identität besitzt, für problematisch an, denn am „kompromisslosesten ist der Mensch gegenüber den echten oder vermeintlichen Abweichlern der eigenen Weltanschauung“.

Schwierigkeiten mit Kompromissen haben laut Menasse auch die Vertreter:innen von ‚Political Correctness‘ und der in deren Sog entstandenen ‚Cancel Culture‘, auch wenn man beiden kaum unterstellen kann, mit vorsätzlich übler Absicht zu handeln. Beide fördern aber in ihrer mal eher indirekten, mal durchaus radikal anmutenden ‚Stillstellung von Konflikten‘ durch ‚Nicht-Benennung‘ (was der Tendenz nach immer auch bedeutet: ‚Nicht-Befassung‘) die Verhärtung bestehender Fronten und die Markierung des jeweiligen Gegenübers als prinzipiell Anderen oder gar als Feind. Das aber erschwert Kompromisshandeln, ja schließt es vielfach von vornherein aus: „Nicht reden“, so Menasse, „ist gleichbedeutend mit nicht lösen, sich nicht bewegen, jede Chance auf Entspannung blockieren“; und gänzlich „absurd wird es, wenn sogar die Diskussion, ob und warum ein Begriff abwertend und verletzend gemeint ist oder geworden ist, ohne Erwähnung dieses Begriffs auskommen soll“. 

III.

Müssen wir also die Kulturtechnik des Kompromisse-Schließens wieder neu erlernen? Eine Chance dazu sieht der Philosoph und Biologe Andreas Weber in der aktuellen Corona-Pandemie, die uns in seltener Deutlichkeit klargemacht habe, dass wir nicht allein auf der Welt leben, sondern in Gemeinschaft(en), die auf Kompromisshandeln geradezu angewiesen seien. Deutlich macht Weber dies an der Unterscheidung von ‚Deal‘ und ‚Kompromiss‘: Im Kompromiss würden sich die daran Beteiligten dessen bewusst, was sie wirklich benötigten. Von daher sieht Weber das Schließen von Kompromissen als einen Prozess an, in dem wechselseitiges Verstehen entwickelt wird und der für alle Beteiligten eher Verluste, das Aufgeben von bisher Vertretenem, mit sich bringt denn Gewinne. Der Deal läuft demgegenüber eher auf ein punktuelles und meist auch nur temporäres Ausblenden von Gegensätzen, Dissonanzen und divergierenden Interessen hinaus. Was landläufig als ‚fauler Kompromiss‘ gilt, das wäre demnach besser ein ‚fauler Deal‘ zu nennen, eben einer, bei dem man Verluste macht. Dass jemand wie Donald Trump, der die Welt um sich herum nach ‚they‘ und ‚we‘ (oft sogar ‚they‘ und ‚I‘) sowie nach ‚good‘ und ‚bad deals‘ einteilt, kompromissunfähig ist, liegt dann auf der Hand. Auch Weber kommt – ganz ähnlich wie Menasse – zu dem Schluss, dass Kompromisslosigkeit in der einen oder anderen Form Wirklichkeitsverleugnung bzw. -verweigerung sei, die Bereitschaft und die Fähigkeit, Kompromisse zu schließen, dagegen Perspektiven auf etwas genuin Menschliches eröffnet.

Dieser Argumentation kann man folgen. Schwieriger wird es jedoch dann, wenn Weber kompromissbereite und -gewohnte Italiener den an Prinzipien orientierten Deutschen in einer fast schon an die Nationalstereotype des 19. Jahrhunderts erinnernden Manier entgegenstellt. Und auch der Hinweis auf die Beziehungsebene, die in gelungener Kompromisskommunikation thematisiert werden könne, ist – denkt man einmal an die in den 1970er Jahren boomende Kommunikative Pädagogik – keine ganz neue Einsicht.

IV.

Beide Texte, der von Menasse ebenso wie der von Weber, haben Essaycharakter, was es beiden erlaubt, ein streng wissenschaftliches, womöglich stringent theoriengeleitetes Denken passagenweise zu suspendieren. Das ist erfrischend zu lesen und eröffnet neue Horizonte, es macht auf der Rückseite davon aber auch klar, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kompromiss und mit den verschiedenen Kompromisskulturen – noch – weitestgehend aussteht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Eva Menasse: Gedankenspiele über den Kompromiss.
Literaturverlag Droschl, Graz 2020.
48 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590669

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Andreas Weber: Warum Kompromisse schließen?
Duden, Berlin 2020.
128 Seiten, 14 EUR.
ISBN-13: 9783411756360

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