Was die Spyren sehen und spüren, wenn sie durch die Zeit fliegen

Roger Monnerat verfasst mit „Da er von hier fortgemusst, hat er mich lang ein schön Buch gemacht“ sehr persönliche (Nach-)kriegsgeschichte

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann dieses ungewöhnliche Buch auf verschiedene Weise lesen. Denn der autobiografisch grundierte Roman des Basler Autors Roger Monnerat, der in der Schweiz nicht nur bekannt ist wegen seiner meist im kleinen, aber engagierten Literaturverlag des Zürcher Verlegers Ricco Bilger erschienenen Romane und Gedichte, sondern auch wegen seiner langjährigen Tätigkeit als Inland- und Kulturredakteur der linken Wochenzeitung „WOZ“, dem Schweizer Pendant zur deutschen „TAZ“, ist ein sehr persönliches, zugleich aber auch ein sehr politisches Werk.

Das Buch mit dem altertümlich anmutenden Titel präsentiert zum einen ein subjektives, oft höchst intimes, zwischen Altersmelancholie und (leisem…) Galgenhumor changierendes Spiel mit der Zeit: der eigenen Lebenszeit, die mit skurrilen mathematischen Gleichungen nachgerechnet und nacherzählt, in experimentellen Schlaufen in die verkehrte Richtung gedreht wird oder zyklische Erfahrungen der Wiederholung generiert. Leitmotivisch ist hier die ersehnte, die gesamte Handlung umschließende Rückkehr der Mauersegler, die im Schweizerdeutschen den schönen, doppelsinnigen Namen „Spyren“ tragen.

Zum anderen entwickelt der Autor-Erzähler einen geradezu enzyklopädischen Furor bei seiner Abrechnung mit der deplorablen Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Monnerats „Prosa zum Wachhalten“, wie das „schöne“ Buch im Untertitel heißt, bietet dem Ernst der Lage die Stirn. Es ist ein Buch über den Tod, über die Angst und die Verzweiflung angesichts einer im Schlingerkurs des Spätkapitalismus völlig verfahrenen Welt. Zugleich aber ist es auch ein Buch über ästhetische Rettungsversuche, über das Heilende der Schrift und des Schreibens.

Monnerat zitiert Rilke, Canetti und Hebel, Kropotkin, Portmann und Bataille, Paul Valéry, Walt Whitman und Bob Dylon, er erzählt von seinen Großeltern, vom Sprachgemisch seiner Kindheit, wobei er mitunter auch dem Reiz des Fabulierens nachgibt, Ansätze zu einer kontrafaktischen Familiengeschichte entwirft oder literarisch durchaus bemerkenswerte Träume aufzeichnet. Schon hier, im ersten Teil des Buches, verwandelt sich der Hauch des Todes immer wieder in den langen Atem der Geschichte. Wie das funktioniert und mit welch faszinierender Leichtigkeit und Poesie es Monnerat gelingt, zutiefst persönliches Erleben mit dem großen Un-ganzen zu verbinden, dabei en passant auch noch Walter Benjamins geschichtsphilosophische Allegorie des „Engels der Geschichte“ zu berühren und umzudeuten, zeigt dieser Abschnitt:

Von einem gewissen Alter an ist es besser, rückwärtszugehen, sodass vor den Augen sich das Leben abspielt mit allem, was bisher geschehen ist, mit allem, was ich weiss, mit all dem, wovon ich mir eine Vorstellung gemacht habe. Ich würde rückwärtsgehen, den Reichtum der Welt vor Augen. Ich wüsste, in meinem Rücken ist der Abgrund, ein Angstschauer – ein Angstkitzel? – die Wirbelsäule hoch. Je näher ich dem Abgrund komme, desto mehr beginnt die Sonne aus der Bahn zu geraten, ganz geringfügig, aber doch so, dass das Licht wackelt, dass ein Zittern durch die Welt geht, ein leichter Wind mich fröstelt, ein Schwindel mich von hinten fasst. Im letzten Augenblick werfe ich mich herum, blicke in die schwarze Nacht mit Sternen, die sich spiegeln, und seufze. Werde ich seufzen? Geht rückwärts auch beim Schreiben? (S. 87)

Der zweite Teil des Buches führt seine LeserInnen in eine ziemlich vertrackte Politgroteske, deren Zusammenhang mit dem ersten Teil erst viel später, im dritten und letzten Teil des Romans offensichtlich wird. Was hier nun an Anekdoten aus dem Kalten Krieg zusammengetragen und in oftmals haarsträubend phantastischen Verknüpfungen von Fakten und Fiktion zu einer Art Agententhriller zusammengemixt wird, in dem lippenlesende Spione Attentate oder Verschwörungen des Bundesnachrichtendiensts aufklären, grenzt passagenweise an eine tollkühne Genre-Mixtur aus Krimi-Persiflage und Crashkurs zur Nachtseite der deutschen und schweizerischen Nachkriegsgeschichte, in dem sowohl deren einschlägig bekannte bis berüchtigte Protagonisten wie Harry Truman, Charles de Gaulle, John F. Kennedy, Richard Nixon oder Reinhard Gehlen auftreten, wie auch deren höchst unterschiedliche Opfer wie Patrice Lumumba, Julius und Ethel Rosenberg oder Aldo Moro.

Im dritten Teil des Buches werden die Agentenberichte nun zurückgeführt auf die Ebene der Autobiografie und dort als kleine, symbolische Einsprengsel in die Kindheit der 50er und 60er Jahre integriert. Hier schaut die Weltgeschichte in Form eines Besuchs beim Genfer Autosalon zum Fenster herein oder erscheint in Gestalt von lächerlichen Zivilschutzübungen im Klassenzimmer, bei denen die Kinder lernen, sich mit Regenkleidung und Bürsten gegen den atomaren Fallout zu schützen.

Wer Roger Monnerat liest, hat durchaus nicht den Eindruck, dass die seit Beginn der sogenannten Postmoderne viel zitierte These Jean-François Lyotards über das Ende der „großen Erzählungen“, d.h. der Möglichkeit einer kohärenten und verbindlichen Darstellung politischer und geschichtlicher Wirklichkeit, tatsächlich zutrifft. Zwar erscheint die Sinnhaftigkeit der präsentierten Nachkriegsgeschichte als mehr oder weniger zugespitzte Darstellung katastrophaler historischer Verstrickungen, deren fatale Auswirkungen auch auf den Autor-Erzähler stets transparent gemacht werden, ein Ausweg aus der „zerstörerischen Dynamik“ (S. 197) wird jedoch nirgends aufgezeigt.

Und das ist gut so. Denn das heimliche Zentrum des Romans ist seine poetische Utopie: Immer wieder beschwört Monnerat die Magie der Literatur, den Zauber des Schreibens und der Schrift, ob als Zitat aus alten Büchern, als textile Metapher des Strickens oder Webens, als Abschreibfolter in einem sowjetischen Gulag oder als Versuch einer Rückgewinnung sprachlicher Wahrheit durch die Gegenständlichkeit des Piktogramms – ein Versuch, der entfernt an die Sprachkrisen von Hofmannsthals Lord Chandos oder Peter Handkes verstörten Tormann erinnert – stets geht es um das Aufstoßen einer Tür, einer „Tür in eine Welt, die nur noch aus Sprache zu bestehen scheint“ (S. 209).

Monnerat zeigt die Erschaffung von Wirklichkeit aus Literatur, und das im übertragenen wie auch im ganz konkreten Sinn, nämlich im Topos der Verlebendigung fiktionaler Personen. Und wenn am Ende des Romans der Autor-Erzähler in einer märchenhaft metaleptischen Volte seiner eigenen Figur begegnet und diese ihn dazu animiert, sich in einer Art mystischem „Abschreib-Exerzitium“ (S. 209) die eigenen, bereits gedruckten Werke handschriftlich wieder anzueignen, wird deutlich, dass auch dieses Ritual zum Projekt der Wiederaneignung von Geschichte gehört. „Ich habe beschlossen, das Buch mit dem Auftauchen der ersten Spyren abzuschliessen. Heute, am 8. Mai 2021, ist es soweit“ (S. 221), lauten die letzten Sätze des Buches, das hier, ganz an seinem Ende, gleich zwei große Ereignisse beschwört: das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Auferstehung der Natur.

Titelbild

Roger Monnerat: Da er von hier fortgemusst, hat er mich lang ein schön Buch gemacht.
bilgerverlag, Zürich 2022.
250 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783037620991

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