Gekacheltes Ich

Lukas Meschik seziert und zelebriert in „Die Räume des Valentin Kemp“ den Selbst- und Weltekel des jungen Dichters

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Bücher funktionieren wie selbstschälende Zwiebeln: Erst ganz am Ende, wenn alle Hüllen gefallen sind und man sich durch alle Schichten hindurch gelesen hat, erblickt man ihren nackten Kern. Doch was ist der nackte Kern einer Zwiebel?

Lukas Meschiks „Roman“ (früher hätte man so einen Text bescheidener als „Erzählung“ verkauft) beginnt recht vielversprechend. Ein Ich, das sich als „Valentin Kemp“ präsentiert, befindet sich an einem ihm unbekannten Ort, von dem er nicht weiß, wie er dort hingeraten ist. Sein Kopf „brummt“, eine Erinnerungslücke? Oder ist er Opfer eines Verbrechens geworden? Gekidnappt? Isolationshaft? Der genaue Grund seiner Gefangenschaft in einem „schlichten, sauber gekachelten Raum“ bleibt bis zuletzt im Ungewissen. Valentin wehrt sich, protestiert, befürchtet einem Verbrecherring oder einem „bürokratisch organisierten Netzwerk, gar einer Behörde“ in die Hände gefallen zu sein und Opfer eines „kranken Experiments“ zu werden.

Und so lesen sich die ersten Seiten dieses in fünf Kapitel beziehungsweise fünf „Räume“ gegliederten Texts wie der Beginn einer kafkaesken Robinsonade, wie klassisch paranoide Phantastik, literarische Spinnereien aus dem Kellerloch, dem hortus conclusus des womöglich wahnsinnigen Erzählers. Bisweilen gibt es gar Anflüge von sarkastischem Humor: „Wann wird denn hier die Wäsche gemacht?, frage ich horchend in den Raum hinein, keine Antwort. Erst Leute einsperren, und dann keinen Spaß verstehen.“ Auch Anklänge an metaphysische Gedankenspiele, wie sie von René Descartes oder Heinrich von Kleist überliefert sind, wenn der Erzähler sich als hilfloses Objekt eines unsichtbaren Maschinisten wähnt – „Dann, völlig übermüdet, schlaff an unsichtbaren Marionettenfäden baumelnd, ein willenloser Kartoffelsack Mensch“ –, durchziehen die ersten Seiten. Valentin erkundet seine Zelle, entdeckt gewisse geheimnisvolle Vorrichtungen und entwickelt immer neue Hypothesen. Dazwischen immer wieder fast beschwörende Anrufungen einer abwesenden, genauer: geisterhaft anwesenden „Marion“.

Doch schon bald wird das klaustrophobische Arrangement durchlässig. Unter der brüchigen Hülle der Phantastik schimmern zwei Lesarten beziehungsweise Diskurse hindurch, die schon bald lautstark die Regie übernehmen. Da ist zum einen die Klage über Müdigkeit und Langeweile, das melancholische Leiden am vermeintlich Immergleichen, vor allem auch an der existenziellen Trägheit der eigenen Person. Der Überdruss, ständig man selbst sein zu müssen, ist ein Gefühl, das die Leserin von Seite zu Seite besser nachvollziehen kann, denn dieses Ich kreist tatsächlich wie ein Gefangener im eigenen Identitätssumpf. Der zweite Diskurs, der die phantastische Ausgangssituation zunehmend überwuchert, ist das Räsonieren über das eigene Schreiben. Die „weiße Wand“ wird hier zur „Leerstelle“, zur „Angst vor dem leeren Blatt Papier“, Schreiben zur „letzten Zuflucht“ und zur „Gewissheit, im Mittelpunkt des Nichts zu stehen“. Selbst beim Umrühren von Kaffee reflektiert der Erzähler über die Wirkung seiner Worte: „Der Kaffee ausreichend bitter, nur ein Schuss Milch, der für Mattbraun sorgt, die Temperatur kaum verringert. Man muss sich daran verbrennen, sonst fehlt dieser Szene die Pointe.“

Man ahnt es: Dieser einsame Ort ist – und damit zerreißt die Hülle der Phantastik endgültig – die etwas steifbeinige Allegorie dichterischer Geworfenheit. Der „künstlerische Mensch“ schafft sich seine eigene hermetische Welt, aus der es – auch das verlangt der Topos der Splendid Isolation – kein Entrinnen gibt. Schwitzen in der eigenen Ich-Blase, hin und hergerissen zwischen Depression und narzisstischem Größenwahn. Zerrissen zwischen der Verachtung für das „schauerliche Herdenverhalten“ der Massen und dem Neid auf die „zum Kotzen perfekte“ Idylle einer Durchschnittsfamilie. Die Literaturgeschichte kennt – von E.T.A. Hoffmanns Medardus über Jens Peter Jacobsens Niels Lyhne und Hermann Hesses Hans Giebenrath bis zu Peter Handkes Valentin Sorger – viele Zerrissene dieser Art, ambitionierte junge Männer, deren manische Ansprüche an die eigene genialische Einmaligkeit sie ins gesellschaftliche Abseits befördern. Dass sich der Icherzähler, wie er bekennt, bald „schon ziemlich auf die Nerven“ geht, glaubt man ihm aufs Wort….

Doch Selbst- und Weltekel, Lebensneid und die Koketterie mit der eigenen Blasiertheit tragen durchaus auch selbstironische Züge, wie in der folgenden aphoristischen Passage: „Man wandelt auf Erden als Außerirdischer unter Außerirdischen. Jeder für sich unverstanden und zu gut für diese Welt. Wir haben miteinander gemeinsam, nichts miteinander gemeinsam zu haben. In unserem Anderssein gleichen wir einander.“

Ab dem zweiten Kapitel kreisen die Selbstgespräche zunehmend um die Frage nach den Gründen der eigenen Einsamkeit. Warum hat Marion ihn verlassen? Weil er sich ihr gegenüber „außerstande fühlt, den abgenutzten Dreiwort-Satz zu verwenden?“ Überhaupt: Die Vernutztheit der Sprache, ihre Nähe zum Klischee und die Tatsache, dass andere Menschen vor Valentin schon dieselben Wörter in den Mund genommen haben, steigern seinen Weltekel in geradezu nihilistische Höhen. Was den Erzähler jedoch nicht davon abhält, erotische Szenen grundsätzlich nur mit verschwitzt ironischem Unterton zu erzählen, wenn er, gewisse unaussprechliche Drei-Wort-Sätze oder allzu deutliche Four-Letter-Words umschreibend, von „rot-offener Mitte“, „milchigem Rinnsal“ und dem „himmlischen Akt gestöhnter Zweisamkeit“ spricht.

Im dritten „Raum“ respektive Kapitel fällt dann eine weitere Hülle. Nun wird klar – mittels eines an C.G. Jungs Archetypus des „weisen Alten“ gemahnenden Doppelgängers –, dass hier offenbar eine Art mystische Queste stattfindet. Valentin hat sich freiwillig, und ohne seiner Freundin Marion eine Erklärung für sein Verschwinden zu geben, in eine von jener mysteriösen Gestalt des alten vollbärtigen „Retters“ therapeutisch-spirituell betreute „Auszeit“ begeben. Ab jetzt läuft eine Art Nacherziehungsprogramm, eine Anleitung zum Erwachsenwerden, gespickt mit diätetischen Maximen wie „Lösch deine Speicher, vergiss“. Der Alte führt Valentin in den Keller des „Haus-Inneren“, eröffnet ihm das Geheimnis wirkmächtigen literarischen Schreibens: „Grundlegende Eigenschaft der inhaltlich und formal völlig frei zu gestaltenden Wortgruppen müsse sein, dass sie geheimnisvoll sind. […] Verzwickte Sachen, sagt er, zahlen sich aus.“ Offenbar genau nach diesem Muster gestrickt sind dann Verzwicktheiten wie: „man muss nicht wissen, was man tut, das aber sehr genau.“

Dass Lukas Meschik Konkretes durchaus präzise beobachten und beschreiben kann, zeigen Passagen, in denen die Unordnung einer Mädchen-WG geschildert wird: „Nicht zuletzt die Haufen und Bündel und verknoteten Kränze aus anprobierter, ungetragen weggelegter Kleidung, als wäre bei euch eine Modeboutique explodiert.“ Und es ist diese Mädchen- und Mariongeschichte, die sich im letzten Kapitel des Buches, wenn sich alle anderen Hüllen und Erzählhäute, das Phantastische, das Metapoetische und das Therapeutische, aufgelöst haben, als der eigentliche, doch irgendwie leere Kern der Buches erweist. „Es ist mein Lebenssinn, nicht entziffert zu werden“ antwortet Valentin ausweichend auf die Frage seiner Freundin, wo er sich denn solange „herumgetrieben“ habe. Denn Marion hätte sein Bedürfnis nach „absoluter Zurückgezogenheit“, nach „Raum gewordenen Stille“ nicht verstanden. Dem „Ewigkeitsanspruch“ des „guten Kunstwerks“ ist ihr „entzückend Gazellenhaftes“ nicht gewachsen.

Ich gebe zu: Es gibt Bücher, bei denen überkommt einen das unsaubere Bedürfnis, den Protagonisten auf die Analysecouch zu schnallen, die Lesebrille zurechtzurücken und zu fragen: „Wo ist Ihr Problem, junger Mann?“ Oder, besser noch: ihm mit Rilkes Briefen an einen jungen Dichter zuzurufen: „Liebhaben​ von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.“

Titelbild

Lukas Meschik: Die Räume des Valentin Kemp. Roman.
Limbus Verlag, Innsbruck 2018.
188 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783990391181

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