Die Illusion der völligen Autonomie

In Céline Minards „Das große Spiel“ wird das Leben in der Isolation erprobt

Von Carla SwiderskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carla Swiderski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das New Nature Writing hat Konjunktur. In den letzten Jahren gab es einen Trend zur literarischen Erkundung von Natur, zumeist in Form von Selbsterfahrungsberichten. Während jüngst Robert Macfarlane schwimmend, wandernd und kletternd eine Karte der Wildnis erstellte und Helen Macdonald in H wie Habicht Trauerarbeit bei der Falknerei leistete, reiste Katherine Norbury in Die Fischtreppe gemeinsam mit den Fischen flussaufwärts, um ihren eigenen familiären Ursprung zu finden. Die Auseinandersetzung mit der Natur, häufig durch eine Hinwendung zur Wildnis und in Verbindung mit persönlichen Konflikten, hat mit Henry David Thoreau und Annie Dillard in der angloamerikanischen Literatur eine große Tradition. Seit 2017 vergibt der Matthes & Seitz Verlag, der einen ausgeprägten Programmschwerpunkt in diesem Segment hat, den eigens gegründeten „Deutschen Preis für Nature Writing“, wodurch die Aufmerksamkeit verstärkt auch auf deutschsprachige Autorinnen und Autoren gelenkt werden soll, die sich mit dem Themengebiet „Natur“ auseinandersetzen.

Die übliche Aufbau ist, dass ein wie auch immer geartetes Motiv die/den Erzähler/in von urbanen Gebieten in abgelegenes Gelände führt, in die sogenannte Wildnis, und nun durch eine mehr oder weniger sentimentale (Wieder)Entdeckung der Natur eine Reise der Selbstfindung beginnt. Dabei werden Natur und Zivilisation meist als gegensätzlich begriffen, als das Unberührte und das vom Menschen Geschaffene. Eine ebensolche Grundkonstellation liegt auch in Céline Minards Roman Das große Spiel vor, von Nathalie Mälzer aus dem Französischen übertragen. Die namenlose Protagonistin aus der Großstadt in die Alpenregion flieht mit dem Ziel, zu sich selbst zu finden. Dafür sucht sie die Einsamkeit der „Giganten aus dem Pliozän“, der alpinen Bergkette, deren tektonische Decke sich im Erdzeitalter vor der letzten Eiszeit ausbildete. In der Isolation, von jeglichen sozialen Kontakten abgeschieden und nur noch durch ein Notfall-Handy lose verbunden, folgt sie einem selbstauferlegten Trainingsprogramm für Körper und Geist. Es besteht hauptsächlich aus Kletterübungen, die in ausgedehnten Beschreibungen mit exakter Auflistung der Technik dargestellt werden, sowie einem bewussten, präzise durchgeplanten Einsatz der begrenzten Ressourcen, die ihr zur Verfügung stehen. Begleitet wird das Training von permanenter Selbstbeobachtung, um das Gelände wie die psychischen und physischen Reaktionen auf die Einsamkeit zu kartographieren. Der Erzählton ist dementsprechend vorwiegend sachlich und systematisch-registrierend.

Das Gelände ist schroff, eine Orientierung muss erst langsam erarbeitet werden – auch beim Lesen. Den einzigen Fixpunkt bietet die eigens angefertigte, hochtechnisierte Behausung mit nachhaltiger Energieversorgung, die von der Ich-Erzählerin „meine Tonne“ genannt wird. Mit Hinblick auf die zahlreichen philosophischen Einstreuungen über das In-der-Welt-sein, die Jean-Jaques Rousseau, Ludwig Wittgenstein, Gottfried Wilhelm Leibniz, Martin Heidegger und die Lehren des Buddhismus im Hintergrund aufscheinen lassen, ohne dass sie namentlich erwähnt würden, liest sich dies als Anspielung auf den antiken Philosophen Diogenes. Doch anders als der auf Verzicht und Bedürfnisreduktion ausgerichtete Philosoph genießt die Erzählerin eine komfortable Ausstattung. Kissen, Teppiche, Panaromafenster und eine Herdplatte schmücken die Wohnkapsel. Bücher, ein Cello und diverse hochwertige Klettergeräte sorgen für eine ausgesuchte technisch-kulturelle Ausstattung. „Ein hübsches Refugium“ also, in das die Protagonistin sich zurückgezogen hat.

Werden die täglichen Tätigkeiten detailgenau beschrieben, erfährt man über die Protagonistin eher wenig. Weder Alter noch Name, Profession, biografischer Hintergrund oder Nationalität werden verraten. Wahrscheinlich ist, dass sie einmal in New York gewohnt hat, zumindest erinnert sie sich an die Architektur und Lautstärke dieser Stadt. Wahrscheinlich ist, dass sie kein großer Menschenfreund ist, denn sie hat sich ein 2.000 Meter hohes Felsgebiet in den Alpen als Lebensraum gewählt, um nicht mehr „jeden Morgen einem Unbekannten, einem Schwachsinnigen, einem Neider zu begegnen“. Wahrscheinlich ist, dass sie diese Entscheidung nicht aus finanziellen Gründen getroffen hat, denn die 200 Hektar Land sowie der Bau und die Ausstattung der autonomen Wohnkapsel waren nicht ganz günstig. Außerdem teilt sie mit, dass sie die Frage antreibt, „ob man im Abseits leben kann“. Ihre These ist, dass dies sehr wohl möglich sei und es sogar „eine der notwendigen Bedingungen darstellt, um Seelenfrieden zu finden“. Nun will sie die Probe aufs Exempel machen. Dabei befragt sie immer wieder den Ermessenspielraum zwischen Drohung und Versprechen, Möglichkeit und Zwang.

Trotz der peniblen, detaillierten Planung des Vorhabens wird es empfindlich gestört. Die Protagonistin ist nicht allein, womit die Grundbedingung des Experiments nicht erfüllt ist. Über das unerwartete Gegenüber erfährt man zwar vordergründig fast mehr als über die Protagonistin selbst. Doch ob es sich bei Dongbin tatsächlich wie behauptet um eine Nonne handelt oder nicht doch um ein zuvor angetroffenes und sehr ähnlich beschriebenes Murmeltier (beide sehen aus wie ein Wollhaufen, beide pfeifen und haben nur zwei lange weiße Zähne) oder um die Erscheinung eines Heiligen der „Acht Unsterblichen“ aus der chinesischen Mythologie, wie der Name und das Trinkgelage im Pfirsichfeld andeuten, bleibt Auslegungssache. Denn die Szenen der Begegnung ereignen sich regelmäßig im Zusammenhang mit Rauscherfahrungen, wodurch der sonst sehr nüchterne, systematisch erfassende Blick der Erzählerin getrübt sein könnte.

Nun kann man sich fragen, inwiefern der als Eindringling beschriebene Andere überhaupt eine ungewollte Störung ist oder nicht doch vielmehr eine willkommene Projektionsfläche. Denn entgegen der anfänglichen Annahme, dass die Isolation, die „völlige Autonomie“ der Weg zur Selbstfindung ist, stellt die Protagonistin fest: „Ich habe es ausprobiert. Man kann nicht allein Schach spielen. Man kann sich nicht so sehr vergessen, dass man sich selbst überrascht.“ Und so wird der Mensch als das spielende Tier eingeführt. Frei nach Friedrich Schillers Ausspruch: „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Erst im Spiel sah Schiller die moralische wie physische Freiheit des Menschen verwirklicht, da nur hier Zufall und äußerer Zwang aufgehoben seien. Kann man nicht mit sich selbst spielen, wie die Erzählerin feststellt, braucht man zur Selbstfindung eben doch einen Anderen – einen Gegenspieler.

Letztendlich liegt hier weniger eine literarische Betrachtung von Natur vor als vielmehr die Frage danach, auf welche materiellen, mentalen, kulturellen und wissenschaftlichen Techniken Verlass ist und wie viel ein Mensch davon mindestens benötigt, um ein gutes Leben zu führen. Somit unterscheidet der Roman sich in seiner Grundfrage vom üblichen Nature Writing. Zudem führt die Abkehr vom Menschen zu der Einsicht, dass der Mensch (wenigstens im Denkspiel) ein Gegenüber braucht und damit ein soziales Wesen ist. Nicht ohne Grund wird Isolation auch als verschärfte Haftbedingung eingesetzt und steht wegen der traumatisierenden Wirkung in der Kritik. Ob dieses erzählerisch ausgestaltete Gedankenspiel irgendwo hinführt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Das große Spiel ist ein Roman, der anregt, einen aber durch die unnahbare Protagonistin auf Distanz hält. Über die vielen Beschreibungen und etwas prätentiösen Reflexionen hinweg scheint die Erzählung stellenweise in der Luft zu hängen. Doch gelingen Minard einige starke literarische Szenen, die mehr noch als die explizit philosophischen Fragen spannende thematische Überlegungen aufwerfen, die einen auch nach dem Lesen noch beschäftigen.

Titelbild

Céline Minard: Das große Spiel. Roman.
Übersetzt aus dem Französischem von Nathalie Mälzer.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
186 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957575265

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch