Der Mann am Klavier

Rainer Moritz porträtiert Udo Jürgens

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Instrument von Udo Jürgens war das Klavier, ein Instrument, das uns noch heute viel sagt, auch wenn sein vielleicht wichtigster Interpret der Schlagerwelt vor bald zehn Jahren starb. Ein Klavier, ein stilisierter Schimmel-Flügel, schmückt auch „Udos“ Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof: Udo Jürgen Bockelmann (1934–2014) war, wie Freddy Quinn, Österreicher, aber anders als „Freddy“ blieb er der Schlagerwelt lebenslang treu und bestritt bis kurz vor seinem Tod im Dezember 2014 anstrengende, umfangreiche, schweißtreibende Bühnenprogramme. Zugaben erfolgten stets im weißen Bademantel, und der frisch aufgebrühte Lindenblütentee ölte die Stimme – bis zuletzt.

Unter den Schlagerstars bildete Udo Jürgens eine Klasse für sich. Gerade der frühe Udo bestach mit hinreißenden Kompositionen und anrührenden Texten (letztere schrieb er zumeist nicht selbst): „Merci, Chérie“, „Was ich dir sagen will“ oder „Jenny“, das Bekenntnis einer gescheiterten Liebe, mögen als Beispiele genügen.

Solchen „Klassikern“ in Jürgensʼ Repertoire widmet Rainer Moritz, um dessen Monographie es hier gehen soll, eigene Betrachtungen, die mit Text- und Aufführungskritik nicht sparen, aber letztlich Sympathie bekunden für diesen Ausnahmekünstler einer viel belächelten Branche. Udo Jürgens kombinierte anzüglichen Witz („Es wird Nacht, Señorita“) mit lausbübischem Humor, wenn er in die Tasten griff. Sein Repertoire ging über die Schnulze hinaus, und die gediegene Qualität seines Klavierspiels wurde früh schon erkannt: als Sechzehnjähriger gewann er beim ORF-Kompositions-„Bewerb“ (wie es österreichisch heißt) den Hauptpreis. Es war der Auftakt zu zahllosen Ehrungen, die ihn fast Jahr für Jahr „ereilten“.

Udo Jürgens setzte hohe Standards, und auch sein Kleidungsverhalten war außergewöhnlich: nicht schrill, sondern „seriös mit Anzug und Krawatte auftretend“ – heutzutage nimmt Roland Kaiser diese Rolle ein.

Mit Grand-Prix-Erfolgen festigte Udo Mitte der sechziger Jahre seine junge Karriere, erste Platzierungen auf deutschen und internationalen Charts folgten. Der „geheimen Botschaft“ von „Merci, Chérie“ hat Romancier Andreas Maier sogar eine eigene Betrachtung gewidmet – in seinem Buch Mein Jahr ohne Udo Jürgens (2015).

Auf Udo Jürgens konnte man sich selbst dann noch verständigen, als man über Cat Stevens zu Bob Dylan vorgedrungen war oder Luftgitarre à la Angus Young zu spielen suchte. Der Schlager wurde durch Udo gewissermaßen geadelt, und es gehörte zur Strategie seines Managers Hans R. Beierlein, ihn als „intellektuell satisfaktionsfähigen Künstler“ im Rampenlicht „zu platzieren“. Einerseits authentisch wirkend, andererseits als Kunstfigur inszeniert, wurde an seinem Beispiel die „Kulturindustrie“ erfahrbar, von der Adorno die Mechanismen aufgezeigt hatte. Es wurde aber auch spürbar, dass große Künstler sich immer wieder neu erfinden können – wie beispielsweise zuletzt Heino mit seinen Cover-Songs „Mit freundlichen Grüßen“.

Bei Udo Jürgens waren es Erfolge wie „Wer ist er“ (1968) und „Lieb Vaterland“ (1971), die seiner Kunst eine neue Note hinzufügten: unzeitgemäß politisch, traf er dennoch den Zeitgeschmack: Den eines konservativen Publikums vielleicht? In „Wer ist er“ lieferte sein Texter Walter Brandin den „kosmologischen Gottesbeweis“ (Adolf Holl), in „Lieb Vaterland“ beschwor Eckart Hachfeld den sozialen Zusammenhang und benannte zugleich die Fliehkräfte einer liberalen Ordnung, in der „Konzerne […] maßlos sich entfalten“ dürften. Sahen die einen darin die wohlfeile Kritik des Intellektuellen, der selbst keinerlei Verantwortung übernimmt, geißelten andere die „infame Demagogie“ (Hans Habe) dieser „trällernden Zeitkritik“. Hier gelang etwas, was selten gelingt: Ein marginalisiertes „Subgenre“ des „Unterhaltungsmilieus“ (Gerhard Schulze) regte gesellschaftliche Debatten an und rührte an das Selbstverständnis einer Nachkriegsordnung, die politisch gerade wieder einmal erschüttert wurde.

Udo Jürgens besang die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ (Alexander Mitscherlich) ebenso wie die atomare Bedrohung („Am Tag davor“), betrieb aber auch „konsensfähige[n] Eskapismus“ – was ihm den unversöhnlichen Essay von Elfriede Jelinek eintrug: „Udo zeigt, wie schön diese welt ist, wenn wir sie mit kinderaugen sehen“ (1972). Rainer Moritz sieht Udo Jürgens „auf einem anderen Niveau“ als die allermeisten seiner Kollegen:

Da sang einer aus seinem Leben, da verzichtete einer darauf, eine Rolle zu spielen, da trat einer ungeschützt vor sein Publikum, das sich deshalb in seinen Liedern ,wiederfand‘. Das Identifikationsangebot war, je älter Jürgens wurde, ein eindeutiges: Schaut her, so bin ich, schaut her, solche Fehler habʼ ich gemacht, schaut her, so leide ich unter den Missständen der Welt! „Unterhaltung mit Haltung“ hat er das einmal genannt.

Titelbild

Rainer Moritz: Udo Jürgens. 100 Seiten.
Reclam Verlag, Ditzingen 2023.
100 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150206713

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